INDIEN IST NICHT AMERIKA
UND KALKUTTA LIEGT NICHT AM GANGES

[Kalkutta, Howra-Brücke über den Hugli][San Francisco, Golden Gate Bridge]

DAS IMMERWÄHRENDE GESETZ DES SCHICKSALS,
DER ACHTTEILIGE PFAD ZUR ERLEUCHTUNG,
DIE MINDERHEIT DER FURTENMACHER
UND DIE RACHE DES WASSERMANNS
... UND MUHAMAD IST SEIN PROFET

"Agním ilé puróhitam
yajnyásya déw'amrítwijam
hotáaram rátna dháatamam

(...)

Agnínaa ráyimáshnawat
poshámewa diwédiwé
yashásam wirawáttamam"


(Rigwed I, 1. Strofe, Vers 1 + 3)

[Gebet zum Feuergott Agni]

"Zu Agnis Feuer bet' ich gleich,
zum Opfergott, so ist es Brauch
daß er mir Schätze bringen mag

(...)

Durch Agnis Segen wird man reich
an Geld und Gütern, Tag für Tag,
und heldenhaften Söhnen auch"


(Übersetzung: Dikigoros)

"Oh, East is East, and West is West,
and never the twain shall meet,
till Earth and Sky stand presently
at God's great Judgment Seat.
But there is neither East nor West,
nor Border, nor Breed, nor Birth,
when two strong men stand face to face
though they come from the ends of the
earth!"

(Kipling, The Ballad of East and West)

[Ost und West]

"Oh, Ost ist Ost, und West ist West,
und es verbindet sie nichts,
bis Himmel und Erde stille steh'n
am Tag des jüngsten Gerichts.
Doch zählen weder Ost noch West,
Erziehung, Geburt oder Geld,
wenn zwei starke Menschen ins Antlitz sich
schau'n,
und käm' sie vom Ende der Welt!"

(Übersetzung und Illustration: Dikigoros)

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE

Eigentlich mag Dikigoros Rudyard Kipling, den in Britisch-Indien geborenen und aufgewachsenen Dichter des Imperialismus - den er in einem seiner bekanntesten Gedichte "des weißen Mannes Bürde" nannte -, nicht sonderlich, obwohl er eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit seinem Großvater Urs hatte. (Vielleicht sahen die Leute damals so aus, sie waren schließlich Zeitgenossen, und die Fotografen hatten alle ähnliche Techniken, einen Menschen aufzunehmen.) Nicht nur, weil Kipling die Deutschen haßte - das war verständlich, denn sein einziger Sohn war im Weltkrieg gegen sie gefallen, als 18-jähriger Unterleutnant in Flandern, wo er glaubte, Indien gegen die bösen "Hunnen" Kaiser Wilhelms verteidigen zu müssen, wie es ihm und so vielen anderen jungen Briten das Propaganda-Ministerium seiner Majestät und sein eigener Vater eingetrichtert hatten. ("Sie starben für die Lügen der Väter", sollte Kipling senior nach dem Krieg verbittert schreiben, als es zu spät war - aber davon lest Ihr heute auf deutschen Webseiten über Kipling natürlich nichts mehr - da herrscht über die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens praktisch Funkstille.) Auch nicht, weil Kipling "Imperialist" war - wer war das damals im britischen "Empire" [Imperium] nicht? Aber Dikigoros hält ihn für einen schlechten Dichter, für das Gegenteil dessen, was die Inder einen "Satkawi" nennen. Gewiß, er hatte ein paar Sternstunden: Vier oder fünf seiner über 500 Gedichte und Balladen - also nicht mal ein Prozent - zählen zum Besten, was die abendländische Dichtkunst seiner Zeit hervor gebracht hat, zum Beispiel das für seinen Sohn geschriebene "If"; doch "Die Ballade von Ost und West" gehört nicht dazu, wenn man von der oben zitierten Anfangs- und Endstrofe absieht (Kipling hat sie an den Anfang und an das Ende der eigentlichen Ballade gestellt). Aber vielleicht erleben wir bald den nächsten Krieg, und wenn, dann werden die Inder sicher wieder auf Agni setzen, den Gott des Feuers, nach dem sie ihre Atomraketen benannt haben; Dikigoros fürchtet nur, daß das, was manche Karikaturisten heute noch zu Witzen animiert, damit enden könnte, daß es danach keine Schriftsteller mehr gibt, die heroïsche Gedichte darüber verfassen können

[Agni-Rakete]

"Wenn zwei starke Menschen ins Antlitz sich schau'n..." Habt Ihr mal einer richtigen indischen Frau richtig tief in die Augen geschaut, liebe Leser? Nein, natürlich nicht, denn eine anständige indische Frau darf eigentlich keinem fremden Mann tief in die Augen schauen - das darf sie nur bei ihrem Patidew ["Göttergatte"; das ist in Indien eine gängige - und ganz ernst gemeinte - Bezeichnung für den Ehemann, während die Bezeichnung "Dewi" als Anrede für eine Frau heute eher ironisch gemeint ist, etwa wie im Deutschen "Gnädigste"]. Subhadrishti, der glückliche Moment des [ersten] Einander-in-die-Augen-schauens - umständliche, aber korrekte Übersetzung dieses alten Sanskrit-Wortes -, bildet den Höhepunkt der traditionellen indischen Hochzeit (die als Feier von dem juristischen Akt der [Ver-]Heirat[-ung] - die oft schon im Kindesalter vorgenommen wird und eher unserer Verlobung entspricht - zu unterscheiden ist), nachdem der Bräutigam den Schleier der Braut gehoben hat. Ihr habt irgendwo gehört oder gelesen, die Ehe sei geschlossen, wenn das Brautpaar sieben Mal gemeinsam um das heilige Feuer gegangen sei? Irrtum: Dieses "Saptpadī" soll nur dem Wunsch Ausdruck verleihen, daß das häusliche Herdfeuer sieben Tage pro Woche [saptāh] nicht ausgehen möge. Aber die Ehe gilt erst als geschlossen, wenn die Brautleute einander zum ersten Mal tief in die Augen geschaut haben! Das, liebe Leser, die Ihr an den Mythos von der "asiatischen" Frau glaubt, unterscheidet die Frauen Westasiens und Indiens so grundlegend von den Frauen Hinterindiens und Ostasiens, daß es schon deshalb ein Witz ist, sie in einen Topf zu werfen, wie es manche noch immer tun. Die letzteren haben zwar immer ein freundliches Lächeln drauf, aber das ist letzlich nichts weiter als eine einstudierte Maske, eine Geste der Höflichkeit, die an sich nichtssagend und unverbindlich ist. (Dort kommt auch niemand auf die Idee, Frauen zu verschleiern :-) Es ist ein Muster ohne Wert, ein Einheitslächeln von der Stange - und vor der Stange. Deshalb fallen so viele westliche Männer darauf herein und holen sich z.B. eine Thai-Nutte, pardon Bar-"Dame" als Ehefrau nach Hause - nicht, weil sie das für besonders erstrebenswert hielten, sondern weil sie den Unterschied gar nicht bemerken, denn die anderen schauen ja auch nicht anders aus der Wäsche. In Indien könnte das nicht passieren; denn die Frauen, die dort im Rotlicht-Milieu arbeiten, verlieren diesen Blick, wie alle Frauen, die wahllos mit jedem ins Bett gehen, der ihnen über den Weg läuft und einen hoch bekommt, nicht wahr, liebe Europäerinnen und Nordamerikanerinnen von heute - aber mit deren Schlafzimmerblick hat der Blick aus indischen Augen, den Dikigoros meint, ohnehin nur wenig gemeinsam. (Wenn Ihr etwas ältere Semester seid und Euch noch an die Verfilmung von Shaws "Caesar & Cleopatra" von 1946 erinnert oder wenigstens an "The Avengers [Mit Schirm, Charme und Melone]", jene englische Kultkrimi-Serie der 1960er Jahre: Diana Rigg, die Darstellerin der "Emma Peel", und Vivian Hartley alias Vivien Leigh, die Darstellerin der "Cleopatra" (und der "Scarlett O'Hara" in "Vom Winde verweht" und der "Lady Hamilton"), die beide in Indien aufgewachsen waren, hatten ihn halbwegs drauf. Leider nur halbwegs, denn als sie älter wurden, schickte man sie auf Internate nach England, und Engländerinnen... na ja, lassen wir das.) Da eine anständige indische Frau diesen Blick natürlich auch keinem Fotografen zuwerfen darf - wenn sie sich denn überhaupt fotografieren läßt - kann Euch Dikigoros hier kein passendes Bild zeigen. [Vergeßt die Fotos aus Heirats-Prospekten und -Webseiten, die neuerdings wie Pilze aus dem Boden schießen - keine anständige Inderin würde sich für so etwas ablichten lassen.] Ihr müßt schon selber nach Indien fahren.

Einige von Euch haben das vielleicht sogar schon getan. Wart Ihr auch mal in Kanchipuram? Nein, natürlich nicht, denn der gut betuchte Bildungstourist beschränkt sich ja vorzugsweise auf das "goldene Dreieck" Delhi-Agra-Jaipur, wohin die klimatisierten Züge und Busse für Ausländer fahren; und der "alternative" Rucksack-Tourist mit pseudo-religiösem Touch fährt nach Goa, Benares und vielleicht noch nach Mathura. (Dikigoros kennt das, er hat diese Fasen ja selber auch mal durch gemacht.) Aber Kanchi? Wer kennt dieses kleine Kaff 70 km südwestlich von Madras überhaupt? Doch von Tantra und Shakti habt Ihr sicher schon mal gehört, nicht wahr? Denn das macht sich immer gut für reißerische Artikel über wüste Sex-Orgien usw. Also, Kanchipuram ist eine der heiligsten Stätten Indiens, besonders für Shakti-Anhänger[innen], denn dort steht der Tempel der Göttin Kāmā[n]khshi, der man neuerdings auch in Deutschland ein Heiligtum errichtet hat (den größten Hindu-Tempel auf dem europäischen Festland), in Hamm-Uentrop, gegen vielerlei Widerstände vor allem von Leuten, die den Gotteshäusern anderer Religionen - z.B. den Moscheen des aggressiven Islam - sonst so aufgeschlossen gegenüber stehen. (Ihr werdet sie dort allerdings nicht unter ihrem richtigem Namen finden, sondern unter der tamilischen Verballhornung "Kamadchi"). Kām[a] ist das indische Wort für (sexuelle) Liebe und Arbeit. (Wundert Euch diese Parallele? Warum? Auch im Englischen heißt gebären bis heute "to work"; und Ihr, liebe männliche Leser - und auch Ihr, liebe kinderlose Leserinnen - könnt gerne glauben, daß das eine verdammt harte Arbeit ist, zumal wenn frau nicht ein erfahrenes Ärzteteam um sich hat, das zum Kaiserschnitt o.ä. bereit steht, sondern unter Bedingungen gebärt, wie sie in Indien heute noch vorherrschen!) Ā[n]kh ist das Auge; aber Ihr braucht wie gesagt gar nicht bis Kanchi zu fahren; jede richtige Inderin (dazu zählt freilich nicht die verdorbene, pardon verwestlichte Einwohnerin von Bombay oder irgendwelcher Ausländerviertel in Europa und Amerika) hat diesen Blick drauf, auch wenn sie keine ausgesprochene Anhängerin dieser liebesäugigen Göttin ist. Die Begegnung mit richtigen indischen Frauen ist eines der letzten zwischenmenschlichen Abenteuer dieser Welt - das muß auch Kipling erkannt haben. Allerdings dürfte seine Verallgemeinerung auf alle [starken] Menschen vom Anfang bis zum Ende der Welt schlicht falsch sein. Aber Dikigoros will das hier nicht weiter vertiefen. Genug der Vorrede.

* * * * *

[Die Flotte des Kolumbus - originalgetreuer Nachbau]

Im Jahre des Herrn 1492 segelt ein Italiener aus Genua mit einer "Flotte", die aus drei besseren Nußschalen besteht (jawohl, liebe Leser, Nußschalen - zwei der Bötchen haben nicht mal ein durchgehendes Deck, auch wenn Schönredner und -zeichner späterer Jahrhunderte es anders darstellen werden!) von Spanien nach Indien. Das Lateinische "in diem" bedeutet zwar eigentlich "dem Tage (also der aufgehenden Sonne) entgegen", mit anderen Worten gen Osten; aber dort sitzen schon seit einiger Zeit die Türken - vor knapp vier Jahrzehnten haben sie das alte Wisádion ("Byzanz") erobert - und versperren den Landweg. Bleibt also nur die Fahrt über See, denn inzwischen hat sich, jedenfalls in gebildeten Kreisen, die Überzeugung durchgesetzt, daß die Erde eine Kugel sei und man mithin jeden Punkt in zwei Richtungen erreichen könne, also ebenso gut von Ost nach West wie von West nach Ost. So steht es jedenfalls in unseren Schulbüchern. (In jüngster Zeit hat jemand dargelegt, daß diese in einem von vielen für wesentlich gehaltenen Punkt, nämlich der Frage, ob man die Erde im Mittelalter für eine Scheibe oder für eine Kugel hielt, lange Zeit geirrt haben und z.T. bis heute irren; Dikigoros erlaubt sich indes die ketzerische Anmerkung, daß dies - jedenfalls in Bezug auf die Suche nach einem Seeweg nach Indien - ein Streit um des Kaisers Bart ist, da das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat: In zwei Richtungen kann man sein Ziel auch erreichen, wenn die Erde eine Scheibe ist - entweder am linken oder am rechten Rand entlang - man muß halt nur aufpassen, daß man nicht über den Scheibenrand hinaus segelt und runter fällt ins All bzw. ins Nichts ;-)

[Erdkugel]

Der Witz an der Kugel ist vielmehr, daß man sein Ziel in der Theorie in unzählig vielen Richtungen erreichen könnte - in der Praxis stehen dem freilich bis zur Erfindung des Flugzeugs die vereisten Pole entgegen. Wie dem auch sei, nach vielerlei Mühen landet Cristofero Colombo auf einer Karibik-Insel, freut sich, den Seeweg nach "Indien" entdeckt zu haben, und in dieser schönen Überzeugung stirbt er auch. Die Leute, die er dort angetroffen hat, nennt man fortan folgerichtig "Indios" oder "Indianer". Und die nennen das Segeltuch-Zeug, aus dem die genuesischen Seeleute ihre Hosen machen, nach diesen "Geans" (später "Jeans" geschrieben) - die sollen ihnen noch gute Dienste leisten beim Zureiten der Pferde, die den Spaniern entlaufen und sich bald als wieder verwilderte Mustangs über das ganze Land verbreiten werden (aber das ist eine andere Geschichte). Ein paar Jahre später schippert ein anderer Italiener, Amerigo Vespucci, nach "Westindien". Der stellt fest, daß sein Landsmann gar nicht den Seeweg nach Indien entdeckt hat, sondern einen neuen Erdteil: "Indien" ist Amerika! (Zu solchen Fehleinschätzungen gelangt man, wenn man über den großen Teich segelt, statt über Land zu fahren!) Als Amerigo zurück nach Europa kommt und diese Erkenntnis dort verbreitet, bastelt ein deutscher Geograf einen Globus, auf dem er den neuen Kontinent, den Colombo entdeckt hat, "Amerika" nennt; und das Land, das Amerigo bereist hat, nennt man später "Colombia" (oder - wenn man deutsch spricht - "Kolumbien", was auch nicht besser ist). Verkehrte Welt.

[Erdkugel aum]

Exkurs. Ihr glaubt doch nicht etwa, liebe Leser, das sei eine einmalige Fehlleistung der sesselpupsenden Schreibtisch-Geografen, die noch nie selber den Hintern zu einer eigenen Forschungsreise um die Welt hoch bekommen haben und deshalb immer die falschen Lorbeeren verteilen? Weit gefehlt, das ist vielmehr die Regel. Bleiben wir noch etwas bei Kolumbus und Amerika, von dem noch ein spezieller Teil nach dem Genuesen benannt ist, nämlich der westlichste Bundesstaat Kanadas, "British Columbia". Dort sind nun weder Colombo noch Amerigo je gewesen; der erste Europäer, der ihn wenigstens gesehen hat, war James Cook (von dem Dikigoros an anderer Stelle berichtet), aber der betrat - eine bemerkenswerte Parallele zu Colombo - nur eine dem Festland vorgelagerte Insel, die indes nicht nach ihm, sondern nach seinem Leutnant und Nachfolger George Vancouver benannt ist, der sie seinerseits nie betreten hat, geschweige denn das Gebiet, auf dem heute die nach ihm benannte Stadt Vancouver steht. (Er betrat freilich als erster das Festland, wenn auch weiter nördlich, und wird daher von einigen als "Entdecker British Columbias" angesehen. Tatsächlich war er jedoch ein ziemlicher Versager; er brachte es nämlich fertig, alle Flußmündungen - nach denen er eigentlich suchen sollte - zu übersehen.) Das haben als erste Lewis und Clark getan, die heute niemand mehr kennt; erst 1849 baute das Militär dort die "Vancouver Barracks"; 1857 wurde das Marketenderlager gegenüber zur "City of Vancouver" erhoben; und erst 1861, beim großen Goldrausch, wurde wirklich eine Stadt daraus. Dieser Goldrausch begann wiederum an einem Fluß, den der eigentliche Entdecker British Columbias, Alexander MacKenzie, erforscht hatte, der freilich den Namen "Peace River" erhielt - nach MacKenzie wurde dafür ein anderer Fluß weiter östlich benannt, den er nie gesehen hat. Und dann war da noch der Columbia River, ebenfalls im gleichnamigen kanadischen Bundesstaat, der eigentlich nach seinem Entdecker Grey River heißen müßte; aber "Grauen Fluß" wollte man das damals noch schöne, blaue Gewässer denn doch nicht nennen. Wie kriegt Dikigoros denn nun wieder die Kurve nach Indien? Na klar, da Colombo auch dort nie gewesen ist, hat man natürlich auch dort eine Stadt nach ihm benannt: die Hauptstadt Ceylons. Exkurs Ende.

[Melone]

Irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, irgendwo in einer kleinen Stadt am Rhein, laufen sich zufällig zwei Schulfreunde über den Weg, die sich eine Zeit lang aus den Augen verloren hatten. Schulfreunde ist vielleicht zuviel gesagt, sie haben halt ein paar Jahre zusammen die Schulbank gedrückt - den einen hatte es von der Elbe, den anderen von der Ems an den Rhein verschlagen, und nach der Schule ging der eine zum Militär und der andere auf Weltreisen. Was nicht immer ganz einfach war, denn Melone - so benannt nach seiner zu Schulzeiten bevorzugten Kopfbedeckung, die er längst nicht mehr trägt - hatte sich zur Vermeidung des Wehrdienstes verpflichtet, zehn Jahre lang seine Wochenenden bei einer mildtätigen Einrichtung im Dienste des Nächsten zu verbringen, da kann man nicht mal eben 2-3 Monate in den Semesterferien verschwinden. Aber irgendwie hat Melone es immer wieder hin bekommen, zu entfleuchen - schließlich soll es Dienst am Nächsten sein, und der Nächste ist er immer noch sich selbst. Seinen verständnisvollen Vorgesetzten erzählt er, er wolle später mal Entwicklungshelfer werden, natürlich auch im Dienste des Nächsten, und zur Vorbereitung darauf müsse er sich schon mal in den fernsten Ländern der Dritten Welt umsehen, um zu wissen, wo seine Hilfe später besonders Not tut. Das ist gewiß sehr edelmütig, auch wenn es eigentlich mehr mit Melones Geldbeutel zu tun hat, denn Reisen in die Dritte Welt sind nun mal billiger als solche in teure Industrie-Länder. In denen hat sich sein Mitschüler Tarzan herum getrieben, der während seiner Militärzeit in den USA stationiert war und im Urlaub auch mal in Kanada und Mexiko war - letzteres damals noch weitgehend ein Dritte-Welt-Land. "Ist Nordamerika nicht furchtbar langweilig?" fragt Melone, "da siehste doch immer nur das gleiche wie zuhause. McDonalds gibt es bei uns inzwischen auch." Gerade hat die erste Filiale am Ort eröffnet, sehr zum Naserümpfen einiger Bratwurstfreunde, die vergessen haben, daß die Hackfleisch-Boulette nicht nur nach einer deutschen Stadt - Tarzans Geburtsort - benannt, sondern auch eine deutsche Erfindung ist. "Man kann ja statt dessen auch bei Shakey's Pizza und Spaghetti essen gehen," meint Tarzan, der ein großer Freund der italienischen Küche ist, "aber wo bist du denn so gewesen?"

Melone fängt an zu erzählen. Er erzählt und erzählt und erzählt. Es ist eigentlich unglaublich, was der schon von der Welt gesehen hat, und zwar mit den einfachsten Mitteln (nur jenseits des großen Teichs war er noch nie; der Flug war ihm zu teuer), eigentlich ganz Asien und Afrika, und alles über Land - in Bussen oder Bahnen - oder per Fähre. "Und welche Länder haben dir am besten gefallen?" - "In Afrika Ägypten, in Asien Indien." Melones erste Indien-Reise - die zugleich seine erste größere Reise überhaupt ist - ist sicher ein Unicum, das ihm so leicht keiner vor- oder nachmachen kann, denn er ist spontan und ohne jede Vorbereitung über Land gereist. Das ist zwar noch nicht ganz so schwierig wie es sich heute anhört, denn auf dem Balkan tickt die jugo-slawische Zeitbombe noch friedlich vor sich hin, in der Türkei gibt es noch keinen Kurden-Terror, in Persien herrschen noch keine Mullahs und Ayatollahs, in Afghanistan noch keine Russen und keine Taliban, und in Indien gibt es noch keinen Sikh-Terror und keine militanten Hindus und Muslime, die Jagd auf Angehörige fremder Religions-Gemeinschaften machen. Allerdings ist es auch nicht mehr so einfach wie zu Zeiten des alten Schweden Sven Hedin, der mit einer großen Karawane, dickem Geldbeutel und schwer bewaffnet los zog - dem konnte unterwegs keiner was. Melone dagegen, Student der Soziologie, Ethnologie und Wirtschaftswissenschaften, nimmt eines Tages den Europa-Bus nach München, um sich irgend eine Ausstellung in der Pinakothek anzusehen. Die Ausstellung ist enttäuschend, und da er noch Zeit übrig hat - es sind Semesterferien - beschließt er, als er wieder an der Haltstelle des Europa-Busses angelangt ist, spontan, nicht den Bus zurück an den Rhein zu nehmen, sondern in die umgekehrte Richtung, an den Bosporos. Istanbul muß man ja auch mal gesehen haben, denn inzwischen kommen immer mehr türkische Gastarbeiter nach Deutschland; mit denen muß man sich doch über irgend etwas unterhalten können! Istanbul ist billig. Melone rechnet: Wenn er weiter im Orient bleibt kostet ihn das vielleicht weniger als wenn er den Rest der Semesterferien in Deutschland verbringt. In einem Café unweit der Blauen Moschee - von den Türken "Lale", von den Touristen "Pudding-Shop" genannt - gibt es nicht nur billig Rauschgift zu kaufen (das interessiert Melone weniger), sondern es hängen auch Sonderangebote für alle möglichen Verkehrsmittel im Fenster. Am nächsten Morgen geht ein Bus nach Teheran, und es sind noch zwei Plätze frei! Teheran, dort lebt doch der Schah von Persien, der deutschen Regenbogen-Presse liebstes Kind! Er war gerade in Berlin, von einer begeisterten Menge bejubelt, allerdings auch von ein paar Krakelern mit Steinen und faulen Eiern beworfen. Und erst seine Frauen: Soraya, Farah Diba, auch da muß man mitreden können.

[Wappen Türkei] [Wappen Persien] [Wappen Afganistan] [Wappen Pakistan] [Wappen Bharat]

Am nächsten Tag sitzt Melone im Bus und rollt gen Osten, durch Anatolien, setzt mit der Fähre über den Van-See, fährt weiter durchs wilde Kurdistan und kommt einige Tage und Nächte später in Teheran an. 1001 Nacht. Melone schwärmt von den Aufbau-Leistungen des Schahs: "Alles ist so modern und sauber. Von allen Ländern Asiens ist Persien das am meisten westlich orientierte und fortschrittlichste. Auch die Hotels und Verkehrsmittel, sogar die Puffs. Westliches Niveau zu Drittwelt-Preisen." Und weil die Busse so schön und bequem sind, bucht er gleich den nächsten. Afghanistan steht auf dem Fahrplan, das kann man sich doch auch nicht entgehen lassen: Über den Kaiber-Paß zog einst Alexander der Große, und in Kabul treffen sich die Tramps der Welt, denn da ist das Rauschgift noch viel billiger als in Istanbul. So weit kommen tatsächlich nur die hartgesottensten Travellers, keine Milchbubis und Pauschal-Touristen! Und wohin reisen sie von dort? Na klar, immer weiter gen Osten, nach Lahore, der sagenhaften Hauptstadt der Moghule, nun Hauptstadt des pakistanischen Teils vom Punjab. Melone ist beeindruckt. Und wenn man schon mal in der Nähe ist: In Amritsar, der Hauptstadt der Sikhs, steht noch der berühmte Goldene Tempel - auch den muß man gesehen haben. Gesagt, getan. Melone ist begeistert. Und nun ist es auch nicht mehr weit bis Delhi, der Hauptstadt Indiens. Prächtig. Ebenso die alte Hauptstadt Indiens, Fatehpur Sikri. Und Agra mit dem Taj Mahal. Und wo war doch gleich der Ganges? Richtig, immer weiter gen Osten. In Benares, der heiligen Stadt der Sterbenden, bleibt Melone hängen, läßt sich aber nicht begraben. Dafür ist er zu lebenslustig und weltzugewandt. Da kommen ihm die berühmten erotischen Skulpturen von Khajuraho gerade recht, die liegen nur eine weitere Tagesreise von Varanasi (so heißt Benares auf Hindi) entfernt. Allmählich haben sich die Tagesreisen geläppert, und Melone rechnet aus, daß er sich langsam auf die Rückreise machen muß, wenn er zum Semester-Beginn wieder zu Hause sein will. Natürlich wieder über Land, die Strecke kennt er ja inzwischen, und für ein Flugticket reicht das Geld eh nicht mehr. Man kann sagen: Melone hat den Landweg nach Indien neu entdeckt. Nein, liebe Leser, das schreibt Dikigoros nicht einfach nur so daher. Stellt Euch das mal vor: Allein über Land von Köln bis Khajuraho und zurück, ohne Vorbereitung, ohne Sprach-Kenntnisse, ohne größere finanzielle Reserven, ohne alles! Wenn Ihr das für ein Kinderspiel haltet, versucht es nach zu machen - danach können wir weiter diskutieren! [Nachtrag 2010: Nein, versucht bitte nicht, es nachzumachen. Nicht nur, weil es gefährlich ist: Als Frau könnt Ihr es überhaupt nicht mehr riskieren, als älterer Mann ist es zu anstrengend; und als junger Mann kämet Ihr zwar vielleicht noch durch den Iran, Afģānistān und Pākistān nach Indien, aber nicht mehr zurück, denn dann stündet Ihr automatisch unter Generalverdacht, ein Ausbildungslager für Terroristen besucht zu haben, um den Jihād nach Deutschland zu tragen. Dann würdet Ihr - im Wege der Amtshilfe zwischen den befreundeten Regimes der BRDDR und der islamischen Republik Türkei - schon an der iranisch-türkischen Grenze festgenommen, eingelocht und so lange gefoltert, bis Ihr genau das gestanden hättet. Wohlgemerkelt, pardon, wohlgemerkt, auf Veranlassung eines Regimes, das bereits Millionen Muslime nach Deutschland gelassen hat und täglich weitere kommen läßt, von denen jeder einzelne ein potentieller Terrorist sein könnte, und dessen einzige "Gegenmaßnahme" darin besteht, diese Tatsache vor seinen Untertanen zu verschleiern und zu beschönigen, um keine "anti-islamischen Vorurteile" entstehen zu lassen! Nein, das hat sich Dikigoros nicht bloß so ausgedacht - alles schon vorgekommen! Nachtrag Ende.] Tarzan, der bis dahin nur aus dem Radio von Indien gehört hatte, nämlich den Schlager "Kalkutta liegt am Ganges" von Vico Torriani, kommt aus dem Staunen kaum noch heraus und nimmt sich fest vor: Eines Tages fährst auch du nach Indien, besuchst den Ganges und das Taj Mahal.

[Taj Mahal]

Die Tage vergehen, die Jahre auch. Inzwischen reist Melone nicht mehr nur über Land. Er war sogar mal in New York, drei Tage lang, um einzukaufen. Sehr begeistert war er nicht. Im Grunde seines Herzens reist er lieber wie früher: Mit dem Flugzeug nach Bangkok, und von dort weiter wie gewohnt: Die Halbinsel Malakka hinunter bis nach Singapur, von dort mit der Fähre nach Jakarta, durch Jawa bis Bali, auf die Filippinen. (Später, als der Vietnam-Krieg und die Bürgerkriege in seinem Kielwasser weitgehend beendet sind, wird er auch noch Kambodja, Laos und Vietnam bereisen.) Dort ist die Welt wirklich noch anders, da ist nicht alles gleich geschaltet und amerikanisiert, wie im Westen. Und die Frauen sind auch anders, nicht so zickig, sondern gaaanz lieb, besonders zu Touristen aus Ländern mit harter Währung, weichen Herzen und offener Brieftasche.

[Reiseplan]

Irgendwann rafft sich auch Tarzan auf, mal nach Indien zu fahren. Nein, zu fliegen. Er hat aus Nordamerika eine ganz einfache Reise-Filosofie mitgebracht, die pragmatische: Zwischen den Zielpunkten sollten ca. acht Stunden Flug, Bus- oder Bahnfahrt liegen, in der Nähe des Bahnhofs - oder wo immer man sonst landet - sollte es ein ordentliches Hotel und ein ordentliches Restaurant geben, und die Sehenswürdigkeiten sollte man entweder binnen eines Tages zu Fuß ablaufen können oder sie mittels einer Stadtrundfahrt vorgeführt bekommen. Was nicht in dieses Schema paßt, läßt er links liegen. So ist sein Reiseplan rasch gemacht: Flug nach Delhi, Abstecher zum Taj Mahal, weiter nach Bombay, Abstecher nach Goa, weiter nach Madras, Abstecher nach - wie heißt das Kaff mit dem unaussprechlichen Namen gleich? Mallaballa oder so ähnlich? Egal, wird er schon finden -, weiter nach Kalkutta, Abstecher nach Darjeeling (der ins Monsun-Wasser fällt - nicht einmal Jeeps trauen sich die engen, rutschigen Serpentinen hinauf), weiter nach Bangkok, Abstecher nach Chieng Mai, weiter nach Kuala Lumpur, Abstecher nach Penang, weiter nach Singapur, Abstecher nach Malakka (überall in Malaysia gibt es noch starke indische Minderheiten mit eigenen Vierteln, Tempeln usw.) und wieder zurück nach Deutschland. Aber Indien ist nicht Amerika, lernt Tarzan schnell: Es gibt keine Highways, sondern nur schlechte Landstraßen mit vielen Schlaglöchern, Eselskarren und heiligen Kühen, die dort herum liegen, ebenso auf den uralten, ausgeleierten Bahngleisen, welche die Engländer da gelassen haben, als sie 1947 abzogen. Die Hotels kann man auch nicht mit den amerikanischen vergleichen, denn die Insekten und anderes Ungeziefer können offenbar nicht lesen, wie viele Sterne ein Etablissement hat, oder sie scheren sich nicht darum. Kein Wunder, bei den krausen Schriftzeichen, die einem überall entgegen starren - und Tarzan hatte gedacht, mit Englisch käme er leicht durch...

Nun stellt Euch mal vor, liebe Leser, Ihr steht vor so einem Zug und fragt Euch, wohin der fährt - wobei Ihr Euch auf die im Fahrplan stehenden Ankunfts- und Abfahrtszeiten ebenso wenig verlassen könnt wie auf die angegebenen Bahnsteige. Natürlich könnt Ihr Eure Mitreisenden fragen, wenn Ihr denn Hindi sprecht (bzw. eine der vielen anderen indischen Sprachen, die gerade vor Ort gesprochen werden und die sich z.T. mehr voneinander unterscheiden als etwa in Europa Portugiesisch von Russisch, Irisch von Griechisch oder Norwegisch von Maltesisch) oder die Deutsch bzw. Englisch; aber im Zweifel wird Euch jeder etwas anderes sagen, nämlich den Ort nennen, zu dem er will, und das ist eben im Zweifel nicht der, an dem Ihr gerade aussteigen wollt. Wenn Ihr den denn überhaupt richtig aussprechen könnt. Nehmt mal an, Ihr habt auf dem Schild rechts oben - das vorbildlicherweise zugleich in Devanagari (für Hindi), Arabisch (für Urdu) und Lateinisch (für Englisch) beschriftet ist - gelesen, wie das heißt. Aber wie würdet Ihr es aussprechen? Vermutlich "Náinidsch" oder so ähnlich. Aber da würden die Inder nur Bahnhof verstehen - und in neun von zehn Fällen wohl den falschen. Denn der letzte Buchstabe, das "J", gehört gar nicht zum Ortsnamen, sondern es ist - zusammen mit dem halbhohen "N" dahinter - die Abkürzung für "Junction [Kreuzung]". Wenn Ihr Devanagari lesen könntet, sähet Ihr in der 1. Zeile, daß das "NAINI" vom "J" (das nasalisert ist, wie der Oberpunkt anzeigt) getrennt ist, der Oberstrich, die "Shirorekha", ist nämlich nicht durchgezogen. (Wenn Ihr in andere Gegenden kommt, etwa in Gandhis Heimat Gujarat, wird es noch schwieriger, denn da wird ohne Shirorekha geschrieben.) Nun kommt noch dazu, daß das "ai" schon seit rund 1.000 Jahren als "ä" ausgesprochen wird, und daß das "I" hier lang ist; das ganze spricht sich also nicht "Náinidsch" aus, sondern "Näní [Dschank'schän]" - und da soll Euch so ein armer Inder verstehen? Nein, das könnt Ihr selbst beim besten Willen (auch wenn Ihr den in Indien fast immer voraussetzen dürft) nicht erwarten, nicht einmal, wenn er etwas Englisch kann. Denn der Ärger mit dem Englischen ist ja, daß fast kein Wort so gesprochen wird, wie es geschrieben wird, schon gar nicht in Indien. Dennoch haben die Inder die völlig verquerte und verkehrte Transkription ihrer eigenen Wörter und Namen durch die englischen Kolonialherren geschluckt und diese auch nach der Unabhängigkeit erstmal beibehalten.

A propos Schlucken: Das Essen ist gut, sehr gut sogar. Gewiß, das ist Geschmackssache, und es gibt viele Leute, die das anders sehen; aber für Tarzan zählt die indische Küche zu den besten der Welt, vor allem die "sino-indische" (d.h. nicht-vegetarische) und die nordindische. Die meisten von Euch, die mal nach Nordindien gefahren sind - wo man entgegen weit verbreiteter Meinung keinen Reis ißt, sondern vielmehr Weizenmehlprodukte -, kennen wahrscheinlich den allgegenwärtigen "Chapātī"-Fladen (Wasser und Mehl verrühren, auf einen heißen Stein klatschen, umdrehen, fertig), vielleicht auch den etwas dickeren, in Butterschmalz ("Ghī") gebratenen "Paratha" oder den dünneren, scharf gewürzten "Papad". Aber habt Ihr mal in einem richtig guten Restaurant, etwa dem "Kwality" in Delhi oder dem "Del Monico" in Kalkutta, einen Ballon-Fladen ("Pūrī") oder einen "Nān" aus dem Lehm-Ofen ("Tandūrī") gegessen? Nein, das ist nicht nur etwas für Snobs - einen solchen Besuch kann sich jeder Tramp leisten (vorausgesetzt, er zieht sich nicht so an bzw. aus, daß er vom Türsteher gleich wieder hinaus geworfen bzw. gar nicht erst hinein gelassen wird, und er bestellt keine teuren ausländischen Alkoholika von der Weinkarte dazu, sondern "nur" Tee); die paar Mark Mehrkosten kann man bei der nächsten Übernachtung leicht wieder einsparen. (Wie nennt der Inder eine teure Unterkunft: "Vermögensfresser" :-) Von der südindischen Küche ist Tarzan dagegen weniger begeistert (auch wenn er höflicherweise versucht, sich das nicht allzu sehr anmerken zu lassen): "Palak Panīr" (Spinat mit Rahmkäse, eine Spezialität aller vegetarischen Restaurants, die auf sich halten) hat er schon als Kind nicht gemocht, "Ālū Dum" (Kartoffelauflauf) ist etwas für Dumme, "Dāl" (Linsenbrei) etwas für Daliten (was das ist, erklärt er später), "Samosā" etwas für mittelamerikanische Diktatoren, und "Masālā Dosa" gehört in die Dose - als Hundefutter. (Später, als er Hindī gelernt hat, wird er es für sich in "Masānā Dosa" umbenennen :-) Da ernährt er sich lieber ein paar Tage von Bananen, Kokosnüssen und Tee.

[Palak Panir] [Dal] [Masala Dosa]

Übrigens, für Feinschmecker: Einige der besten Restaurants Indiens befinden sich in Madrās, der Hauptstadt des Südostens; habt also keine Hemmungen, hin zu fahren, auch wenn es in den Reiseführern - wo Ihr es heutzutage meist unter "Chennai" findet - eine eher schlechte Presse hat!

[Exkurs. Mit der Umbenennung von Städten ist das so eine Sache. Dikigoros hat vollstes Verständnis dafür, daß z.B. in Rußland und anderen Nachfolgestaaten der untergegangenen Sowjet-Union die alten Namen, welche die Städte vor der kommunistischen Revolution trugen, wieder eingeführt wurden. (Er hatte sie ohnehin immer schon mitgelernt :-) Er hätte auch vollstes Verständnis dafür, wenn in Indien die alten Namen, welche die Städte vor der islamischen Invasion trugen, wieder eingeführt würden - z.B. in der Ganges-Ebene. Aber das hat man gerade nicht getan - und plant es offenbar auch nicht. Dagegen wurde ausgerechnet die Metropole an der Koromandal-Küste umbenannt. Warum? Dikigoros kann kein Tamil, deshalb weiß er nicht, was "Chennai" bedeutet. (Immerhin weiß er, im Gegensatz zu den meisten Ausländern, wie man es richtig ausspricht, nämlich nicht "Tschénnaj" - denkt an "Náinidsch"! -, sondern Tschänna'í :-) Aber er weiß, daß der Name "Madrās" nichts mit dem islamischen Wort "Medresi" zu tun hat, denn es gehörte ja zum Reich von Wijaynagar, das den muslimischen Eroberungs-Versuchen bis zuletzt erfolgreich widerstand. Was soll also der Unsinn? Andere scheinbare "Umbenennungen" sind in Wahrheit gar keine, sondern nur Folgen einer mißlungenen Rechtschreibreform. (Ja, liebe deutschsprachige Leser, so etwas gibt es nicht nur bei Euch! :-) Bãbaī und Kålkattā sind die bekanntesten Beispiele, auf die Dikigoros gleich noch zurück kommen wird; aber den Vogel abgeschossen haben die Reformer mit einer Stadt, die gewissermaßen gegenüber von Madrās, an der Malābār-Küste liegt, und die bis in die Neuzeit hinein für Südasien das war, was im antiken Mittelmeerraum Marsilia, Ostia, Piraios und Alexandria waren, oder im europäischen Mittelalter Lübeck, Amsterdam, Bristol und Cherbourg, oder in Ostasien Malakka, Batavia, Nãgasaki und Hongkong, nämlich der Umschlaghafen für Waren aller Art. Früher schrieb man ihn auf Lateinisch "Calicut", seit einigen Jahren schreibt man ihn "Kozhikode". Beides ist, mit Verlaub, grober Unfug. Schauen wir uns das Wort einmal genauer an: Der erste Harf (die indischen Schriftsysteme bestehen nicht aus Buchstaben, sondern aus Silbenzeichen) ist ein langes, dumpfes "ka" - das die Engländer "ca" schrieben. Man kann (wie bei "Calcutta" trefflich streiten, ob man es besser als "kā" wiedergeben sollte oder als "kå" aber alles andere macht keinen Sinn. Den zweiten Harf gibt es im Hindī nicht; er schreibt sich als "geschlossenes l" (der Harf für das "normale l" ist unten offen); im Lehrbuch steht, man solle ihn "mit gefalteter Zunge" sprechen - wie immer das gehen mag; jedenfalls hört er sich weder wie ein "l" noch wie ein "zh" an, eher noch wie ein verunglücktes spanisches "r", also zum "d" hin (einige meinen auch, wie "ld"); aber da er optisch wie gesagt dem "l" ähnelt, plädiert Dikigoros dafür, bei der Transkription im Zweifel dieses beizubehalten. Über das folgende kurze "i" brauchen wir nicht zu streiten - es ist ja unverändert. Danach kommt ein kurzes, nicht ganz so dumpfes "kka", das man auch als "kkå" umschreiben könnte (dann sollte man aber den ersten Harf zur Unterscheidung "kā" schreiben), oder einfach "kka". (Warum das zweite "k" in allen gängigen Transkriptionen geschlabbert wird, entzieht sich Dikigoros' Kenntnis.) Der letzte Harf hat einen stummen Endvokal; im Hindī wäre das ein "a", im Malayālam ein "e" - beide sollte man tunlichst weglassen, da sie den Ausländer nur zu einer falschen Aussprache verführen können. Und der Dentallaut am Wortende wird zwar "d" geschrieben, aber wie Ihr, liebe deutsche Leser, am besten wißt, eher zum "t" hin gesprochen - es gibt also keinen zwingenden Grund, ihn anders zu transkribieren. Fazit: Man sollte jene - heute etwas ins Hintertreffen geratene - Stadt entweder "Kālikkåt" oder "Kålikkat" schreiben - alles andere sind englische Flausen oder indische Schildbürgerstreiche. Exkurs Ende.]

Leider hat man bei der fürchterlichen Hitze, die den ganzen Tag und die halbe Nacht herrscht, oft kaum Appetit - kein Wunder, daß so viele Leute halb verhungert aussehen, Touristen übrigens ebenso wie Einheimische. Und die Fahrpläne kann man wie gesagt vergessen. Doch Tarzan gewöhnt sich überraschend schnell an die Mentalität des "kommste heut' nicht kommste morgen." Hier muß man schon froh sein, überhaupt anzukommen, nicht im Straßengraben zu landen oder bei einem der vielen Eisenbahnunfälle und Flugzeugabstürze umzukommen. Und die Sehenswürdigkeiten sind sooo toll nun auch wieder nicht: Eigentlich hat sich Tarzan nur häßliche Großstädte ausgesucht, mit viel Dreck, Armut und Elend, in die all die "Touristen-Attraktionen" eigentlich gar nicht so recht passen wollen. Aber etwas anderes registriert Tarzan sehr aufmerksam - obwohl er damals noch längst nicht die ganze Welt bereist hat und es deshalb noch gar nicht voll zu schätzen wissen kann: Die Inder sind gastfreundlich, sie haben nichts gegen ausländische Touristen, im Gegenteil, sie freuen sich über ihren Besuch, auch wenn sie nicht viel Geld im Lande lassen - es ist nicht diese falsche Freundlichkeit der Hoteliers und Kellner in den europäischen Sommerfrischen, die nur auf Trinkgeld aus sind und die Touristen insgeheim zum Teufel wünschen. (Wo gibt es das sonst auf der Welt, daß bei der staatlichen Eisenbahn immer ein bestimmtes Kontingent Fahrkarten für Ausländer reserviert ist, ohne daß das Wahlvolk murrt und auf Abschaffung dieses Privilegs drängt? Nein, nicht nur für Inhaber eines Indrail-Passes, sondern für alle! Und daß eine Ausländerin sich überall in der Extra-Schlange anstellen kann - sogar als erste, auch wenn sie als letzte kommt -, die eigentlich für indische Mütter gedacht ist? Dikigoros setzt das in Klammern, denn inzwischen hat die Emanzipation auch Indien erreicht, und die Sonderschalter für Frauen sind fast überall abgeschafft. Dafür dürfen die Inderinnen jetzt gleichberechtigt als Arbeiterinnen im Straßenbau Steine schleppen und bei der Müllabfuhr den Dreck kehren - welch ein schöner Fortschritt!) Es ist auch nicht die Art von Gastfreundlichkeit, wie er sie in lateinamerikanischen Ländern erlebt hat, wo die jungen Mädchen halt hinter großen, blonden Männern her sind und wo im übrigen "der Yankee" oder "der Gringo" verhaßt ist und "der Deutsche" nur deshalb willkommen, weil auch sein Land zweimal im 20. Jahrhundert von den Amerikanern überfallen und besiegt wurde.

Gewiß, auch in Indien ist es ein Plus, daß die meisten Einheimischen noch ungute Erinnerungen an "die Briten" haben. (Diese Erinnerung wird gepflegt; an allen Orten größerer Massaker stehen Denkmäler - wo steht dagegen in Deutschland auch nur ein einziges Mahnmal an die britischen Terror-Bombardements im Zweiten Weltkrieg zum Gedenken an die dabei umgekommenen Zivilisten?) Und daß auch die Briten zweimal im 20. Jahrhundert über die Deutschen her gefallen sind. [Nein, liebe Leser, vergeßt den Blödsinn, der in Euren umerzogenen und umgeschriebenen Geschichts- und Märchen-Büchern steht: Nicht das Deutsche Reich hat die beiden Weltkriege begonnen, sondern Großbritannien hat ihm jeweils unter fadenscheinigem Vorwand den Krieg erklärt und damit lokale Auseinandersetzungen, die in ein paar Wochen mit relativ geringen Opfern beendet gewesen wären, zu langjährigen Weltkriegen gemacht, die 'zig Millionen Menschenleben kosteten - die Inder wissen so etwas besser als die meisten jungen Deutschen! Erst hinterher wurden zwei Popanze namens Wilhelm und Adolf aufgebaut, um ihnen die Alleinschuld in die Stiefel zu schieben, übrigens nicht nur von den Briten, sondern auch von den Deutschen selber, damit sie ihre eigenen Hände in Unschuld waschen konnten. Davon wissen die meisten Inder freilich nichts; für sie war der vorletzte deutsche Reichskanzler der Verbündete ihres Nationalhelden Subhas Chandra Bose, dem er beim Kampf um ein freies Indien ("Azad Hind") gegen die Briten helfen wollte, Freiheitskämpfer ausbildete und sogar schon Briefmarken für sie gedruckt hatte.]

[Popanz Wilhelm] [Popanz Adolf] [indischer Freiheitskämpfer]
[Sondermarke zu 1 Anna (+ 1 Anna Zuschlag)]

Aber das ist es nicht allein - die Inder haben eine natürliche Aufgeschlossenheit für alles Fremde, und sie sind entsprechend neugierig. (Viele ausländische Touristen empfinden das als "Aufdringlichkeit" oder gar "Belästigung" - aber die sollten sich mal fragen, wozu sie überhaupt in fremde Länder reisen? Etwa weil sie nicht neugierig sind? Oder weil sie die Einheimischen nicht belästigen wollen mit ihren Wünschen, daß alles wie zuhause sein soll, von den Hotels und Restaurants bis zu den Bars und Puffs? Sollen sie doch im Lande bleiben und sich redlich ernähren, von Knackwurst mit Senf, Sauerkraut und Kartoffel-Knödeln!) Wer diese Neugier befriedigt, darf immer mit ihrer Sympathie rechnen.

Und noch etwas an Indien fasziniert Tarzan, nämlich das, was er - ganz ungeplant - zwischen seinen eigentlichen Reisezielen sieht. Auf den ersten Blick könnte man auch das unter "Dreck, Armut und Elend" zusammen fassen; aber außerhalb der Metropolen ist es anders: Es ist eine natürliche Art von Dreck - nicht der Smog der Großstädte mit ihren Abgasen. Und es ist eine natürlich Art von Armut - das ganze Dorf ist arm, nicht nur die, die neben den Palästen auf der Straße schlafen. (Vielleicht wird die Armut daher nicht als so belastend empfunden wie im Westen, wo der Neid und die Mißgunst gegenüber dem reicheren Nachbarn viel schlimmer sind als die eigene Armut an sich?) Und von "Elend" kann man eigentlich gar nicht reden: Die Menschen sind zufrieden, nicht hektisch und mißgelaunt wie die Europäer und Nordamerikaner (denen es, "objektiv" gesehen, viel besser geht), und das nicht mal aus dumpfer Ergebenheit in ihr Schicksal, wie die Araber mit ihrem "Kismet", sondern in der Überzeugung, es im nächsten Leben, nach der Wiedergeburt, besser zu haben, sofern sie in diesem Leben nur genügend gute Werke tun. (Daher fehlt wohl auch die Mißgunst: Reichtum - die ja meist durch Geburt ererbt, nicht durch Arbeit erworben ist - wird als verdiente Belohnung für gute Taten in früheren Leben angesehen und gegönnt; es gibt keinen Grund, jemanden darob zu beneiden, sondern nur, ihm mit guten Taten nachzueifern.) Es gibt Leute, die solche religiösen Lehren "Opium fürs Volk" nennen und versuchen, die Menschen dagegen aufzuhetzen. Zum Beispiel in Bengalen, wo die Kommunisten regieren. Die wollen, daß alle Menschen gleich sind (bis auf die Parteibonzen - die sollen etwas gleicher sein, wie der in British India, genauer gesagt in Burma geborene George Orwell es in "Tierfarm" so schön ausgedrückt hat). Aber all die Hetze hat nicht dazu geführt, daß es allen Menschen dort jetzt gleich gut geht, sondern daß es (fast) allen gleich schlecht geht, jedenfalls wesentlich schlechter als vor dem Krieg, als noch die bösen, kapitalistischen Engländer als Kolonialherren das Sagen hatten.

* * * * *

Exkurs. An Bengalen im allgemeinen und an seiner Hauptstadt scheiden sich die Meinungen über Indien in besonderem Maße. Günter Grass hat Dikigoros schon kurz erwähnt; aber der hatte reichlich Vorläufer[innen], die nicht besser waren: In den 1950er Jahren fuhr ein junger Schweizer Nietzsche-Fan mit seinem VW-Käfer ins Land der "Vielzuvielen" (dabei waren es damals nicht mal halb so viele wie heute :-), der "unförmigen Fettbäuche und ausgetrockneten Mumien". Hinterher schrieb er ein Buch, das durch den Bertelsmann-Lesering Jahre lang weite Verbreitung fand. Er gab ihm den Titel: "Indien mit und ohne Wunder"; und als das größte Wunder erschien ihm, daß auf so schlechten Straßen und bei so unfähigen Mechanikern überhaupt noch Autos fuhren. Ferner fiel ihm auf, "daß Inder nicht kochen können"; er schrieb von "der Tortur der Köche" und "dem kulinarischen Sadismus" im Lande; besonders beklagte er, daß eine Flasche deutsches Bier in Rourkela (dessen Besuch damals kein deutscher Indien-Reisender auslassen durfte, hatte das Entwicklungshilfe-Ministerium der BRD dort doch ein Stahlwerk gebaut) umgerechnet 3,50 DM (in den 1950er Jahren viel Geld für ein Getränk, etwa wie heute 15.- Teuro) kostete. In den 1960er Jahren fuhr eine vernagelte alte Kommunistin, die durch Heirat den Namen eines großen deutschen Olympioniken erworben hatte und 1945 aus ihrem Moskauer Exil in die DDR "zurück gekehrt" war, nach Indien und sang das hohe Lied der bengalischen "Naxaliten" (die als Kommunisten galten - und es vielleicht in gewisser Weise auch waren); sie gab dem Buch, das sie anschließend schrieb, den gleichen Titel wie Dikigoros diesem seinem Reisebericht. (Er hat ihn indes unabhängig von Inge v. Wangenheim gefunden und ohne Rücksicht auf das Senioritäts-Prinzip stehen lassen, schon um ein Gegengewicht zu schaffen.) In den 1970er Jahren fuhr eine mittelalte Tschechin nach Indien, und obwohl sie sich als "Freundin" des Landes ausgab, folgte sie doch den Spuren der Wangenheim, menschenverachtend, ohne jedes Einfühlungs-Vermögen, dafür mit umso mehr geheuchelter "Betroffenheit" ob der armen Menschen, die noch nicht der Segnungen des Kommunismus teilhaftig geworden waren. In ihrem Buch "Indien im Monsun" liest man Sätze wie: "Die Inder sind in ihrem Inneren ein trauriges Volk. (...) Die ganze Schuld daran hat die Religion. (...) Ich sah nie einen Inder so richtig von ganzem Herzen lachen. Wenn Inder lachen, dann wirkt es aufgesetzt oder gezwungen. (...) Lächeln verdeckt Verlegenheit. (...) Es gibt auch ein Lächeln aus Feigheit oder um Komplexe zu überspielen. Aber hinter all dem Lachen und Lächeln stehen die großen, tiefen und dunklen Augen des indischen Menschen, ernst und von Traurigkeit überschattet. (...) Das indische Volk ist verschlossen, wenn es auch oberflächlich betrachtet nicht erkennbar ist. Die Gastfreundschaft ist groß, aber sie spielt sich nur vor der Schwelle des privaten Bereichs ab. Für jeden Fremden ist dieser Bereich verschlossen. Der Gast ist traditionell heilig, ähnlich verehrt wie eine Gottheit. Er wird herzlich, sogar überschwenglich begrüßt, bewirtet und umsorgt. Doch die Schutzmauer, die den persönlichen Bereich des Gastgebers umgibt, wird er nie durchbrechen können."

Darf Dikigoros massiv dagegen halten, gegen all diesen hirnverbrannten Unsinn? Nein, das ist nicht nur ein bißchen falsch oder übertrieben, sondern das genaue Gegenteil von alledem, was er hier zitiert hat, ist die Wahrheit: Was er selber von der indischen Küche hält, hatte er ja schon geschrieben; Peter Schmid machte nur einen Fehler: Er aß ausschließlich in Restaurants für westliche Ausländer; und dort servierte man ihm - natürlich - britische Küche (das ergibt sich aus seiner Beschreibung ganz eindeutig); und was von der zu halten ist... na ja. "Unförmige Fettbäuche"? Ja, davon gab es damals in Deutschland noch nicht so viele - selbst der von ihm so gelobte Ludwig Erhard (von dem Schmid nicht glaubte, daß er auch nur einen Pfennig in Indien investiert hätte) war nach dem Krieg vorübergehend fast schlank zu nennen -, aber wenn er in die heutige BRD gereist wäre... was hätte er schreiben müssen! Und was Vera Vučkovački anbelangt: Der ist Indien in der Tat verschlossen geblieben - aber daran dürften weniger die Inder schuld sein als sie selber. Ja, die Inder sind schon als Kinder ernst, und das alberne Gekichere und Gegackere, das man im Westen bisweilen auch als "Lachen" bezeichnet, wird man dort kaum zu hören bekommen - wie tragisch! Aber die Inder sind nicht traurig, sie sind auch nicht verlegen oder feige, geschweige denn oberflächlich (wie die Ost- und vor allem die Südostasiaten - die sich auch als "Erwachsene" oft noch reichlich kindisch benehmen - es häufig sind), und sie haben weniger Komplexe als der durchschnittliche Westler. Und wenn sie etwas überhaupt nicht sind, dann ist das "verschlossen". Indien ist das einzige Land Asiens - und die Inder sind das einzige Volk Asiens - das sich uns Westlern nicht verschließt, wenn wir uns ihm nicht selber verschließen, das keine Schutzmauern gegenüber dem Angehörigen der anderen Rasse, der anderen Religion, der anderen Sprache, der anderen Kultur aufbaut. Das gilt für alle Bevölkerungs- und Gesellschafts-Schichten. Dikigoros hat mit armen jungen Nationalisten und armen alten Kommunisten an der Bretterbude Tee getrunken; er ist mit Anglo-Inderinnen in teure Restaurants essen gegangen; er hat mit den Priestern der großen Heiligtümer theologische Diskussionen geführt und mit Markthändlern um ein paar Pfennige am Preis für Kokosnüsse gefeilscht. Er hat Großstadtslums und Provinzdörfer am Straßenrand gesehen, wo spindeldürre Kinder noch mit zehn oder mehr Jahren splitternackt herum liefen und sich mit Kühen, Schweinen und Hunden um Abfälle balgten; und er hat bei Gastgebern der reichsten Oberkasten die Abende allein mit den jungen Töchtern verbringen dürfen - niemand wäre auf die Idee gekommen, daß er das "ausnutzen" könnte. Er hat aufwendige Hochzeiten, Beerdigungen und andere Feste mitgemacht - meist hat man ihn spontan eingeladen, wenn er einfach nur zufällig vorbei kam -, und er hat Menschen unbeachtet in der Gosse verrecken sehen. Niemand hat je so etwas wie eine "Schutzmauer" vor ihm errichtet. Zugegeben: Eine Erfahrung fehlt ihm: Er ist nie, wie der Berufs-Fotograf Peter Schmid, mit vier Fotoapparaten und einer Filmkamera nach Indien gereist und deshalb nie auf die indische Schutzzollmauer gestoßen; wer bei der Einreise - und noch einmal bei der Ausreise - die Erfahrungen gemacht hat, die Schmid da ausführlich schildert, der muß Indien hassen, oder zumindest seine Zöllner.

Dagegen ist Dikigoros überall, wo er sich außerhalb der gängigen Touristen-Zentren bewegte (und das war besonders auf seinen späteren Reisen die Regel), auf eine selbstlose Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft gestoßen, wie sie auf der Welt einmalig ist (und das schreibt er, nachdem er fast die ganze Welt kennen gelernt hat). Selbstlos, das meint ganz konkret: ohne Erwartung einer Gegenleistung. Das Indische hat für diesen Begriff kein eigenes Wort; er ist dem indischen Denken fremd, denn die Gegenleistung erwarten anständige Inder (die Ihr in Hotels, Restaurants und anderen Einrichtungen für ausländische Touristen naturgemäß seltener antreffen werdet als anderswo im Lande) nicht in diesem Leben, sondern im nächsten; und die ganze "Schuld" daran hat in der Tat die Religion, die dem Gläubigen eine Belohnung nicht im "Himmel" oder in irgend einem schimärenhaften "Paradies" verspricht, wohin seine Seele später entfleuchen soll, sondern ganz konkret auf Erden, in seinem nächsten körperlichen Leben. Schon deshalb ist der Hinduismus, insbesondere der Glaube an Sãsār, den Kreislauf der Geburten (der im Westen oft ungenau mit "Seelenwanderung" übersetzt wird) allen anderen Religionen in der Praxis überlegen. Hinzu kommt, daß er im Licht der modernen Genforschung auch der einzige wissenschaftlich haltbare Glaube dieser Art ist; denn theoretisch sind, wie wir heute wissen, Wiedergeburten in der exakt gleichen genetischen Zusammensetzung denkbar - ganz im Gegensatz zur "Wiederauferstehung" von Leichen, zur Auffahrt entkörperlichter "Seelen" in die Wolken oder ähnlichen Spinnereien, die gewisse andere Religionen verbreiten. (Und, da er gerade erst wieder eine Leser-Mail zu diesem Thema bekommen hat: So gesehen macht sogar der Glaube an die Wiedergeburt eines Menschen in Tiergestalt und umgekehrt einen Sinn, denn die Tiere sind genetisch auch nicht viel anders zusammen gesetzt als wir; ein paar Prozent anderer Bausteine, und schon lassen sich die prächtigsten Mutationen erzielen - fragt die Gen-Ingenieure, liebe jüngere Leser; Ihr werdet das vielleicht noch miterleben!) Exkurs Ende.

* * * * *

Zurück zu Tarzans erster Indien-Reise. Vergeblich sucht auch er in der Hauptstadt Bengalens nach dem Ganges. Aber Kalkutta liegt gar nicht am Ganges, und zwar nicht nur nicht so, wie Wien nicht an der Donau und Leipzig nicht an der Pleiße liegt, weil die Stadtplaner von Wien die Donau umgeleitet und die von Leipzig die Pleiße unter die Erde verbannt haben, sondern Kalkutta lag nie am Ganges, sondern immer am Hugli. Tarzan lernt, daß das wohl ein Irrtum war mit dem Schlagertext, und nicht nur einer: Wer kennt schon noch Vico Torriani und seine ollen Kamellen? Niemand. Aber den Bestseller "Die Stadt der Freude" des Franzosen (die Franzosen stellen damals die meisten Indien-Reisenden, noch vor den Amerikanern, Briten und Deutschen, vor allem im Süden, wo ihre ehemalige Kolonie Pondicherry liegt, die kaum einer von ihnen ausläßt) Dominique Lapierre, den hat jeder gelesen, der sich auch nur halbwegs für Indien interessiert. (Über 5 Millionen mal wird er ihn verkaufen, und als er verfilmt wird, werden nochmal soviele in die Kinos strömen, von den Fernseh-Zuschauern und Video-Ausleihern ganz zu schweigen.) Kein Wunder, denn er ist spannend geschrieben und paßt so schön in die gängigen Klischees. Nur mit den Fakten vor Ort hat er wenig zu tun: "Anandnagar [Freudenstadt oder Glücksburg]" ist kein Slum, sondern ein Stadtteil von Kalkutta; gewiß, da wohnen eher die ärmeren als die reicheren Bürger von Kalkutta; aber das, was Lapierre da als besonders Mitleid erregend schildert, würde (mit Ausnahme der Unwetter-Katastrofe, die indes fast jeden in Indien treffen kann, egal ob arm oder reich) bei der überwiegenden Mehrheit der Inder eher Neid erregen, wenn ihnen dieses Gefühl denn so geläufig wäre wie z.B. den Deutschen. Das zeigt, daß Lapierre ganz in westlicher Sichtweise verhaftet geblieben ist und das wahre Leben in Indien, das Leben in natürlicher Armut, nie richtig kennen gelernt hat. Wahrscheinlich war er nie in Anandnagar, geschweige denn in einem echten Slum. Wahrscheinlich kennt er auch die anderen Orte in Indien, über die er geschrieben hat, nicht richtig, denn er zählt zu denjenigen Indien-Reisenden, die zwar oft dorthin fahren, aber mangels Sprachkenntnissen blind, taub und stumm bleiben wie die sprichwörtlichen drei Äffchen, die nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Schade, denn er hatte das Zeug, einer der großen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts zu werden, wenn er nicht irgendwann mal festgestellt hätte, daß man sein Geld heutzutage leichter mit Reiseromanen verdienen kann als mit Reiseberichten (aber das ist eine andere Geschichte). Er kann gut damit leben; aber der geneigte Leser sollte wissen, daß man aus seinen Büchern nichts über Indien erfahren kann - jedenfalls nicht die Wahrheit. (Ebenso wenig wie aus den Spendenaufrufen der albanischen Charlatanin, die sich "Mutter Teresa" nannte - obwohl sie gar keine Kinder und damit in Indien null Ansehen hatte, auch wenn sie das nie wahr haben wollte -, oder aus dem Haufen Scheiße, den der kaschubische Schmierfink, pardon, Literaturnobelpreisträger Günter Grass über "den Haufen Scheiße" schrieb, als den er in seiner westlichen Arroganz und Ignoranz Indien im allgemeinen und Kalkutta im besonderen bezeichnete, nachdem er ein paar Wochen im Luxushotel vor Ort residiert hatte, um sein "soziales Engagement" zu demonstrieren.)

Tarzan will nicht zum Affen auf Reisen werden: Er lernt Hindi - und ab sofort erlaubt er sich, indische Wörter, vor allem Personen-, Städte- und Ländernamen, so zu schreiben, wie sie in "Devanagari" geschrieben werden, damit auch Ihr, liebe Leser, endlich mal erfahrt, wie sie richtig ausgesprochen werden, also Dewnagrī und Shirorekhā, Hindī und Urdū, Hindū und Muslim (nicht "Moslem"), Iskandar (nicht "Alexander" - was soll da die arabische Vorsilbe "Al"?) und Gāndhī, Bosh und Nehrū, Islām und Masjid (nicht "Moschee"), Mullā (ohne Auslaut-Aspirierung!) und Muģal (nicht "Moghul" - ein "gh" wäre weich und aspiriert, das "ģ" hier trägt dagegen einen Unterpunkt, d.h. es wird als hartes "ch" gesprochen, fast wie im deutschen Städtchen "Much" - denn auch das "u" ist kurz; noch genauer - für diejenigen, die Arabisch oder Neu-Griechisch können -: es spricht sich wie ein "ģain" bzw. wie ein Gamma), Stāmbul und Tährān, Kābul, Afģānistān (wiederum mit hartem, unterpunktetem "ģ") und Tālibän, Pākistān und Lāhaur (das "au" spricht sich im Hindī etwa wie ein dunkles, offenes "o" im Deutschen; dagegen ist das "o" im Hindī immer geschlossen; anders nur, wenn Ihr über Bãbaī anreist: im Marāthī sprechen sich die Diftonge noch wie im Sanskrit - und im Deutschen -, also "au" wie "a-u" und "ai" wie "a-i" - dafür spricht sich dort das "e" wie ein "äj" und das "o" wie ein "ou"; kompliziert? Ach wo - was soll denn ein Ausländer sagen, der über Bayern oder Sachsen nach Deutschland einreist und "nur" Hochdeutsch gelernt hat? :-), Panjāb und Amrītsar, Dillī und Fatähpur (Stadt des Sieges, Siegburg) Sikrī, Āgrā und Tāj Mähäl, Khajurāho, Jaypur (ebenfalls Siegburg), und Udaypur (Stadt des Aufschwungs :-), Warānsī und Mathurā, Gujrāt und Gowa, Bambai oder Bãbaī (aber jedenfalls nicht "Mumbai" oder ähnlicher Mumpitz!) und Madrās, Kānchipuram und Māhmallapuram, Kalkattā (so schreibt und spricht es sich jedenfalls auf Hindī, und das ist korrekt, denn bei der Namensgebung hat die Göttin Kālī Patin gestanden, die dort ein Ghāţ [Treppenufer] hatte - oder einen Ghāt [Hinterhalt] , wie böse Zungen meinen, die den Namen der Stadt auch eher vom "kaliyug", dem Zeitalter der Verdorbenheit, ableiten wollen -; die Bengalen sprechen das erste "a" etwas zum "o" hin, aber nicht so lang wie das "au", sondern mittelkurz; Skandinavier würden es vielleicht als "Kålkattā transkribieren) und Ānandnagar, Dārjīling und Himālay [Schneegebirge], Barmā (nicht "Burma" oder gar "Birma") und Syām (wer will da aus dem kurzen Zwischenlaut "y[a]" ein langes "ī" machen und es auch noch betonen, als sei es eine Silbe?) Und, um auch das gleich vorweg zu nehmen: Der Deutschen einstmals liebstes Zeichen heißt nicht "svastika", sondern "swastik" und ist nicht weiblichen, sondern männlichen Geschlechts. [Lassen wir die "Feinheiten" weg, wie z.B. die Schreibung von "Qismät" statt "Kismet" oder das überpunktete "r[i]" in Sanskrit, denn sie ändern nichts an der Aussprache.] Tarzan war zwar immer ein Anhänger der von Melone entwickelten These, daß man ein Reiseziel möglichst unbefangen, also unvorbereitet, auf sich einwirken lassen sollte - hinterher kann man immer noch nachlesen, was einem nicht gleich vor Ort verständlich war. Er glaubt auch heute noch, daß das auf viele, vielleicht sogar auf die meisten Länder der Welt zutreffen mag - aber auf eines nicht: auf Indien. Also lernt er nicht nur Hindī, sondern beschäftigt sich auch mit der Kultur und Geschichte des Landes - des Kontinents.

Das geht nicht von heute auf morgen, und darüber vergehen die Jahre, in denen man noch ohne Gefahr über Land nach Indien reisen konnte wie einst Melone, und in gewisser Weise beneidet er seinen Freund um diese unwiederbringliche Erfahrung. Aber dann tröstet sich Dikigoros - so wollen wir Tarzan fortan nennen - mit den Worten eines anderen Reisenden, der geschrieben hat: "Studieren und verstehen lernen geht nicht ohne Reisen... Immer wieder müssen wir das erworbene theoretische Wissen mit der Realität in Verbindung bringen, es gibt bestimmte Erfahrungswerte, die man sich aus Büchern nicht holen kann. Andererseits, ohne Hintergrundkenntnisse und - wenn möglich - Sprachkenntnisse bleibt man nur Außenseiter, man nimmt wahr, versteht aber nicht, was passiert... Wichtig sind aber nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Kontakte, Gespräche mit Kulturträgern..." Dikigoros hat erkannt, daß Englisch-Kenntnisse dazu in Indien nicht ausreichen. Gewiß, auch Melone bemüht sich, seine Wahrnehmungen mit theoretischem Wissen aufzustocken, aber da er mit Fremdsprachen auf Kriegsfuß steht (man kann nicht sagen, daß er zu faul wäre, Hindī zu lernen, aber er weiß, daß er das nicht schaffen würde, also versucht er es erst gar nicht), beschränkt er sich auf Wissen aus zweiter Hand - Zeitungsartikel und Bücher in Übersetzung, ab und zu mal eine Fernseh-Reportage von Leuten, die selber nur mit Englisch durch die Lande gereist sind...

Exkurs - dem bitte auch einmal diejenigen Leser folgen wollen, die sich sonst nicht für alte Sprachen und gelehrte Theorien interessieren. Die bequemste Ausrede - nach der leichtfertigen Annahme, alle Inder müßten Englisch sprechen können -, kein Hindī zu erlernen, ist, gerade unter so genannten "Gebildeten", daß das ja gar nicht die "echte" indische Sprache sei: Als die müsse doch wohl das Sanskrit gelten, das "reine" indogermanische Idiom, das nur durch allerlei andere Sprachen, die von diversen Einwanderern und Eroberern mitgebracht wurden, bastardisiert worden sei zum Hindustanī, einer Mischung aus Persisch, Türkisch, Arabisch usw... Gewiß, Hindī ist eine Mischsprache - wobei mittlerweile übrigens nicht (mehr) die drei vorgenannten Sprachen, sondern das Englische den größten Anteil an Fremdwörtern ausmacht. Aber Dikigoros wird ja nie müde zu schreiben, daß es auf einzelne Vokabeln nicht ankommt, sondern darauf, ob sie der Morfologie und der Syntax, pardon, dem Wort- und Satzbau einer bestehenden Sprache einverleibt werden oder ihn ändern. Ist der Satzbau des Hindī noch "indogermanisch"? Nein, sicher nicht. Aber war und ist denn der Satzbau des Sanskrit "indogermanisch"? Was ist "Indogermanisch"? Ein Konstrukt, das sich irgendwelche Professoren am Schreibtisch aus den Fingern gesogen haben, indem sie Sanskrit, Altgriechisch, Altlitauisch (ja, liebe Leser, ob Ihr es glaubt oder nicht, gerade letzteres soll das "missing link" zwischen Indo- und Germanisch sein!) und noch ein paar Brocken anderer alter Sprachen mittels einiger krauser Theorien, pardon "Regeln über Sprachentwicklung" zusammen gesetzt haben, um sich wichtig zu tun. Dikigoros hat auch etwas Sanskrit gelernt, und er beherrscht z.B. Altsächsisch ("Altenglisch") recht gut; er kann Euch nach bestem Wissen und Gewissen versichern, daß das, was die Herren Sprach-"Wissenschaftler" als "Indogermanisch" bezeichnen, ein Fantasie-Produkt ist, das mit der Sprache, die früher mal in unseren Breitengraden (oder auch in Indien) gesprochen wurde, allenfalls ganz geringe Ähnlichkeit haben kann. Die vermeintliche Verwandtschaft zwischen den so genannten "indogermanischen" Sprachen beschränkt sich auf ein paar Vokabeln, aus denen allein man wie gesagt gar nichts schließen kann. Schaut Euch das eingangs zitierte Gebet zu Agni an: Seht Ihr da auch nur die geringste Gemeinsamkeit mit einer germanischen Sprache? Dikigoros auch nicht. Fazit: Hindī ist vom Germanischen zwar weit, aber auch nicht weiter entfernt als Sanskrit, jedenfalls nicht schwieriger zu erlernen - im Gegenteil! Also gibt es auch keine Ausrede, dies nicht zu tun. Die Bereicherung, die man durch seine Kenntnis auf Indien-Reisen erfährt, ist - wie Kipling sagen würde - volle 60 Sekunden einer jeden dafür aufgewendeten Minute Zeit wert. Und selbst wenn Ihr nicht gleich die ganze Sprache erlernen wollt, schaut Euch wenigstens mal die Dewnagrī-Zeichen an; Hindī wird - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - genau so gesprochen, wie es geschrieben wird; denn anders als andere Schriftsysteme hat die Dewnagrī genügend Zeichen, um jeden Laut unmißverständlich darzustellen. Wenn Ihr Euch also diese Zeichen eingeprägt habt, seid Ihr vielleicht noch taub, aber nicht mehr blind, und vielleicht noch ein wenig sprachgestört, aber nicht mehr stumm. Exkurs Ende.

[Sanskrit-Zeichen] [Hindi-Zeichen]
"Harfen" [Silbenzeichen] der Dewnagrī: links Sanskrit, rechts Hindī (Kurzvokalzeichen, Ziffern und Kurzkonsonanten sind gleich)

Dikigoros' Hindī-Lehrer ist anfangs gar nicht von ihm erbaut: Kommt da so ein hergelaufener Jurist an und stellt ständig dumme Fragen, die den Unterricht aufhalten, will immer alles ganz genau wissen, auch wenn es die anderen gar nicht interessiert - statt froh zu sein, daß er als "nur"-Gasthörer überhaupt geduldet wird... Aber er merkt sehr schnell, daß er hier keinen jener jungen, dummen, pardon "echten" Studenten vor sich hat, die kaum ihre eigene Muttersprache, das Deutsche, ordentlich beherrschen, und die auch nur deshalb ein paar Brocken Hindī aufschnappen wollen, um auf ihrem nächsten Drogentrip nach Indien den Stoff um ein paar Rupyen herunter handeln zu können, sondern einen erwachsenen Mann, der die Welt gesehen hat, auch schon Teile Indiens, soweit das eben ohne Sprachkenntnisse möglich ist. (Die Sprachen fast aller anderen von ihm bereisten Länder hat Dikigoros zuvor erlernt, deshalb fällt ihm auch Hindī verblüffend leicht - es ist, wie so vieles im Leben, Übungssache.) Und Dikigoros merkt ebenso schnell, daß er keinen alten, vertrottelten Lektor vor sich hat, sondern einen großen Gelehrten, einen der letzten der Vorkriegsgeneration aus dem alten Lāhaur, der den furchtbaren Bürgerkrieg von 1947 überlebt hat, der die Panjābis und Bengalen 10 Millionen Ermordete oder Vertriebene kostete (also etwa so viele wie die Deutschen die Vertreibungen nach 1945), und der es an Wissen und Weisheit leicht mit jedem deutschen Professor für Indologie und Sanskritologie aufnehmen kann. Dennoch bleibt er seiner Gewohnheit treu, alles zu hinterfragen: Sein Guru hat auf der Schule als erste und zweite Fremdsprache Sanskrit und Altpersisch gelernt (so wie man zu Dikigoros' Schulzeit an deutschen Gymnasien noch Lateinisch und Altgriechisch gelernt hat, und erst danach die Sprachen der alliierten Besatzer - Englisch, Französisch und/oder Russisch), erst als dritte Hindustani (den Unterschied zwischen - dem mit arabischen Lettern geschriebenen - Urdū und - dem in Dewnagrī geschriebenen - Hindī machte man damals noch nicht), als vierte Englisch, und als fünfte schließlich Deutsch (also nicht mal halb so viele wie Dikigoros :-). Auch wenn der Guru sich letztlich nicht ganz ebenbürtig fühlt (was lächerlich ist - aber er ist kein Brāhman, und er kann nicht aus seiner indischen Haut heraus), fühlen sie sich doch irgendwie geistesverwandt, und allmählich meinen sie es nicht mehr ironisch, sondern ehrlich, wenn sie einander mit "Sāhib" [oder richtiger "Sāhäb"] anreden. Am Ende erzählt der Guru Dikigoros mehr, als der ihn zu fragen wagt, von sich aus, nicht nur über die Sprache, sondern auch über das indische Leben im allgemeinen und sein eigenes im besonderen.

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Eines Tages ist es dann so weit: Dikigoros fühlt sich fit, wieder nach Indien zu reisen - diesmal als Sehender, Hörender und Verstehender - und Melone hängt sich dran. Nicht, daß sie nun das ideale Reisepaar wären - im Gegenteil: Melone ist im Laufe der Jahre zum Hypochonder geworden, kann nicht schlafen, wenn nur das geringste bißchen Licht oder Krach ins Zimmer dringt: Dikigoros stört das dagegen überhaupt nicht: wenn er rechtschaffen müde ist, schlummert er selbst bei strahlendem Sonnenschein und ohrenbetäubendem Lärm felsenfest - so ein dickes Fell braucht man in Indien auch. Und noch schlimmer ist das mit dem Essen: Dikigoros betrachtet es als einen besonders wichtigen Teil seiner Reisen, immer ins beste Restaurant am Ort zu gehen. Das muß nicht zugleich das teuerste sein (er hat einen scharfen Blick für diesen kleinen, aber feinen Unterschied entwickelt, den er ungeniert bis in die Küchen und Kochtöpfe schweifen läßt - in Asien stört das niemanden, und in Europa und Amerika auch nur solche Köche, die etwas zu verbergen haben), aber in der Regel zählt es halt auch nicht zu den billigsten. Er ist zwar sparsam, aber nicht geizig, d.h. er ist bereit, Geld auszugeben, versucht nur, einen möglichst hohen Gegenwert dafür zu bekommen. Melone dagegen erwartet in einem Land der Dritten Welt mit schwacher Währung, daß er alles gut und billig zugleich bekommt - vor allem billig. So ißt er denn bevorzugt in den letzten Spelunken und mäkelt dann am Essen herum, wenn ab und zu etwas Schmutz oder gar ein paar kleinere Tierchen darin auftauchen. So gehen sie meist zweimal essen - wobei der eine dem anderen jeweils bei einem Tee zuschaut -; das ist zwar interessant, aber zeitraubend. Und Dikigoros weiß ja, daß man ein Land am besten kennen lernt, wenn man alleine reist (schon weil man nicht ständig mit einem Landsmann deutsch sprechen kann, sondern gezwungen ist, sich mit den Einheimischen in ihrer Sprache auseinander zu setzen) - was man anders als in anderen Ländern in Indien immer noch ohne große Gefahr tun kann (es sei denn, frau wagte sich alleine in überwiegend von Muslimen bewohnte Gegenden - aber dann ist sie selber schuld). Außerdem ist es ihm zunehmend peinlich, wie Melone zum Essen aufkreuzt - halt so, wie in seinen Spelunken und überhaupt auf Reisen: "Ich werde mir hier doch keine guten Sachen ruinieren," sagt er, "das Zeug aus dem Schlußverkauf kann ich nach der Reise wegwerfen." So sieht es denn auch aus. Gewiß, auch Dikigoros trägt, wenn es im alten Klapperbus über die staubige Piste geht oder im Liegewagen 2. Klasse über die Rumpelgleise, seinen "Kampfanzug"; und wenn er allein auf dem Hotelzimmer ist, wo ihn außer dem Tschāy-wallah [Tee-Boten] niemand sieht, nur das, was die Inder "Lunghi" nennen, nämlich ein um die Hüften geschlungenes Badetuch; aber im Restaurant oder im Tempel trägt er eine sandfarbene ("khākī") Sommer-Uniform der U.S. Army mit permanent press Bügelfalten, Adidas-Turnschuhe (deren drei weiße Streifen das Prestige ihres Trägers fast mehr heben als die drei weißen Streifen, die sich ein Priester Shiwas auf die Stirn malt; außerdem kommen Schuhe aus Kunststoff in Indien grundsätzlich besser an als solche aus Leder, womöglich gar aus Rindsleder, also der Haut der heiligen Kühe) und ein Swastik-Amulett aus duftendem Sandal-Holz um den Hals - soviel Spleen muß sein.

Auch für Melone ist Dikigoros nicht so hilfreich, wie er sich das vorgestellt hatte: Der behauptet zwar, Hindī zu können, aber weiß nicht mal, was Puff heißt, im Wörterbuch steht es angeblich auch nicht, und in den weniger mit westlichem Tourismus gesegneten Städten Indiens spricht kaum jemand englisch (es sei denn, er wollte, und hier scheint niemand zu wollen). Dabei ist Melone doch mit festen Vorstellungen und Plänen in Bezug auf Indien im allgemeinen und auf die schönen indischen Frauen im besonderen angereist: Bãbaī z.B. soll der größte Puff der Welt sein, noch vor Amsterdam, Bangkok und Manila - da hat er sich genau erkundigt. Was ihm aber niemand erzählt hat ist, daß es auch so ziemlich der einzige "echte" indische Puff ist. (Die Neppläden in Gowa, die eigens für westliche Touristen mit westlichen Preisen - und Prostituierten aus Nepāl - eingerichtet worden sind, zählt er nicht dazu.) Eines Abends sitzen sie gemeinsam in der "Gärtchen"-Bar in Bhopāl; der Tag war brennend heiß (sie haben das buddhistische Heiligtum von Sānchī besichtigt), und Melone versucht verzweifelt in Erfahrung zu bringen, wo denn hier der Rotlicht-Distrikt ist. Auf dem Etikett der Bierflasche prangt (neben zahlreichen Hakenkreuzen - der Swastik ist in Indien bis heute das Zeichen des Heils) auch eine voll- und barbusige Gottheit. Melone zeigt auf sie und fragt: "Wo...?" Der Kellner geht zum Kühlschrank und holt ihm noch ein Bier. Melone nimmt die leere Flasche mit nach draußen zu den Taxi-Fahrern; aber auch die stellen sich dumm. "Fun", sagt Melone und zerrt Dikigoros mit in ein Taxi. "Chalo [fahr los]!" Der Fahrer tut's." - "Wo soll ich Sie eigentlich hinfahren?" fragt er Dikigoros, nachdem sie ca. 10 Minuten unterwegs sind." - "Keine Ahnung, ich dachte, Sie wüßten das." - "Nein, woher denn?" - "Nun, halt wo irgend etwas los ist." Melone zeigt ihm wieder die Göttin auf der Bierflasche. Er fährt in einen Vorort, wo gerade eine Zeremonie vor dem bunten Bild einer Göttin statt findet. Männlein und Weiblein schieben sich fein säuberlich getrennt in zwei langen Schlangen dran vorbei; auch Dikigoros reiht sich brav ein. Melone dagegen kocht vor Wut über diesen "Betrug". Er fragt den Inhaber des nächsten Hotels, der dem Treiben vom Aufgang aus zusieht; aber auch der tut so, als verstünde er nicht. (Erst viele Jahre später, im Jahre 2001, als der Film "Bhopal Express" in Deutschland gezeigt wird, wird Dikigoros erfahren, daß die einschlägigen Etablissements - als Bars getarnt - nur einige Häuser vom Bier-Gärtchen entfernt waren; aber das hilft Melone nichts mehr, der inzwischen das Zeitliche gesegnet hat; die einzige, die sich darüber aufregt, ist Frau Dikigoros - aber nicht über die Etablissements und daß Dikigoros sie seinerzeit nicht gefunden hat, sondern über die für sie erschreckend realistische Schilderung der vielen Todesfälle, damals, 1984, beim Unfall in der Chemie-Fabrik von Union Carbide.)

Nachdem ihnen das ein paarmal so oder ähnlich ergangen ist, machen sie es wie einst in Perú und trennen sich - jedenfalls fürs erste: Melone fährt nach Bãbaī (da sprechen die Männer wenigstens Englisch, und die Frauen sind billig und willig und können Französisch), und Dikigoros in die andere Richtung, gen Osten, nach Warānsī; in Udaypur wollen sie sich wieder treffen. [Für Leser, die es interessiert - Dikigoros weiß, daß es die gibt, Melone war ja nicht der einzige Mann auf der Welt, der deshalb nach Asien reiste: Für Bordell gebrauchen die Inder witzigerweise das selbe Wort wie für Nudelholz - tschaklā. Soviel hat Dikigoros nachträglich in Erfahrung gebracht, nicht dagegen, woher diese merkwüdige Parallele kommt, denn in Indien soll es nicht üblich sein, daß die Frauen ihre Ehemänner nach einer allzu lange ausgedehnten nächtlichen Tour mit dem Nudelholz erwarten.] Die Inder sind ein Volk von Reisenden; ca. 10% der gut 900 Millionen sind ständig auf Achse, da fällt ein Reisender mehr oder weniger nicht auf - es sei denn außerhalb der überlaufenen Touristen-Zentren, wo ein Ausländer immer noch Sensation macht (vor allem bei den Kindern; aber vielleicht zeigen es die Erwachsenen bloß nicht so deutlich). Keine Sorge, Dikigoros wird Euch hier keinen Reiseführer vorsetzen, auch keinen "alternativen" - da gibt es Leute, die das viel besser können, die Euch genau vorschreiben, was Ihr unbedingt ablatschen, angaffen und ablichten müßt, wo Ihr, liebe Snobs, das Schloßhotel mit den meisten katzbuckelnden ("mujrā karnā", sagen die Inder dazu verächtlich; sie gebrauchen die gleiche Redewendung, wenn eine Nutte ihrem Freier um den Bart geht) Lakaien findet, und Ihr, liebe Tramps, den billigsten Schlafsaal mit den schmutzigsten Matratzen. (Auch Dikigoros ist schon in "Palästen" verarmter Duodez-Fürsten abgestiegen, die einzelne Räume zu Hotelzimmern umgewandelt und ihre Töchter und Nichten, denen sie [noch] keine standesgemäße Heirat finanzieren konnten, zu Zimmermädchen umgeschult haben - aber er hat selten mehr als umgerechnet 20.- DM pro Nacht dafür bezahlt, wenn überhaupt; in Schlafsäle hat er sich dagegen nie getraut - wegen der nicht-indischen Mitreisenden, die sich dort herum treiben; in den meisten "normalen" Hotels war er der einzige Ausländer, und damit das so bleibt, wird er auch Euch keine Namen nennen, geschweige denn Adressen. Wenn er doch mal einen Namen erwähnt, dann nur von solchen Etablissements, die Ihr auch in jedem Reiseführer findet, die also selbst dann keine "Geheimtips" wären, wenn sie denn besonders empfehlenswert wären - was sie in der Regel nicht unbedingt sind :-) Über Land und Leute schreiben sie dagegen kaum etwas, und wenn, dann nur Unsinn, den sie unmöglich aus eigener Anschauung haben können: Indien ist doch das Land, in dem schon die Kinder betteln oder [ver]hungern müssen, weil die heiligen Kühe nicht geschlachtet werden dürfen und das beste Essen den tausend Götzen geopfert wird, wo das Kasten[un]wesen herrschte, bis "der liebe Gandhi [Gāndhījī]", jener Menschenfreund, es beseitigte (zumindest auf dem Papier), wo vor allem den Frauen solch ein schreckliches Leben und Sterben bereitet wird - wenn sie denn überhaupt geboren werden. Ist es nicht so, daß die meisten schon vor ihrer Geburt abgetrieben werden, weil die Eltern lieber Söhne wollen als Töchter, die doch bloß Mitgift kosten? Daß sie, wenn sie doch auf die Welt kommen, schon im Kindesalter von den Eltern verkuppelt werden, von ihren Ehemännern ermordet, wenn die Mitgift nicht stimmt, oder jedes Jahr ein Kind bekommen müssen, weil es kein ordentliches Sozialversicherungssystem gibt im Lande, und daß sie schließlich als Witwe auf dem Scheiterhaufen enden, wenn der Mann stirbt? Ja, liebe Leser, auch Dikigoros hat das alles mal geglaubt; und er will Euch zu dieser Reise einladen, um Euch zu berichten, wie er selber Stück für Stück von diesen dummen Vorurteilen befreit worden ist.

Bleiben wir doch gleich beim Thema Übernachtung: Den meisten Indien-Reisenden wird es nicht aufgefallen sein, weil sie entweder in Unterkünften abgestiegen sind, wo sie nicht nach dem Reisepaß, sondern nur nach dem Übernachtungsgeld gefragt werden, oder aber es ganz normal finden, daß der Paß beim Einchecken an der Rezeption einbehalten und erst einen Tag später zurück gegeben wird. Nicht so Dikigoros. Er bleibt immer mit Engelsgeduld (die man auf Indien-Reisen haben muß) stehen, bis der Rezeptionist oder die Rezeptionistin seinen Paß abgepinnt haben, meist gaaanz langsam, in Schönschrift. Zuviel der Ehre, meint er, er kann ja jetzt selber lesen und schreiben. "Geben Sie mal her," sagt er, nimmt dem jungen Mädchen Paß und Gästebuch aus der Hand und trägt sich selber schwungvoll in Dewnagrī ein. Die Kleine ist ganz entsetzt: "Was ist das?" - "Das ist meine Eintragung; freuen Sie sich doch, daß ich Ihnen Ihre Arbeit abnehme, da können Sie weiter Ihre Zeitung lesen." - "Aber das kann ich nicht lesen." - "Wie bitte?" Es stellt sich heraus, daß die Empfangsdame nicht lesen und schreiben kann (diese Erfahrung wird Dikigoros in Mittelklasse-Hotels noch öfter machen), weder Englisch noch Indisch. Wozu auch? Die Buchstaben aus dem Paß malt sie ab wie Bilder, mit großer Sorgfalt und Genauigkeit, ohne sie zu verstehen, aber in dem sicheren Wissen, daß so alles seine Richtigkeit hat. Was ihr der Ausländer dagegen auf Dewnagrī ins Gästebuch schreibt, kann sie nicht nachprüfen - er könnte sich als Mahārāj von Absurdistān eintragen, und niemand würde es merken. "Wofür führen Sie dann überhaupt ein Gästebuch?" - "Das wird jeden Abend der Polizeibehörde vorgelegt, und dort kann jemand Englisch lesen." Dikigoros verkneift sich die Frage, was sie denn dann mit der Zeitung mache; aber er achtet darauf, als ihre Schicht endet: Sie nimmt sie ebenso ungelesen, wie sie sie zur Arbeit mit gebracht hat, wieder mit nach Hause - vielleicht wartet dort ja jemand, der sie lesen kann... [Wohlgemerkt, es gibt auch Rezeptionisten, die Hindī können - das merkt man meist daran, daß sie geradezu in Ehrfurcht erstarren, wenn Dikigoros sich mit der ihm eigenen Geschwindigkeit einträgt (Inder sind eher langsame Schreiber) und in der Rubrik 'Zweck der Reise' auch noch "Pilgerfahrt" angibt statt "Dienstreise" oder "Geschäftsreise", wie die meisten anderen Hotelgäste.]

Am nächsten Morgen spricht Dikigoros den Inhaber des Steinmetz-Ladens nebenan an, einen alten Herrn, der noch zu der Generation gehört, die ordentlich Sanskrit, Englisch und Hindī gelernt hat (sie befinden sich in einem Bundesstaat, wo letzteres zugegebener Maßen nicht die Muttersprache ist - soviel zur Ehrenrettung der Rezeptionistin). "Wie kommt es, daß die Jugend so dumm und ungebildet ist?" fragt er ganz offen und mit einem mißbilligenden Blick auf die dummen Enkel, die im Laden herum lungern und ihn sicher bald in den Bankrott wirtschaften werden, wenn der Großvater nicht mehr ist, das sieht man ihnen an der Nasenspitze an - und an den Schulheften, über die sie gebeugt sind. (Dikigoros sieht auf Reisen gerne der Jugend in die Schulhefte; sie besagen oft mehr über den Zustand einer Gesellschaft als schön gefärbte Zeitungs-Berichte.) "Ist es bei Ihnen soviel anders?" fragt der zurück. "Hm - na ja..." Der Alte spendiert eine Tasse Tee (der übrigens im Indischen weiblich ist) und erklärt ihm: "Das ist nicht ihr Job." - "Was?" - "Zu lesen und zu schreiben." - "Als Rezeptionistin?" - "Ihr Job ist es, die Gäste richtig zu registrieren, und das tut sie. Den Job, das zu entziffern, hat jemand auf der Polizeistation. Wissen Sie, bei uns ist das traditionell so, daß jeder nur das tut, was ihm seine Kastenzugehörigkeit vorschreibt: Der Koch kocht, der Putzmann putzt, der Steinmetz behaut Steine, und die Rezeptionistin malt halt Pässe ab. Aber ich habe mir sagen lassen, daß auch im Westen die Leute nur das tun, was in ihrem Arbeitsvertrag steht, und daß ihre Jāti, äh, wie heißt das gleich bei Ihnen, Gewerkschaft, das überwacht; oder putzt Ihre Sekretärin nach Dienstschluß noch das Büro?" Der Einwand ist zwar berechtigt; aber die Frage ist doch, ob das System insgesamt funktioniert: In Deutschland schreibt die Sekretärin die Briefe, die Putzfrau putzt das Büro, und anschließend ist beider Arbeit getan. Aber hier? Dikigoros macht sich auf zur Polizeistation - die liegt ohnehin fast auf dem Weg zum großen Tempel, den er heute besuchen will. Wenn er irgendwo auftaucht, braucht er nie zu warten - es empfängt ihn immer sofort irgend jemand. Aber er läßt sich nicht täuschen, schon gar nicht von subalternem Gelabere; er hat die Geduld zu eben diesem Warten und trinkt den Leute solange den Tee weg, bis der Chef dann doch persönlich kommt. Er läßt sich das mit den Gästebüchern erklären: "Die werden nachts hierher in Verwahrung gebracht, und morgens kommen sie zurück ins Hotel." - "Ja, aber kontrolliert die denn jemand, mitten in der Nacht?" - "Wieso, wer sollte denn da was kontrollieren?" - "Na, die Eintragungen." - "Was gibt es da zu kontrollieren? Wenn etwas falsch wäre, könnten wir das ohnehin nicht feststellen, denn wir haben ja die Pässe nicht da zum Vergleich." - "Ja, was soll das ganze dann überhaupt?" - "Es ist Vorschrift; außerdem haben wir hier eine Planstelle für jemanden, der die Bücher nachts in Verwahrung nimmt." - "Sie meinen, für jemanden der sie kontrolliert." - "Ja, er kontrolliert doch, daß sie über Nacht nicht weg kommen." Vor so viel überzeugender Logik muß Dikigoros kapitulieren.

Der örtliche Tempel ist einer der heiligsten in Indien - nicht einmal die selige Indirā Gāndhī durfte ihn betreten, da sie zwar als Tochter Nehrūs gebürtige Brāhmanī, aber durch ihre Heirat mit dem Pārsī Feroze Gāndhī ihrer Kastenzugehörigkeit verlustig gegangen war und sich damit außerhalb der Hindū-Glaubensgemeinschaft gestellt hatte - was unter mißtrauischen Leuten schon zu den bösesten Spekulationen Anlaß gegeben hat. (Wenn Dikigoros hier und im folgenden "den Tempel betreten" schreibt, dann mögen seine Leser immer im Hinterkopf behalten, daß man da differenzieren muß. Ihr, liebe Christen, dürft zwar auch ins Kirchenschiff, aber normalerweise nicht bis zum Altar, geschweige denn, daß Euch der Pfarrer an die Schüssel mit den Oblaten, pardon, die Monstranz mit dem Leib Christi ließe. Und so ist es in der Regel auch in einem indischen Mandir [Tempel]: In den Raum für's Fußvolk - den Sabh Mãdap [wörtlich "Jedermanns-Pavillon"] - darf normalerweise jeder, egal ob Hindū oder nicht. In den Andachtsraum - Darshan Mãdap - sollten eigentlich nur Hindūs, und zum Allerheiligsten der Gottheit - Garbh Grih [wörtlich "Uterus" - welch ein Bild!] - haben nur die Priester Zugang. Nun gibt es freilich Tempelanlagen, in denen das Allerheiligste nicht richtig vom Andachtsraum getrennt ist; deshalb läßt man Unbefugte - also Nicht-Hindūs - schon gar nicht erst in den letzteren; und wenn nicht mal der Andachtsraum richtig vom Allerweltsraum getrennt ist oder, wie hier, das Allerheiligste mitten im Freien steht, dann zieht man eben eine Mauer drum und läßt gar keinen Nicht-Hindū mehr herein. Es sind also mehr praktische als theologische Gründe für die unterschiedliche Handhabung des Zugangsrechts ausschlaggebend. Im übrigen versucht Dikigoros nie, den Garbh Grih zu betreten - er wird sich doch nicht mehr Rechte anmaßen wollen als selbst dem normalen Hindū zustehen, auch wenn manch ängstlicher Pandit das schon befürchtet hat -; er macht nur Ärger, wenn man ihn nicht ins Darshan Mãdap lassen will oder, wie hier, nicht einmal ins Sabh Mãdap.)

"Sāhib, hierher, da können Sie von einem Fenster im 3. Stock aus ins Heiligtum schauen," spricht ihn ein Schlepper an, "nur 100 Rupies." - "Das haste wohl geträumt?!" Natürlich sieht jeder, daß er Ausländer ist, denn er tritt wie gesagt nicht als Yogī verkleidet auf (geschweige denn wie ein Aghorī - die Rolle überläßt er Melone), und selbst der höchstkastige Brāhman hätte nicht seine Statur und seine helle Hautfarbe ["Warn", zugleich das indische Wort für "Kaste" - dazu später mehr]. Aber... "Wie wollen Sie eigentlich feststellen, ob ich Hindū bin oder nicht?" fragt er den Schreibtischhengst im Tempelbüro. "Das merken wir schon." - "So so, Sie merken das? Woran?" fragt Dikigoros spöttisch. "Äh... wir haben ja unseren Priester, der kann Sie einer Prüfung unterziehen" sagt er, leicht verunsichert, und ruft ihn herbei. "Namasté." Dikigoros mustert ihn von oben bis unten: Das ist ein ganz bescheidenes Kaliber, der kann vielleicht gerade mal einen Ausländer von einem Inländer unterscheiden, mehr aber auch nicht. "Namaskar." (Man soll es nicht für möglich halten, liebe Leser, welches Zusammenzucken bereits der Gebrauch dieses - gleich bedeutenden, aber weniger gebräuchlichen - Begrüßungswortes bewirkt: Die meisten Ausländer kennen nur das erstere und geben es, so angeredet, gedankenlos zurück.) Dem "Priester" bleibt das Wort im Halse stecken. "Haben Sie gelesen?" dreht Dikigoros den Spieß um. "Was?" - "Die Weden." [Bitte nicht mit deutschem, also aspiriertem "d" aussprechen, liebe Leser - "Wedhen" sind Piercings!] Dikigoros fragt ihn ab und macht ihn zur Schnecke. "Dieser Hampelmann soll ein Pandit sein?" fragt er den Zivilunken. "Schon gut," murmelt der, "Sie dürfen natürlich hinein, bitte sehr." - "Danke, ich bin gar kein Hindū." (Dikigoros macht den kleinen, aber feinen - und seiner Intention nach gemeinen - Unterschied, für "nein danke" das Urdū-Wort "shukriyā" zu gebrauchen, und nur für ein echtes "Dankeschön" das Sanskrit-Wort "dhanyawād" - in Indien äußert man seinen Dank nicht so leicht[fertig] wie etwa im Deutschen, man sagt statt dessen einfach "thīk [o.k.]" oder "achchhā" [gut - es ist das Wort, das Dikigoros eben mit 'schon gut' übersetzt hat]" Leider merken das die meisten Inder nicht, da diese Begriffe für sie ebenso synonym sind wie "namasté" und "namaskar".) - "Aber Sie kennen doch die heiligen Schriften." - "Ich glaube sogar daran, daß die ewigen Gesetze des Schicksals viel Wahres enthalten; aber ich richte mein Leben nicht 100%ig nach ihnen aus; also bezeichne ich mich nicht als Hindū, das überlasse ich anderen Heuchlern. Ist es nicht traurig, daß solche Leute (herablassend-strafender Seitenblick auf den 'Priester') so ein hohes Amt bekleiden? Wie will der denn beurteilen, wer hier zu Recht oder zu Unrecht Einlaß begehrt?" Dikigoros kennt das Innere der Tempelanlage von Bildern - es ist nur der übliche häßliche Lingam [Penis] Shiwas (nach dem die Tempelanlage auch benannt ist: "Lingrāj [Fürst der Schwänze]"), wie er schon Dutzende gesehen hat, zu einer schwarzen Säule stilisiert, vor der die Gläubigen ihre Opfer bringen. (Immerhin ist es einer der zwölf größten im Lande, dem man noch in etwa ansieht, was er darstellen soll; die modernen Nachahmungen erinnern Dikigoros eher an Ostereier :-)

Einige Hindūs, die die Unterhaltung mitbekommen haben, gehen hinein und bringen Dikigoros etwas von dem geweihten Konfekt ["Prasād"] heraus; er empfindet das zwar als rührende Geste, lehnt jedoch höflich, aber bestimmt ab - ohne zu verraten, daß er das nicht aus religiöser Rücksichtnahme tut, sondern weil er das Zeug ebenso wenig mag wie die west-christlichen Oblaten. (Ja was, liebe Katholiken und Protestanten? Wo steht in der Bibel etwas von dem Zeug? Jesus & Co. hätten das nicht mit der Zange angefaßt! Schließlich haben ihn die christlichen Religionsstifter an die Stelle des orientalischen Gottes Osiris gesetzt, der die alljährliche Wiederauferstehung des Getreides auf dem Felde symbolisierte; da wird man ja wohl erwarten dürfen, daß zum Abendmahl richtiges Brot gereicht wird. In der "orthodoxen" Ostkirche ist das noch immer üblich; fahrt mal in Griechenland oder Rußland oder Serbien aufs Land - dort liegen die Kirche und das Gemeindeleben auch noch nicht in den letzten Zügen, wie bei Euch!) Die Leute müssen ja nicht alles wissen... [Wohlgemerkt, auch hier die Anmerkung, daß Dikigoros in Indien echte Priester kennen gelernt hat, die die Weden in wunderschönem Singsang rezitieren konnten; es gibt nicht nur ungebildete Charlatane - die behält man wohl den Touristen-Tempeln vor.]

Dikigoros und die indischen "Priester" - das ist ein unerschöpfliches Thema. (Wenn er "Priester" schreibt, meint er damit nicht den einfachen "Pujārī" [Vorbeter], den eigentlich jeder machen kann, auch der Laie - im weitesten Sinne ist das die Bezeichnung für jeden Betenden -, sondern den "Pandit", was man freilich nicht zu eng sehen darf: So nennen sich auch Leute, die zwar dazu berufen sind, dieser Berufung aber nicht wirklich folgen, wie z.B. Nehrū, der erst Rechtsanwalt und dann Politiker war - letzteres übrigens aus Unfähigkeit, weil sein Vater ihn aus seiner Kanzlei hinaus warf mit den Worten: "Du taugst nicht zum Anwalt, geh' besser in die Politik, das kann jeder Idiot." Aber das soll es ja nicht nur in Indien geben :-) Letztlich kommt es weniger auf ein Theologie-(oder Weden-)Studium an, als darauf, ob man von den Gläubigen als solcher akzeptiert wird; und dazu will Dikigoros hier eines seiner eigenen Erlebnisse breit treten: Jeder, der mal in Indien war weiß, daß praktisch das ganze Jahr über religiöse Feste gefeiert werden, und zwar, wie der Name schon sagt, feste (kleiner Scherz am Rande)... Dabei haben sich auch traditionelle Feste, wie zum Beispiel das (zehntägige) Dashährā ["Dussera"], unter westlichem Einfluß zu einer Art Karnevalsverschnitt entwickelt. Ursprünglich sollte damit der Sieg des göttlichen Rām über den bösen Rāwan gefeiert werden, der Sītā - die Gattin des ersteren - nach Shrī Lankā [Ceylon], der Insel der Hexen und Dämonen, entführt hatte. Der Sieg gelang Rām mit Hilfe des Affen Hanumān, der mit seinem langen Schwanz eine Brücke baute (was die Menschen ihm bis heute nicht nachzumachen fertig gebracht haben), und all das ist Gegenstand des populärsten Epos, Theaterstücks (und neuerdings auch Fernsehfilms) Indiens, ja ganz Asiens, des Rāmāyanas. Von dem habt Ihr sicher schon mal gehört, liebe Leser, und vielleicht kennt Ihr sogar seinen ungefähren Inhalt? Oder glaubt wenigstens, ihn zu kennen. Was glaubt man nicht alles... Nein, Ihr kennt ihn nicht, jedenfalls nicht den Schluß des Originals: Rām glaubt Grund zu der Annahme zu haben, daß Sītā ihn mit Rāwan betrogen hat; deshalb muß sie ins Feuer. Und während es einige Versionen gibt, wonach sie durch Agni geläutert wird, überlebt und so unter Beweis stellen kann, daß sie "sat" [tugendhaft, treu; daher der Ausdruck "Satī" - englisch "suttee" geschrieben - für eine verbrannte Witwen] ist es doch offensichtlich, daß sie ursprünglich als Witwe des von Rām getöteten Rāwan auf dem Scheiterhaufen stirbt. Nicht umsonst ist ihr Name die genaue Umkehrung von Satī, auch wenn das den modernen Inder[inne]n nicht mehr so klar ist. Heute verbindet sich mit dem Feuertod der Witwe die Vorstellung, daß sie damit von all ihren Sünden geläutert wird; aber im Hintergrund schwingt wohl immer noch der Gedanke mit, daß eine Frau, die ihren Ehemann überlebt, unter Beweis stellen muß, daß sie sich nicht gegen ihn versündigt hat - wozu z.B. auch das Heiraten eines alten Witwers durch ein junges Mädchen gehört, das dessen Kinder aus erster Ehe um ihr Erbe - oder jedenfalls einen erheblichen Teil desselben - bringen will, indem sie nach ein paar Jahren, die ihr Mann noch zu leben hat, die lustige Witwe spielt (eine Frau, deren Mann zufällig - also nicht aus Alters- oder Krankheitsgründen, sondern durch einen Unfall oder auf dem Schlachtfeld - stirbt und die selber noch kleine Kinder hat, geht selbstverständlich nicht mit auf den Scheiterhaufen); aber dazu später mehr.

In einer jener äußerst heiligen, aber außerhalb Indiens kaum bekannten und daher von ausländischen Touristen so gut wie nie besuchten Städte Indiens (einer der vier, in denen reihum das Fest des Wassermanns - Kumbh Melā - gefeiert wird) erlebt Dikigoros Dashährā: Beim Umzug werden keine brennenden Fackeln oder Kerzen mehr getragen, sondern elektrischer Tannenbaumschmuck aus Europa; die Musik, zu denen die Zugteilnehmer tanzen, kommt nicht mehr von Instrumenten, sondern vom Tonband; und Prinz Karneval, pardon der Oberpandit, reitet nicht auf einem Elefanten, wie sich das eigentlich gehört (geschweige denn auf einem weißen Elefanten), sondern fährt auf einem mit Pappmaschee verkleideten Traktor. Dikigoros steht etwas erhöht auf der Vortreppe seines Hotels und verfolgt den Zug mit unbewegter Mine. Da entdeckt ihn einer der Teilnehmer, der sicher noch nie einen Weißen gesehen hat. Ein erstauntes Aufrufen - und plötzlich stockt der ganze Zug, die Menschenmassen bewegen sich auf Dikigoros zu und bringen ihm eine Pūjā dar, wollen ihn berühren und von ihm berührt und gesegnet werden. Eigentlich müßte ihm das furchtbar peinlich sein; aber er spielt das Spiel mit - warum soll er sich zum Spaßverderber machen? Es gibt genügend Ausländer, die das hohe Ansehen, das Angehörige ihrer Staaten einst in Indien genossen, mit allen Mitteln ruinieren; einer muß ja die Fahne hoch halten... Wundert es Euch da, liebe Leser, daß Dikigoros Indien und die Inder liebt, wo er doch dort so geliebt wird von den Menschen? (Und er legt Wert auf die Feststellung, daß dies nicht nur in Bhārat so ist, sondern auch in Shrī Lankā und selbst im muslimischen Pākistān. Ja, er hat auch jene beiden Länder bereist, aber über das erstere mag er nicht schreiben, denn was sich dort inzwischen alles ereignet hat, ist so traurig, daß er es lieber verdrängt, und auf das letztere kommt er weiter unten zurück.) Während er nach und nach ein paar hundert Gläubige absegnet fällt sein Blick auf den einzigen des Zuges, den er nicht zu sich hat "bekehren" können: den armen Pandit, der mit versteinertem (um nicht zu sagen verlorenem) Gesicht auf seinem Traktor hockt wie ein Häufchen Elend - Dikigoros denkt lieber nicht über dessen weiteres Schicksal nach. Er könnte ja versuchen, sich einen Weg zu ihm zu bahnen und ihn moralisch etwas aufzurichten - aber wer weiß, ob er damit nicht alles nur noch schlimmer machen würde, also läßt er's lieber...

Szenenwechsel. Dikigoros ist in Rājkot, der Hauptstadt des Duodez-Fürstentums in Gujrāt, in dem Gāndhīs Vater Erster Minister war. Nein, Dikigoros ist nicht gekommen, um in der Lebensgeschichte Gāndhīs herum zu wühlen (das tut er an anderer Stelle), sondern nur, um sich von den Strapazen einer Pilgertour auf den Shatrunjay (den heiligen Berg der Jain in Pālītānā) zu erholen, in einem guten Hotel (der Rezeptionist spricht ausgezeichnet Englisch, versucht aber, ihn bei der Rechnung zu betuppern - es scheint, daß mit den Englisch-Kenntnissen auch die Skrupellosigkeit zunimmt), in guten Restaurants (das beste - das so gut ist, daß mehrere andere am Ort sich drangehängt und den gleichen Namen angenommen haben, um unwissende Reisende zu täuschen - wird übrigens von Sikhs betrieben) und mit etwas Müßiggang. Aber wie das so ist, herrscht gerade Wahlkampf, und auf dem Maidan, dem größten Platz der Stadt, haben sich die Menschenmassen versammelt - diesmal zählen sie nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden. Es ist ein Bild zum Schießen: Die Menschen hocken auf dem Boden - Sitzgelegenheiten gibt es kaum, Inder hocken eh lieber als daß sie sitzen -, und ein paar Claqueure rufen müde "Jay [Siegheil]", wenn ein Redner geendet hat und entbieten den "deutschen" Gruß (im Hocken - habt Ihr sowas schon mal gesehen, liebe Leser?); aber die große Mehrheit der Leute scheint wenig begeistert. "Die so genannten demokratischen Partei-Politiker sind wohl überall auf der Welt gleich," knurrt Dikigoros, nachdem er den Rand der hinteren Tribüne erklommen und sich das Gelabere der Wahlkämpfer eine Zeit lang angehört hat, "das ist doch alles gequirlte Scheiße." Hätte er das in Deutschland - oder anderswo in der Welt - gesagt, hätten vielleicht ein paar Leute beifällig gemurmelt; vielleicht wäre auch der Saalschutz gekommen und hätte ihn verprügelt, oder er hätte sich eine Strafanzeige wegen Beleidigung eingehandelt; aber in Indien... Einige Umstehende sind auf ihn aufmerksam geworden und drängen ihn zum Rednerpult, trotz all seiner Beteuerungen, daß er kein Wort Gujrātī spreche: "Macht nichts, sprechen Sie auf Englisch oder Hindī - endlich ein vernünftiger Kandidat!" In die Menge kommt Bewegung; die Massen drehen sich um, grüßen Dikigoros, ein spontanes "Siegheil" aus tausenden Kehlen braust über den Platz - der vorletzte deutsche Reichskanzler wäre vor Neid erblaßt, wenn er das mit erlebt hätte... Auch Dikigoros erblaßt - aber vor Schreck: So weit muß man die Popularität ja nun doch nicht treiben. (Gibt Euch das nicht zu denken, liebe Leser? Nach welchen Kriterien urteilen die Massen, wenn man ihnen eine freie, "demokratische" Wahl läßt?) Dikigoros entfleucht eiligst und wartet schon auf Fragen einiger Leser wie: "Will der uns etwa weis machen, man brauche als Ausländer bloß nach Indien zu kommen, und schon jubeln einem alle zu? Da haben wir ganz andere Erfahrungen."

Gewiß, die hat Dikigoros auch - und deshalb ist es manchmal doch ganz gut, wenn man wenigstens zeitweise mit anderen zusammen reist. Er ist mit Melone unterwegs auf der Suche nach einem Lokal, in dem sie ihr Abendbrot einnehmen können; Melone setzt durch, daß sie einen "Biergarten" aufsuchen (was Dikigoros alleine nie täte). "Bier," bestellt er wohlgemut - es war ein heißer Tag, und Dikigoros hat ihn, der schon etwas übergewichtig und nicht mehr ganz so gut zu Fuß ist, ziemlich gescheucht mit seinen Besichtigungen. Statt ihm ein eisgekühltes Bier zu servieren, wirf ihm der Kellner einen eisigen Blick zu: "Heute ist Gāndhījīs Geburtstag - da werden Sie doch wohl nicht ernsthaft erwarten, daß wir Ihnen Alkohol ausschenken?!" - "Sie sollen ihn ihm ja gar nicht schenken, er bezahlt," versetzt Dikigoros. ("Schenken" und "ausschenken" - denā - hat im Indischen wie im Deutschen den selben Ursprung - die Inder müßten diesen Witz also verstehen.) "Bedaure." - "dann eben eine Lassy, gut gekühlt." [Melone spricht das aus wie die Hündin aus der gleichnamigen Fernseh-Serie, also "Lässi"; richtig heißt es "Lassī".] Dikigoros rümpft die Nase - er mag das Zeug nicht nur nicht, sondern er empfindet diese Mischung aus Salzwasser und Yoghurt auch als typisch muslimisches Getränk (darauf deutet schon die Schreibweise hin: "ss" hat das Hindī nur in Fremdwörtern; es wird im ganzen Orient getrunken, angefangen mit der Türkei, wo es "Ayran" heißt) - so etwas nimmt er nicht zu sich. "Es gibt heute auch keine Lassī." - "Wieso nicht?" - "Der liebe Gāndhī hat den Verzehr von Milchprodukten aller Art abgelehnt." Das stimmt. Was soll's, bestellt Dikigoros halt das, was er sonst auch immer bestellt: "Dann bringen Sie uns indischen Tee für beide." Für gewöhnlich macht es einen guten Eindruck, "indischen Tee" zu bestellen, der nicht - wie bei Briten und anderen Ausländern üblich - aus Teeblättern solo in Wasser gekocht besteht, sondern aus einem Gemisch von Teeblättern, Zucker und allerlei exotischen Gewürzen ("Masālā") - vor allem Kardamom ("Ilāyachī") -, das in einem Gemisch aus Wasser und Milch aufgebrüht wird. Aber auch damit ist nichts zu machen: "Bedaure, heute gibt es nur englischen Tee, ohne Milch." Melone gibt sich seufzend damit zufrieden, während Dikigoros in stummem Protest daneben sitzt und nichts verzehrt (er kauft sich später eine Flasche Mineralwasser, die er mit Mikropur und Vitaminen versetzt). Ach so, liebe Leser, Ihr glaubt, das läge daran, daß man an verschiedenen Orten halt unterschiedliche Erfahrungen mache? Ihr irrt: sowohl der Karnevalszug (den Melone im Hotel verschlafen hatte) als auch das verpatzte Abendessen im Biergarten haben in Ujjain statt gefunden; wenn Ihr Euch also ähnliche Erlebnisse ersparen wollt, fahrt besser nicht dorthin...

Zurück zur Menge - der zu entgehen in Indien schwierig ist. Vielleicht irgendwo oben im Himālay, aber in der Ebene... Was tut man, wenn man sich in Deutschland für ein paar Stunden in Ruhe mit jemandem zusammen setzen will? Man spielt eine Partie Schach - da gibt es nur selten Zuschauer, denn die Leute haben erstens keine Zeit und zweitens keine Geduld; viele kennen nicht mal mehr die Regeln dieses einst "königlichen" Spiels, und wenn, dann interessiert es sie nicht sonderlich. Der letzte deutsche Großmeister von internationalem Ansehen - Robert Hübner - ist längst in der Versenkung verschwunden; die Inder dagegen haben in Wishy Ānand, einem brillanten jungen Brāhman aus Madrās, einen ernsthaften Anwärter auf die Weltmeisterkrone, und so ist das Spiel in der mutmaßlichen Heimat seines Urahnen Chaturang wieder zu großer Popularität gelangt. Dikigoros selber spielt es nicht mehr wettkampfmäßig - dafür fehlt auch ihm die Zeit -, aber auf Reisen mißt er immer noch gerne mal seine schwindenden Kräfte mit den Lokalmatadoren. Um die Mentalität eines Volkes richtig einzuschätzen, gibt es viele Wege: Man kann schauen, wie sie arbeiten (und was dabei heraus kommt - da schaut man in Indien besser weg), man kann hören, wie sie reden und singen (dazu schreibt Dikigoros später mehr), man kann schmecken, was sie essen und trinken (denn der Mensch ist, was er ißt), man kann fühlen, wie sie lieben (ein Aspekt, auf den z.B. Melone immer den größten Wert gelegt hat, obwohl das, was er darunter verstand, mit "Liebe" nicht immer gar so viel zu tun hatte), und - man kann ihre Spiele mitspielen. Manche Völker spielen am liebsten reine Glücksspiele, wie Würfeln oder Roulette (oder Pferderennen und Hahnenkämpfe - aber das ist eine andere Geschichte), im primitiven Glauben an die Glücksgöttin; andere bevorzugen Mischformen, bei denen es sowohl auf Glück als auch auf Können ankommt - die Deutschen spielen Skat, die Griechen Tavlí ["Trictrac", "Backgammon"], die Chinesen Májìng (im Westen auch "Mah-jong[g]" geschrieben - eine Art Rommé mit Domino-Steinen) -, und wieder andere setzen allein aufs Können. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Regeln einfach sind, wie etwa bei Dame, Mühle, Halma und Go, oder relativ kompliziert, wie beim Schach. (Dikigoros beherrscht alle seine Varianten, vom alten Chaturang, wie es noch in einigen Gegenden Thailands gespielt wird, bis zum 100-feldrigen "Kaïssa" mit 2x21 Steinen.) Nein, Dikigoros will damit kein Werturteil verbinden: Die meisten Russen spielen zwar mit Begeisterung und großem Können Schach - doch sonst sind sie leider für kaum etwas zu begeistern, und was ihr sonstiges Können anbelangt... aber lassen wir das, es tut ja hier nichts zur Sache. Auch die Inder spielen reine und gemischte Glücksspiele, z.B. Würfeln (allerdings sind ihre Würfel nicht quadratisch, sondern rechteckig, so daß sie nicht 6, sondern nur 4 Zahlen haben, und angeblich kommt es auch auf das Geschick an, wie man sie wirft, um die richtige Punktezahl hin zu bekommen), und ihr eigentlich populärstes Spiel (dem schon die Helden im Mahābharata frönen) ist "Pānchisi [Fünfundzwanzig]" - nein, das hat nichts mit "Siebzehn-und-vier" zu tun, sondern ist eher eine Urform des "Mensch-ärgere-dich-nicht", allerdings mit etwas komplizierteren Regeln.

[Schachpartie]

Im Schachclub von - es ist eine mittelgroße Stadt in Mittelindien [Madhy Pradesh], deren Name nichts zur Sache tut - erwischt Dikigoros einen jener Abende, an denen einfach alles klappt: Egal wie schlecht er spielt, egal wie brillant der Gegner ist; im entscheidenden Augenblick siegt jedesmal seine Disziplin und Nervenstärke über die Kreativität und Impulsivität der Inder, die immer den letzten Fehler machen. Das Milan (wie sagt man dazu auf Neu-Deutsch? Richtig: "Meeting") findet in einem großen Innenhof statt - kaum daß Dikigoros (der nicht angemeldet, geschweige denn eingeladen ist, sondern einfach nur zufällig so vorbei kommt) ihn betritt, räumt ein Einheimischer bereitwillig seinen Platz für ihn; schon während der ersten Partie hören alle anderen auf zu spielen und versammeln sich um sein Brett; dann machen sich einige daran, Spieler und Zuschauer aus der ganzen Stadt zusammen zu holen. Es herrscht eine Atmosfäre wie bei einem Fußball-Länderspiel im Westen - wahrscheinlich könnten sie auch Halma oder Mikado spielen, es geht gar nicht mehr um das Schachspiel (das ist ohnehin eine andere Geschichte), sondern um Sieg oder Niederlage. Die Inder wollen einfach nicht begreifen, warum niemand hier diesen Ausländer schlagen kann, der doch gar nicht sooo stark spielt, aber ihre lautstark geäußerten "Tipps" verwirren seine Gegner nur - im Schach gilt, wie anderswo auch, der Satz: Viele Köche verderben den Brei. Endlich hat er alle, die spielen wollten, abgefertigt. Es ist längst tief in der Nacht, aber niemand ist vorzeitig nach Hause gegangen. "Sie müssen ein großer Meister sein, ein Jādū [Hexenmeister]," sagt der Vereinsvorsitzende beim Abschied. "Na ja, ich war zwar mal Meister, aber das ist lange her; da waren die meisten von euch noch nicht geboren." - "Könnten Sie nicht noch ein paar Tage bleiben? Wir würden auch ein großes Simultanturnier organisieren, und Sie könnten Ehrenmitglied bei uns werden..." Zuviel der Ehre - Dikigoros bedankt sich und reist am nächsten Morgen ab.

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