Unter der Hakenkreuzfahne, die auf der höchsten Ruine von Stalingrad weithin sichtbar gehisst wurde, vollzog sich der letzte Kampf. Generale, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften fochten Schulter an Schulter bis zur letzten Patrone. Das Opfer der Armee war nicht umsonst. Sie starben, damit Deutschland lebe.
Mit diesen Worten endete die Mitteilung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 3. Februar 1943 über die Kapitulation der 6. deutschen Armee. Ein halbes Jahr zuvor war sie angetreten, die Stadt an der Wolga zu erobern, doch Stalingrad ganz in ihren Besitz zu bringen, gelang ihr nicht - im Gegenteil: Am 22. November 1942 wurde sie nach einer sowjetischen Großoffensive eingeschlossen, gleichsam in einen Würgegriff genommen, der in den folgenden rund 70 Tagen stetig enger wurde. Etwa die Hälfte der 250.000 eingekesselten Soldaten erlag ihm, durch Kampf, durch Hunger, durch Kälte.
Nein, die überlebende Hälfte focht nicht "bis zur letzten Patrone". Freilich, sie wehrte sich gegen jenen Griff, aber sie vegetierte dabei nur noch. Sie "opferte" sich nicht auf, sie wurde geopfert. Hitler hatte am 23. November einen Ausbruchversuch untersagt. Und am 23. Januar verbot er ausdrücklich die Kapitulation.
Und schon gar nicht starben diese 130.000 Soldaten, "damit Deutschland lebe". Bis auf etwa 6.000 Mann krepierten sie elendig in sowjetischer Gefangenschaft.
Mit dem angeblichen "Opfertod" nahm eine Legendenbildung ihren Anfang, wie sie mit kaum einer anderen Schlacht in der modernen Kriegsgeschichte verbunden ist. Und: Was damals beabsichtigt war, hielt sich merkwürdig lange über das Ende der Nazizeit hinaus, obwohl doch der Ursprung bekannt war: Hitlers Propagandachef Joseph Goebbels ersann die Formel, "Sie starben, damit Deutschland lebe", und Goebbels war es, der am 3. Februar 1943 die gleichgeschaltete Presse anweisen ließ, aus Stalingrad einen "Mythos" zu machen.
Den Ton hatte einige Tage zuvor schon Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, gesetzt. Im Wissen um das bevorstehende Schicksal der 6. Armee sagte er am 30. Januar vor Soldaten :
Wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohne gleichen, das hieß "Der Kampf der Nibelungen". Auch sie standen in einer Halle aus Feuer und Brand, löschten den Durst mit eigenem Blut, aber kämpften und kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, denn ein Volk, das so kämpfen kann, muss siegen.
Natürlich, ein germanisches Heldenepos musste herhalten, trotz des militärischen Desasters noch Siegeszuversicht zu vermitteln. Und dann auch noch ein Rückgriff in die griechische Mythologie:
Wenn ihr denkt, Jahrtausende sind vergangen; und vor diesen Jahrtausenden da stand in einem kleinen Engpass in Griechenland ein unendlich tapferer und kühner Mann mit 300 seiner Männer, stand Leonidas mit 300 Spartiaden - aus einem Stamm, der wegen seiner Tapferkeit und Kühnheit bekannt war. Und eine überwältigende Mehrheit griff und griff immer wieder aufs neue an... Auch damals war es ein Ansturm aus dem asiatischen Osten, der sich hier, am nordischen Menschen brach. Gewaltige Mengen von Männern standen Xerxes zur Verfügung, aber die 300 Männer wichen und wankten nicht, kämpften einen aussichtslosen Kampf - aussichtslos aber nicht in seiner Bedeutung. Und dann fiel der letzte Mann. Und in diesem Engpass, da steht nun ein Satz: Wanderer, kommst du nach Sparta, so berichte, du hättest uns hier liegen sehen, wie das Gesetz es befahl. Es waren 300 Männer, meine Kameraden, Jahrtausende sind vergangen, und heute gilt dieser Kampf dort, dieses Opfer dort, so heroisch, so als Beispiel höchsten Soldatentums. Und es wird auch einmal heißen: Kommst du nach Deutschland, so berichte, du habest uns in Stalingrad liegen sehen, wie das Gesetz, das heißt, das Gesetz der Sicherheit unseres Volkes es befohlen hat.
Da sind nun fast alle wesentlichen Elemente für eine Mythenbildung enthalten, neben dem Eingeständnis, dass der Kampf um Stalingrad verloren sei: Durchhalten bis zum letzten Mann, also Heldentum und Opfertod; der Befehl als unbedingt geltendes Gesetz; Deutschland als Bollwerk gegen den Osten, den Bolschewismus; und Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion als Akt der Verteidigung.
Zu all dem wurde ein militär-strategisches Argument gestellt. Noch einmal Göring:
"Hätten die Kämpfer von Stalingrad nicht diesen heroischen Kampf auf sich genommen, hätten sie nicht die 60, 70, 80 russischen Divisionen auf sich gezogen, wären die damals mit durchgebrochen; der Russe hätte voraussichtlich damals sein Ziel erreicht. Jetzt kommt er zu spät, der deutsche Widerstand ist organisiert."
Wie aber nahmen die Deutschen dieses Gemisch aus irrationalen und - scheinbar - rationalen Erklärungen auf? Zunächst einmal kann festgestellt werden, dass der Ausgang der Schlacht allem Anschein nach kaum jemanden unberührt ließ. Aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS erfahren wir unter dem Datum 4. Februar 1943, zwei Tage nach der
Kapitulation, dass ... in allen Bevölkerungskreisen die Zwangsläufigkeit der Entwicklung ... und die Notwendigkeit der ungeheuren Opfer diskutiert ... wurde. Und dann heißt es weiter:
Zum Teil wird in Zweifel gezogen, dass die Verteidiger von Stalingrad bis zuletzt starke Kräfte des Feindes gebunden haben. Der dritte Punkt, um den die Gespräche der Volksgenossen zur Zeit kreisen, ist die Bedeutung des Kampfes ... im gesamten Kriegsverlauf. Allgemein ist die Überzeugung vorhanden, dass Stalingrad einen Wendepunkt des Krieges bedeute. Während die kämpferischen Naturen Stalingrad als Verpflichtung zum letzten Einsatz ... empfinden, sind die labileren Volksgenossen geneigt, im Fall von Stalingrad den Anfang vom Ende zu sehen.
Die 6. Armee als "Verteidiger von Stalingrad"? Als ob es sich nicht um eine russische Stadt gehandelt hätte, als ob es nicht die Rote Armee gewesen wäre, die sich der völligen Eroberung widersetzte. Aber natürlich: Damit verband sich die Erkenntnis, dass es mit dem Siegen ein Ende hatte, dass es nun ans Verteidigen ging. Die "labileren Volksgenossen" hatten den realistischeren Blick; Stalingrad war der Anfang vom Ende. Und aus den geheimen Lageberichten erfahren wir auch, dass der Rückgriff in antike und germanische Mythen mit der Heroisierung des Opfertodes jedenfalls keine Breitenwirkung hatte:
In der Ungewissheit um das Schicksal ihrer Männer und Söhne vermögen die Angehörigen der Stalingrad-Kämpfer ... aus der 'offiziellen Sinngebung des Opfers’ noch keinen Trost zu gewinnen und lehnen zum Teil die Beeinflussungsversuche in dieser Richtung ... ab ... Jene "offizielle Sinngebung" konnte bestenfalls zur Mobilisierung aller Kräfte dienen. Und Goebbels diente sie zur rhetorischen Vorbereitung auf die Ausrufung des "totalen Kriegs" am 18. Februar 1943 im Berliner
Sportpalast. Bevor er die berühmte, diese schreckliche und suggestive Frage stellte: "Wollt ihr den totalen Krieg?", hatte er gesagt:
Ich gebe meiner tiefen Überzeugung Ausdruck, dass das deutsche Volk durch den Schicksalsschlag von Stalingrad innerlich tief geläutert worden ist. Es hat dem Krieg in sein hartes und erbarmungsloses Antlitz geschaut, es weiß um die grausame Wahrheit und ist entschlossen, mit dem Führer durch dick und dünn zu gehen.
Die "grausame Wahrheit" - zu ihr gehörte nun also auch, dass der Mythos der schier unbesiegbaren deutschen Wehrmacht endgültig dahin war, nachdem er schon im Winter von 1941 auf '42 vor Moskau blass geworden war. Mochte das für die Deutschen desillusionierend, ernüchternd sein, so wirkte es auf den Gegner, vor allem auf die sowjetischen Soldaten wie die Befreiung
von einem Trauma. Der ehemalige Rotarmist Wladimir Ostrogorski, Angehöriger einer Nachrichtenabteilung, erinnert sich:
Ich hab’ in Stalingrad diese Kolonnen von halbverhungerten, halberfrorenen Kreaturen gesehen, die aus allen Löchern da krochen, als es mit der Schlacht aus war. Und ich freute mich nicht. Das war ein schrecklicher Anblick. Nach diesem Anblick haben wir, meine Kameraden und ich, alle, die das gesehen haben, schon gar nicht daran geglaubt, dass die Wehrmacht unbesiegbar ist und dass die Deutschen Herrenmenschen sind. Das waren bedauernswerte Gestalten.
Für Ostrogorski, für die tatsächlichen Verteidiger der Stadt an der Wolga hatte sie allemal eine besondere, eine ins Mythische reichende Bedeutung, die später fast ebenso überhöht genutzt wurde wie auf deutscher Seite. Und dabei spielte gewiß ihr mit dem damaligen sowjetischen Diktator verbundener Name eine beträchtliche Rolle - und mit dessen Geschichte.
Stalin
war während des Bürgerkriegs dort gewesen - in Zarizyn, wie die Stadt ursprünglich hieß -, im Kampf gegen die sogenannten Weißen und um Getreide für das hungernde Moskau zu beschaffen. Er versagte und wurde von
Lenin
abberufen. Aber nach dessen Tod ließen Legenden aus dem Versagen Erfolge werden, und 1925 wurde Zarizyn in Stalingrad umbenannt. Es war seine, des Diktators Stadt.
0-Ton Ostrogorski: "Der Fall von Kiew, von Minsk, von Odessa, von Sewastopol und anderer - Ereignisse, tragische Ereignisse des ersten Kriegsjahres, die unter normalen Umständen eine
allgemeine Volkstrauer bewirken mußten, die hat man so mit der linken Hand, man ist darüber so hinweg gegangen. Natürlich hat man darüber berichtet, aber wie: Als ob es um eine kleine Provinzstadt ging. In Stalingrad war es anders. Dass es eine Schicksalsschlacht war, hat man versucht, näherzubringen. Aber wir brauchten auch keine Hinweise von oben. Es lag im Gefühl, hier entscheidet sich der Krieg. Es ist schwierig zu sagen, woher dieses Gefühl kam, aber es war da. Wir durften nicht auf das linke Ufer der Wolga gehen! Wir müssen hier ausharren. Zarizyn war schon wirklich zu einem Mythos geworden, und das floss auch in den Mythos Stalingrad ein."
Was immer das wichtigste Motiv bei allen sowjetischen Entscheidungen im Kampf um Stalingrad gewesen sein mochte - bis hin zu der, trotz der aussichtslosen Lage der eingeschlossenen Deutschen den eigenen Truppen noch einen unvorstellbar hohen Blutzoll abzuverlangen: Den Mythos Stalingrad gab es also auch auf sowjetischer Seite; und er wurde auf mannigfaltige Weise gefördert, und erhalten hat er sich bis heute.
Erlag ihm damals auch Hitler? Riskierte und opferte er alles aus eher irrationalen denn strategischen Gründen? Jedenfalls waren ihm entsprechende Mutmaßungen durchaus bekannt. Am 8. November 1942 ging er während einer Rede im Münchner Bürgerbräukeller auf sie ein:
Ich wollte zur Wolga kommen, an einer bestimmten Stelle, an einer bestimmten Stadt, zufälligerweise trägt sie den Namen Stalins. Aber denken Sie nur nicht, dass ich deswegen dort losmarschiert bin - sie könnte auch ganz anders heißen -, sondern nur, weil dort ein ganz wichtiger Punkt ist... Dort war ein gigantischer Umschlagplatz, den wollte ich nehmen.
Warum aber verbot Hitler ebenso den Versuch eines Ausbruchs aus dem Kessel wie eine Kapitulation?
Brechen wir an dieser Stelle die schöngeistigen Ausführungen des Herrn Möller ab, denn die entscheidende Frage ist gestellt. Nachdem Ihr, liebe Leser, "Ein' feste Burg ist unser Götze" gelesen habt (hoffentlich - oder seid Ihr eher zufällig auf diesen Anhang gestoßen? Dann holt das bitte nach, denn sonst werden Euch die folgenden Ausführungen nicht viel sagen), werdet Ihr sicher alle die gleiche Gegenfrage stellen: Wie ist es möglich, daß noch im 21. Jahrhundert jemand allen Ernstes (?) einen militärisch völlig sinnlosen Shaka nach rājputischem Muster befürworten kann? Geht die Hitler-Hysterie inzwischen schon so weit, daß nicht nur alles, was er getan und veranlaßt hat, zu "Teufelswerk" umgedeutet, sondern daß auch alles, was er unterlassen hat, im Nachhinein zum Allheilmittel hoch gejubelt werden muß? Gewiß, Hitler hat durch Unterlassungen gesündigt wie kaum ein anderer "Staatsmann" oder "Feldherr" vor oder nach ihm - Dikigoros wird ja nie müde, die Liste seiner Versäumnisse aufzuzählen: Seine Nicht-Aufrüstung nicht nur vor 1939, sondern weit bis in den Zweiten Weltkrieg hinein - die allen gegenteiligen Beteuerungen seiner eigenen Propaganda und der seiner Feinde zum Trotz eine Tatsache ist -, sein Entschluß, die Engländer 1940 bei Dünkirchen entkommen zu lassen und auf eine Eroberung der britischen Inseln (einschließlich Maltas und der Halbinsel Gibraltar) zu verzichten, seine Weigerung, die angelsächsischen Invasoren am 6. Juni 1944 sofort mit allen verfügbaren Kräften anzugreifen und zurück ins Meer zu werfen, und viele andere, "kleinere" Versäumnisse, die vielleicht nicht ganz so verhängnisvoll, aber in ihrer Summe doch mit kriegsentscheidend waren. Aber ein "Ausbruch" aus Stalingrad, wie ihn sich Lieschen Müller und Otto Normal-Historiker vorstellen, d.h. einer mit Aussicht auf Erfolg, nämlich die im Westen stehende deutsche Hauptkampflinie zu erreichen und sich dort wieder in die Front einzureihen, war zu keinem Zeitpunkt möglich - und das wußten auch alle Beteiligten. Man konnte sich wohl im Mittelalter mit dem Säbel in der Hand auf den Feind stürzen und versuchen, dabei so viele Gegner wie möglich mit in den Tod zu nehmen; aber man konnte nicht, wenn man nur noch für 20 km Benzin im Tank hatte, einige 100 km Weg kämpfend zurück legen - oder hätte man zu Fuß und mit Handfeuerwaffen gegen Panzer und Artillerie kämpfen sollen? Das Ergebnis wäre der sichere Tod gewesen - und der einzige, der davon auf deutscher Seite etwas gehabt hätte, wäre Goebbels gewesen, der daraus ein neues Heldendrama hätte stricken können. Und die Kapitulation? Nun, wir wissen doch, wie die, die im Februar 1943 kapitulierten, geendet sind: ganze 3% haben die russische Kriegsgefangenschaft überlebt, und das wäre bei einer früheren Kapitulation nicht anders gewesen. [Nebenbei bemerkt: Der Krieg wurde nicht in Stalingrad entschieden - sondern in Dünkirchen -; nicht einmal der Rußlandfeldzug wurde dort entschieden - sondern in Finnland, wo der heimliche Rußland-Freund und Deutschen-Hasser Mannerheim verhinderte, daß die Wehrmacht die Murman-Bahn unterbrach, was mit ganz geringen Kräften leicht möglich gewesen wäre. Hätte die Wehrmacht Stalingrad erobert, wäre der "Wendepunkt" eben irgendwo anders gekommen; denn rein militärisch gesehen war dieser Ort völlig unbedeutend.]
Aber zurück zum "Warum nicht": Hätte die 6. Armee sich bereits im Dezember 1942 oder im Januar 1943 durch einen Shaka-Ausbruch geopfert oder kapituliert, statt auszuharren, dann wäre nicht nur sie selber verloren gewesen (was sie wie gesagt in jedem Falle war), sondern die ganze Heeresgruppe A, die Hitler idiotischer Weise in den Kaukasus geschickt hatte, um die dortigen Ölfelder zu erobern (als ob die nicht beim Anrücken deutscher Truppen von den Sowjets allesamt angezündet und auf Jahre hinaus unbrauchbar gemacht worden wären!), d.h. die Russen hätten alle Kräfte darauf verwenden können, den Sack bei Rostow am Don dicht zu machen und damit knapp die zehnfache Menge deutscher Soldaten abgeschnitten wie in Stalingrad festsaßen - das immerhin 7 russische Armeen band! Kein geringerer als der jüdische Feldmarschall
Erich v. Lewinski, genannt v. Manstein
- dem nun wahrlich niemand nachsagen konnte, etwa ein Freund Hitlers im allgemeinen und/oder dessen Kriegsstrategie[n] im besonderen zu sein - hat das später so gesehen, ebenso die sowjetischen Marschälle Tschuikow und Jeremenko. Ob es richtig war, überhaupt bis nach Stalingrad vorzustoßen, darüber kann man trefflich streiten; aber als das Kind einmal in den Brunnen, pardon in den Kessel gefallen war, da war es richtig, die 6. Armee zu opfern - und nur die 6. Armee, nicht die ganze Heeresgruppe A! Das mag bitter klingen, aber die Wahrheit schmeckt nun mal bisweilen bitter - und alles andere ist Geschichts-Klitterung.
Nikolas Dikigoros
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heim zu Reisen durch die Vergangenheit