BISMARCK UND DER HERING
EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE
Ende 1864. Der preußische Ministerpräsident Otto reist nach Schleswig-Holstein, genauer gesagt nach Flensburg. Das ist damals noch dänisch. Im örtlichen Gasthof hat man ihm nicht mehr vorzusetzen als einen simplen marinierten Hering. Aber Otto ist hungrig, und da Hunger bekanntlich der beste Koch ist, schmeckt es ihm ausgezeichnet, und er lobt den Wirt sehr. Der wiederum fühlt sich gebauchpinselt und bittet sich als Belohnung die Erlaubnis aus, künftig seine Heringe "Bismarckheringe" zu nennen, nach dem illustren Gast. So weit die Sage, die vor allem gegen sich hat, daß Bismarck anno 1864 außerhalb Preußens noch so unbekannt war, daß kein Hahn nach ihm krähte und kein Gastwirt Interesse gehabt haben dürfte, auch nur eine Sprotte nach ihm zu benennen, geschweige denn einen Hering. Vergessen wir das also und wenden uns zwei ernsthafteren Fragen zu. Erste Frage: Wer war Otto von Bismarck? Erste Antwort: Ein preußischer Ministerpräsident und Kanzler von Deutschland. Zweite Frage: Nach wem ist der Bismarck-Hering benannt, wenn nicht nach Bismarck? Zweite Antwort: Natürlich doch nach Bismarck. Die erste Antwort klingt überzeugend, die zweite eher banal. Aber sie hat der ersten voraus, daß sie richtig ist. Bismarck hat tatsächlich mal einem sozialistischen Reichstags-Abgeordneten auf die Frage, was denn das arme Volk essen solle, um nicht zu verhungern, geantwortet, daß Heringe sehr schmackhaft, gesund und billig seien; diesen Satz griff 1882 ein Fisch-Industrieller aus Dikigoros' Geburtsstadt auf und nannte seine Heringe seither nach Bismarck. (Später sollte man ihm dortselbst auch noch ein Denkmal errichten, das bis heute steht; da trägt der Ex-Kanzler zwar kein Heringsnetz, sondern ein Schwert, aber das ist nur folgerichtig, denn als echter Bismarck-Hering gilt nur einer ohne Kopf und Schwanz, die muß man ihm also vorher abschneiden, und warum nicht mit dem Schwert.) Die erste Antwort ist dagegen falsch, und gleich in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde Bismarck nur posthum zum "Urpreußen" ernannt; tatsächlich war er das, was man heute wohl einen "MagPom" nennen würde: Sein Vater stammte aus dem Magdeburgischen, seine Mutter aus Vorpommern (das sich die Preußen bekanntlich erst im 18. Jahrhundert unter den Nagel gerissen hatten, als sie es von den Schweden "befreiten"), und dort - auf einem Gut bei Naugard im Kreis Stettin - verbrachte er auch die ersten beiden prägenden Jahrzehnte seines Lebens. (Folgerichtig heiratete er auch wieder eine Pommeranerin.) Zweitens war er nie Kanzler von Deutschland; er war lediglich Kanzler des von Preußen dominierten kleindeutschen Reiches, ebenso wie sein oberster Dienstherr nicht Kaiser von Deutschland, sondern nur König von Preußen und "Deutscher Kaiser" war - das sind zwei gewaltige Unterschiede, die oft mißverstanden werden.
[Exkurs: Was gilt nun tatsächlich als Bismarck-Hering? Das ist eine berechtigte Frage in einer Zeit, da Form-Fleisch und -Fisch unsere Küchen prägen, von Käpt'n Iglos Fischstäbchen bis zum "Fishmac" von McDonald's. Die meisten süd-, mittel- ost und sonst nicht-norddeutschen Leser könnten heutzutage wahrscheinlich nicht mal mehr Heringe von Makrelen in natura unterscheiden (schließlich kommen beide aus Konserven-Dosen, die ungefähr gleich groß sind, und schmecken tun sie gleichermaßen nach Öl, Tunke, Blech und Konservierungsstoffen), geschweige denn die vielen möglichen Arten ihrer Zubereitung. Also, liebe Landratten, es gibt knapp 200 verschiedene Fischarten, die von den Keksperten irreführenderweise zur "Familie der Heringe" gezählt werden, obwohl sie gar nicht daran denken, sich untereinander zu paaren (es sind schließlich keine Hunde oder Menschen, die sich mit allem und jedem kreuzen, was nur entfernt verwandt ist; Fische sind "Rassisten"!), vom kleinen Breitling (den die Kieler "Sprotte" nennen, die Schweden "Appetitsild" und die Lateiner "Anchovis") bis zum doppelt so großen Pilchard (dessen kleinere Exemplare Aldi-Kunden als "Öl-Sardine" bekannt sind), ebenso wie sie etwa die Makrele und den zehnmal so großen Thunfisch nach irgendwelchen an den Schuppen herbei gezogenen Kriterien zu einer "Familie" zählen. Wenn Dikigoros hier von "Hering" spricht, dann meint er das Tier, das von den Keksperten fälschlich "Ostsee-Hering" genannt wird (denn es gibt ihn auch in der Nordsee, bis hinauf nach Schottland und Norwegen) und von einigen Meeres-Anwohnern norddeutscher Zunge "Strömling", wegen seiner stromlinienförmigen weichen Flossen.
Da Heringe meist auf hoher See gefangen werden, mußte man sie irgendwie haltbar machen. (Was der Rheinländer "Rheinheringe" nennt und frisch verzehrt, da er sie direkt vom Flußufer weg aus dem Wasser fischt, sind in Wirklichkeit Maifische und Finten.) Früher salzte man sie einfach so, wie sie aus dem Wasser kamen, ein - mit Gräten, Schuppen und Innereien, pfui Deibel. Um 1400 kam ein gewisser Willem Beukelsz auf die Idee, sie vor dem Einsalzen auszunehmen, das sparte Salz und ließ sie milder schmecken. Nach seinem Erfinder ("eu" spricht sich im Niederländischen bis heute "ö") nannte man diesen Vorgang "[ein]bökeln" oder "[ein]pökeln", und das Produkt dieses Bökelns "Böklinge" oder "Bücklinge". (Später wurden sie dann oft - aber nicht notwendigerweise - auch noch geräuchert. Heutzutage wissen das freilich viele Banausen nicht mehr und nennen jeden daher gelaufenen, pardon geschwommenen Räucher-Hering, egal ob gesalzen oder ungesalzen, ausgenommen oder nicht-ausgenommen, "Bückling".) Der nächste Schritt war, die heraus genommenen Innereien und die Blutlake zur Konservierung zu verwenden und damit noch mehr Salz zu sparen. (Salz war, bevor der Eisschrank, die Tiefkühltruhe und die Salzgewinnung aus Meerwasser erfunden waren, ein lebensnotwendiger, knapper und entsprechend teurer Stoff, der mühsam aus Lüneburg oder sonstwo heran gekarrt werden mußte; und schon damals war die Nahrungsmittel-Industrie auf Sparsamkeit bedacht, um ihre Gewinne zu steigern.) Das Ergebnis nannte man "Matjes-Hering". (Heute verwendet man keine Blutlake mehr, sondern Chemikalien oder Fäkalien. Jawohl, Fäkalien, aus Dorsch-Därmen; wir haben es weit gebracht - guten Appetit allerseits!) Wir kommen zur nächsten Stufe: Ist Euch schon mal aufgefallen, liebe Leser, daß man - anders als noch in den 1950er Jahren - Sardinen und andere Dosen-Fische nicht mehr zu entgräten braucht? Die werden heute bestrahlt, bis die Gräten so porös werden, daß sie zerfallen und das Zerfall-Produkt mit gegessen werden kann. (Noch einmal guten Appetit!) Früher war das etwas aufwendiger: Man nahm Essig dazu; der löste zumindest die kleineren Gräten auf, wenn man die Fische lange genug in der Marinade liegen ließ. Das Produkt wurde Bismarck-Hering genannt - warum, weiß Dikigoros nicht. Die Krönung der Entwicklung war es nun, wenn man den Bismarck-Hering rollte und mit einem Holzstäbchen ein Stück rohe Zwiebel drauf spießte; das ganze nannte - und nennt sich weiterhin - "Rollmops", und Dikigoros hofft, daß damit alle Vorfragen geklärt sind. Exkurs Ende.]
Ach, liebe Leser, Ihr meint, Bismarck sei doch gerade ein besonders typischer Preuße gewesen, und deshalb müsse er wohl auch ein echter Preuße sein? Ja, glaubt Ihr denn, daß die "echten" Angehörigen einer Gruppe immer diejenigen sind, die von anderen für besonders "typisch" (sei es im Guten oder im Bösen) gehalten werden? Das ist ein weit verbreitetes Mißverständnis. (Nein, es ist kein Vorurteil, denn Vorurteile setzen immer bestimmte Erfahrungswerte voraus, aus denen sie abgeleitet werden - darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr -, aber für die Prämisse "echt = typisch" gibt es weit und breit keinen ernst zu nehmenden Anhaltspunkt!) Tatsächlich ist es oft umgekehrt, denn die ihrer Echtheit nicht ganz sicheren (weder in ihren eigenen Augen noch in denen anderer) "Zugereisten" oder "Grenzgänger" müssen ja gerade beweisen, daß sie besonders gute, "typische" Angehörige ihrer Wahlheimat sind. Der "österreichische" Staatskanzler Metternich zum Beispiel, Bismarcks Vorgänger als starker Mann in Deutschland, war ein "echter", gebürtiger Preuße; und der "österreichische" Feldherr Prinz Eugen (den sie dort als "edlen Ritter" besangen) war aus Savoyen gebürtig - das damals noch nicht französisch, sondern italienisch war. Korsika war zwar schon eine französische Kolonie, als Napoleone Buonaparte dort geboren wurde (sein Vater war einer der Anführer des letzten erfolglosen Aufstands der Korsen gegen die französische Fremdherrschaft gewesen), der sich später "Napoléon Bonaparte" nannte - aber als "echten" Franzosen würde ihn wohl niemand im Ernst bezeichnen wollen. A propos Österreich: Das war bekanntlich das Land, welches die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs als "erstes Opfer" der nazi-deutschen Aggression anerkannten, und der oberste deutsche Nazi war bekanntlich - Österreicher. Francisco Franco, der ohne Rücksicht auf die Minderheiten der iberischen Halbinsel den kastilisch geprägten Einheitsstaat "Spanien" zementierte, war Galizier (d.h. Angehöriger der lusitanischen Minderheit im Nordwesten); Josif Dschugaschwili, der sich als Diktator der Sowjet-Union "Stalin" nannte, war Georgier - aber nie zuvor oder danach wurden die Georgier so brutal von der russischen Zentrale in Moskau unterdrückt wie zu seiner Zeit. Josif Brosz, der nach dem Zweiten Weltkrieg Jugoslawien neu gründete und sich "Tito" nannte, war Kroate - und auch die Kroaten wurden von der serbischen Zentrale in Belgrad politisch unterdrückt und wirtschaftlich ausgebeutet. Kemal Pascha "Atatürk", der Gründer der modernen Türkei, der die Griechen aus Kleinasien vertrieb, kam aus Thrakien. (Die Hellenen betrachten diese Provinz bekanntlich als Bestandteil Griechenlands, ebenso wie Makedonien, woher Alexander der Große stammte.)
Nun mag es viele gute Gründe geben - nicht nur die Selbstbestätigung der nationalen Identität -, aus denen jemand ein besonders glühender "Patriot" wird: Hitler wollte seine Heimat Österreich heim ins Reich holen, sein polnischer Kollege Pilsudski das litauische Wilna (wo er geboren war), der griechische Ministerpräsident Venizelos (Atatürks glückloser Gegenspieler) seine Heimatinsel Kreta und der Inder Nehru das muslimische Kashmir, aus dem seine Vorfahren stammten. Aber der geneigte Leser wird sich anhand dieser wenigen Beispiele schon gefragt haben, ob es immer gut ist, wenn solche Patrioten aus der Diaspora an die Macht kommen, und ob dieser Patriotismus die vielen Kriege und Millionen Tote wert ist, die er bisweilen kostet; aber der Profet im eigenen Lande zählt bekanntlich nichts. (Wohlgemerkt, wir sprechen hier nur von so genannten "Patrioten"; über so genannte "National-Helden" - für die im allgemeinen noch etwas mehr dazu gehört als bloß die zweifelhafte Echtheit ihrer Nationalität - schreibt Dikigoros hier mehr; und darüber, warum es im besonderen für Bismarck nicht zum Nationalhelden gereicht hat, hier.) Nun, die Antwort fällt, jedenfalls soweit sie Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat, meist danach aus, welchen Erfolg die Betreffenden gehabt haben - was wiederum davon zeugt, wie wenig durchdacht diese Nachurteile der Historiker sind, und wie wenig Wissen die Geschichts-"Wissenschaft" eigentlich schafft. Manche sind als Freiheitskämpfer gegen das koloniale Joch" in die Legende eingegangen - wobei sie letzteres freilich in vielen Fällen weniger auf dem Nacken trugen als an den Haaren herbei zogen: Kossuth, der Führer des ungarischen Aufstands gegen Österreich, war Slowake (ebenso wie übrigens Alexander Dubcek). Valera, der Führer des irischen Osteraufstands gegen Großbritannien, war US-Amerikaner spanisch-kubanischer Abstammung. (Eigentlich waren sie beide erfolglos, denn die Slowakei sollte später unter die Knute der Tschechen geraten, und Irland ist bis heute nicht ganz frei von der britischen Kolonial-Herrschaft; aber die Nachwelt hat das erstmal nicht so gesehen.) Soekarno, der Gründer des von Holland unabhängigen Staates "Indonesien", war kein Javaner (die Javaner sind das "echte" Staatsvolk Insul-Indes, Anm. Dikigoros), sondern sein Vater war Madurese aus Surabaya, und seine Mutter Balinesin. (Beide Minderheiten werden heute grausam von den Javanern unterdrückt, während sie sich unter den holländischen "Kolonialisten" politischer Gleichberechtigung und wirtschaftlicher Freiheit erfreut hatten - einer der vielen Treppenwitze der Geschichte des 20. Jahrhunderts.) Und da wir eben bei Stalin waren, blicken wir ruhig noch etwas weiter in die Geschichte Rußlands zurück: Die Mutter Peters des Großen, der doch so westlich orientiert war, war Tartarin; Katharina die Große, die erfolgreichste Zarin, die Rußland je hatte, war rein deutscher Abstammung (aber niemand vor oder nach ihr - nicht einmal Iwán Grosny - hat das Deutschtum im Baltikum derart systematisch bekämpft und schließlich platt gemacht). Und Wladímir Uljanow, der sich als Anführer der Russischen Revolution "Lenin" nannte, hatte einen kalmückischen Vater und eine deutsch-jüdische Mutter. Noch Fragen, liebe Leser? Ach so: Waren das nun die Guten oder die Bösen, die besten "ihres" Volkes oder seine Verderber? Ihr dürft das jeder für Euch beantworten und Dikigoros bei Gelegenheit mal Eure Meinung mailen.
Zurück zu Bismarck und seiner Zeit. Dikigoros' Urgroßvater kennt die Herings-Rede, er hat sie in der Zeitung gelesen. Nicht, daß er oder einer seiner Kollegen sich den Luxus einer Tageszeitung leisten könnten; er gehört nicht zu den reichen Fischern, die in großen Kuttern hinaus ins Meer fahren und die teuren Luxus-Fische fangen, die das dicke Geld bringen; er rudert nur mit einem selbst gezimmerten Boot ein wenig in die Bucht hinaus (das ist schon gefährlich genug, denn schwimmen kann er - wie die meisten Fischer und Seefahrer seiner Zeit - nicht, und bei schlechtem Wetter und stürmischer See einfach zuhause bleiben geht auch nicht immer) und wirft dort die selbst geknüpften Netze aus; die zwei Penninge, die er für ein Pfund Heringe bekommt, reichen kaum, um die Familie satt zu machen, denn Fisch mag zwar sehr gesund sein, aber allein davon kann man sich auf Dauer doch nicht ernähren; es müssen wenigstens noch ein paar Pellkartoffeln dazu her, als Sättigungsbeilage. (Dikigoros' Urgroßvater hat zwölf Kinder, von denen er immerhin sechs durchbringt - das ist für damalige Verhältnisse ein guter Schnitt -, darunter die dritte von vier Töchtern, Dikigoros' Großmutter in spe. Almut wächst zu einer richtigen Walküre heran, aber schwimmen lernen wird auch sie zeitlebens nicht. Erst ihr Sohn Urs - Dikigoros' Vater - lernt es notgedrungen, als er Mitte der 1940er Jahre nach im Krieg versenkten Kohlefrachtern tauchen muß, weil es sonst nichts zu heizen gibt.) Aber alle paar Wochen kommt der Lumpen- und Altpapiertrödler vorbei, der alte Gazetten für ein paar Penninge den Zentner an die Fischer verkauft, die darin ihren Fang einpacken, bevor sie ihn auf dem Markt verkloppen.
Wenn die Geschäfte schlecht laufen, hat man schon mal Zeit, sie vorher zu lesen, und Dikigoros' Urgroßvater hat immerhin Lesen und Schreiben gelernt. Das ist nicht selbstverständlich damals für einen Fischer, denn in Holstein gibt es, anders als etwa in Preußen, noch keine Schulpflicht - was schert es den dänischen König, ob seine Untertanen Deutsch schreiben lernen? Und Dänisch können sie ja sowieso nicht, darüber kann auch der scheinbar dänische Name Jens nicht hinweg täuschen. (Eigentlich ist es gar kein dänischer Name, sondern die in Norddeutschland ebenso wie - wenn nicht sogar noch mehr als - in Skandinavien verbreitete Kurzform von Johannes.) Er empfindet den Spruch mit den Heringen, von denen sich das Volk ernähren soll, als blanken Hohn. Überhaupt mag er den Herrn Bismarck nicht, obwohl er ihm doch eigentlich dankbar sein müßte - so steht es jedenfalls in der Zeitung: Hat der nicht anno 1864 Schleswig-Holstein heim ins Reich geholt? Nein, liebe Leser, hat er nicht. Erstens gab es dieses Reich noch gar nicht, sondern nur den Deutschen Bund, und zweitens hat Bismarck Schleswig und Holstein zwar von der Herrschaft des dänischen Königs befreit, aber nur, um sie unter die des preußischen zu bringen - bei dem sie noch weniger Autonomierechte bekamen. Und nicht ohne bei der Gelegenheit seine Verbündeten gegen Dänemark, die Österreicher, über den Tisch zu ziehen und von Deutschland auszuschließen. Aber das ist die große Politik, von der Jens nichts versteht; für ihn sind die Österreicher genauso weit weg (in jeder Hinsicht, nicht bloß räumlich) wie die Sachsen und Schlesier, die Bayern und Schwaben. Die Zeitungen schreiben, es sei gut so gewesen und notwendig, ebenso der anschließende Krieg gegen den Erbfeind Frankreich; dann muß es wohl stimmen.
Aber Ihr, liebe Leser, die Ihr im 20. Jahrhundert zur Schule gegangen seid und bestimmt viele schöne Geschichtsbücher gelesen habt, habt Euch doch sicher schon mal Gedanken über all diese Dinge gemacht. Oder habt Ihr einfach nur brav auswendig gelernt, was Euch die Lehrer im Unterricht vorgekäut haben? Bismarck war also der Gründer des deutschen Nationalstaates. Er hat zwar die deutschen Österreicher hinaus geworfen (und mit ihnen die Deutschen in Böhmen und Mähren), aber dafür hat er doch die Elsässer und Lothringer heim ins Reich geholt und die außerhalb des Deutschen Bundes gelegenen Provinzen Preußens! Wohl wahr; und dennoch - irgendwie kann sich Dikigoros des Gefühls nicht erwehren, daß schon damals in Deutschland der Versuch unternommen wurde, etwas künstlich zusammen wachsen zu lassen was nicht zusammen gehörte, während gleichzeitig Bindungen gekappt wurden, die man vielleicht besser bewahrt hätte. Lassen wir das Hinausdrängen der Österreicher einmal außer Acht - da ist Dikigoros ohnehin voreingenommen - und nehmen wir an, der Kanzler von Preußen hätte bewußt einen norddeutsch geprägten Staat schaffen wollen. Dagegen hätte Dikigoros' Urgroßvater sicher nichts einzuwenden gehabt - aber war es denn so? Noch als Bismarck geboren wurde, konnten sich die Küstenbewohner des ganzen nordeuropäischen Festlands von Flandern, Holland und Friesland über Schleswig und Holstein, Mecklenburg und Pommern, Preußen und Kurland, Livland und selbst im estnischen Reval in einer gemeinsamen Umgangssprache verständigen, dem Pladdütschen. Als Dikigoros geboren wurde, sprach man im Westen dieses Gebietes Niederländisch (d.h. man krächzte es - das Pladdütsche kennt diese häßlichen Kehlkopf-Reibelaute nicht), halblinks nuschelte man "Hoch"- und "Mittel"-Deutsch (d.h. [Ober-]Sächsisch) - jene merkwürdigen Idiome, die aus jedem "sp" ein "schp" machen, aus jedem "st" ein "scht", aus jedem "-ig" ein "-ich", aus jedem zweiten "e" ein "ä" und aus jedem dritten "p" ein "pf" (also aus Spaghetti "Schpagätti" oder gar "Schbagäddi", und aus Spanien - das sich im Niederdeutschen korrekt mit scharfem "sp" und kurzem "a" spricht, wie in España - "Schbaaniän") -, halbrechts Polnisch, und ganz im Osten Russisch.
Doch bevor wir uns fragen, warum das alles so gekommen ist, müssen wir erstmal eine andere Frage beantworten: Warum hatte sich die norddeutsche Sprache eigentlich einmal über ganz Nordeuropa ausgebreitet? Weil sie besonders schön anzuhören oder besonders leicht zu lernen war? Weil in ihr unsterbliche Werke der Dichtung und Wissenschaft geschrieben wurden? Nichts von alledem. Warum ist denn Englisch (das ursprünglich, d.h. als es noch eine Mischung aus Anglisch, [Nieder-]Sächsisch und Friesisch war, sehr eng mit dem Pladdütschen verwandt) heute eine Weltsprache? Richtig, weil wirtschaftliche und politische Macht dahinter steht. Und damals stand die halt hinter dem Pladdütschen. Die Macht hatte auch einen Namen, genauer gesagt zwei: Deutscher Orden und Hanse, und damit sind wir wieder beim Hering.
Längerer Exkurs: Da dies eine Seite über historische Mißverständnisse ist, muß Dikigoros auch ein paar Worte über die Gründungsmythen jeder beiden Institutionen verlieren. Hinsichtlich des Deutschen Ordens tut er das an anderer Stelle; hinsichtlich der Hanse wollt Ihr bitte alles vergessen, was Ihr in Euren Geschichts- und Märchenbüchern über dieses Thema gelesen habt. Exkurs Ende.
Zurück, d.h. vorwärts ins späte Mittelalter, als die Hanse eine Weltmacht war, als sie diejenigen Gewässer beherrschte, auf die es damals ankam, nämlich die Themse, den Rhein, die Elbe, die Oder, die Weichsel und die russischen Flüsse, genauer gesagt die Mündungen all dieser Flüsse in die Nord- bzw. die Ostsee. Habt Ihr Euch mal gefragt, liebe Leser, wie und warum sie das geworden ist? Habt Ihr auch auf der Schule oder an der Universität gelernt, daß es in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts das so genannte "Interregnum", die schreckliche, königlose Zeit gab, daß in Deutschland ein ach so schädliches "Machtvakuum" bestand? Vergeßt es. Erstens wurden weiterhin Könige gewählt; das waren zwar "Ausländer" - aber war das nicht auch der Sizilianer, der kein Wort Deutsch sprach und nur ein paar Wochen seines Lebens in Deutschland verbracht hatte, aber dennoch als "Friedrich II von Hohenstaufen" in die Geschichtsbücher eingegangen ist? Zweitens war diese Zeit gar nicht so schrecklich, denn entgegen weit verbreiteter Meinung bedarf es nicht immer einer starken Zentralmacht, um ein Land aufblühen zu lassen - im Gegenteil: Unter der Knute einer starken Regierung, welche die Steuerschraube kräftig angezogen hätte, wäre es nie zu dem ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung gekommen, den Mitteleuropa im allgemeinen und Norddeutschland im besonderen damals nahm - das wissen wir doch heute nur zu gut. (Ohnehin behaupten böse Zungen, daß der viel gepriesene Stauferstaat eher ein Unglück als ein Glück für Deutschland war, und daß die Herrschaft der Welfen - Ihr habt sicher alle mal von Heinrich dem Löwen gehört, dem Gegenspieler Barbarossas - segensreicher hätte werden können. Aber da diese Auffassung auch schon zur Zeit des "Dritten Reichs" vertreten wurde, darf man sie heute noch immer nur mit gebührender Vorsicht genießen.)
Und habt Ihr Euch auch mal gefragt, warum der Deutsche Orden und die Hanse untergingen? In Euren modernen Geschichtsbüchern verschwinden sie wahrscheinlich sang- und klanglos im Nirgendwo. In früheren Auflagen lest Ihr vielleicht, daß sie irgendwelche Kriege verloren haben gegen aufkommende Nationalstaaten, die halt stärker waren. Mag ja sein; aber weshalb verliert man Kriege? Richtig, weil die Wirtschafts- und Finanzkraft nicht mehr ausreicht, um ausreichend Waffen, Munition und Soldaten für den Sieg einzukaufen. Warum war das so? Über den Deutschen Orden und seinen Untergang schreibt Dikigoros wie gesagt an anderer Stelle; über den Untergang der Hanse muß er hier ein paar Worte verlieren, zum Einen, da er das schon über ihre Entstehung getan hat, zum anderen weil darüber noch mehr falsche Theorien in Umlauf sind. Die am weitesten verbreitete lautet: Mit der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien verlor die Hanse ihr Handelsmonopol an die Spanier und Portugiesen. Quatsch mit Sauce, liebe Leser, das Monopol für den Orienthandel mit Luxusgütern (alle Gewürze außer Salz sind letztlich Luxusgüter!) hatte die Hanse nie gehabt - das verloren allenfalls Venedig, Genua und andere italienische Hafenstädte, die das Zeug bisher von Konstantinopel aus übers Mittelmeer geschippert hatten. Aber ist Euch mal aufgefallen, daß praktisch das gesamte Gebiet der Hanse ab dem 16. Jahrhundert protestantisch wurde? Na und?
Na und: Die Hanse hatte mit allem Möglichen Handel getrieben, aber vor allem mit Fisch. Und wer aß diesen Fisch? Richtig, brave Katholiken, die sich an die Fastenzeit[en] im allgemeinen und an die vielfältigen Verbote des Fleischverzehrs im besonderen hielten. Wer tat das dagegen nicht? Richtig, die Protestanten. Mit einem Schlag brach der Fischhandel zusammen, die Hanse verarmte, verlor ihre Kriege und ging unter - im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn wir wollten ja ursprünglich wissen, warum das Pladdütsche als Sprache verschwunden ist, und dafür kann der Untergang der Hanse nicht der alleinige Grund gewesen sein. Eine Sprache braucht zunächst einmal einen gewissen Stamm von Sprechern, die sie dann mittels politischer oder wirtschaftlicher Macht weiter verbreiten können. Wenn dieser Stamm die Sprache aufgibt, gibt es über kurz oder lang auch anderswo keine Basis mehr für sie. Fangen wir anders herum an: Dikigoros' Oma hatte nur zwei Bücher (die heute noch in seiner Bibliothek stehen): die "Germanischen Götter- und Heldensagen" und - die Luther-Bibel.
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(Fortsetzungen folgen)
Lumumba war kein Bakongo, sondern Batetela (aus Kasai)
Che Guevara war kein Kubaner, sondern Argentinier
Reformation: Kampf zwischen Verlegern (Bibel!) und Heringsverkäufern: Nicht nur Freitags, sondern während der ganzen Fastenzeit wurden Heringe gegessen! Die Reformation hat dem Heringshandel und damit der Hanse das Rückgrat gebrochen. Es gibt aber auch die umgekehrte These: Es sollen nämlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Heringe plötzlich ihre Zugrichtung gewechselt und nicht mehr an die deutsche Nordseeküste gekommen sein; dadurch soll es an Heringen gefehlt haben, dadurch wieder sollen die Fasten nicht mehr durchzuhalten gewesen sein, un daraus endlich soll sich dann sozusagen automatisch die Reformation ergeben haben.
Luxemburg - will er nicht an Frankreich geben, nimmt es aber aus dem Deutschen Bund und wirft es Belgien in den Rachen.
Krieg gegen Frankreich. Warum das nun wieder? Gewiß, die Franzosen sind Deutschlands Erbfeinde, die waren schon immer böse. Aber der eigentliche Anlaß war ja wohl so eine alberne Thronkandidator eines Hohenzollern in Spanien - was geht die Deutschen Spanien an?
Urlaub ist noch nicht.
Berliner Konferenz 1878
Was mischt er sich jetzt auf dem weit entfernten Balkan ein? Er macht sich damit Rußland zum Feind - der Schutz der Deutschen in den Baltischen Provinzen - die jetzt erbarmungslos russifiziert werden - war ihm diese Feindschaft nicht wert.
Der erste innenpolitische Fehler: Sozialsysteme.
Was soll das? Einzahlen für andere, selber bekommt nichts ab - Fischer fahren hinaus solange sie können, und wenn sie nicht mehr können, sterben sie, im Kreis ihrer Familie. Oder sie kommen von ihrer letzten Fahrt nicht wieder - das wäre allerdings ärgerlich, wegen des Boots.
Keine Steuern, auch kein Wahlrecht - aber wozu soll das überhaupt gut sein? Kann man das essen? Die da oben machen ja doch was sie wollen.
Der nächste Fehler: Kulturkampf
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