Kreuzfahrer und Troubadoure
Von Lissabon bis Byzanz
EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE
Mitte des 12. Jahrhunderts. Schlechte Kunde zieht durch die Reisebüros Europas: Die Umsätze gehen auf breiter Front zurück, die Gewinne brechen ein, eine Rezession droht. Wie konnte es dazu kommen? Viele Jahrhunderte hindurch hatte die Tourismus-Branche von organisierten Kreuzfahrten gelebt, und das nicht schlecht, denn die Menschen glaubten damals (wie heute wieder) an die allein selig machende Wirkung der jährlichen "Pilger"-Reise - die Nachbarn sollen doch sehen, was für ein frommer Mensch man ist. Das mit Abstand beliebteste Reiseziel war von alters her Ieroschalom, die "Stadt des Heils" im "Heiligen Land" Palästina. Da es in erklecklicher Entfernung von Mittel-Europa lag, war es zugleich auch dasjenige, an dem die Reisebüros am meisten verdienten - Fernreisen waren schon immer etwas teurer, und für mittelalterliche Menschen war der "Nahe" Osten alles andere als nah, zumal wenn man sich keine Kreuzfahrt per Schiff leisten konnte, sondern über Land ziehen mußte. Zwar saßen schon seit längerer Zeit Mohammedaner im auch für sie heiligen Land, aber solange das Ägypter oder sonst irgendwelche Araber waren, konnte man sich ganz gut mit denen arrangieren - schließlich waren das zivilisierte Menschen, d.h. solche, die auch gerne gut verdienten, z.B. mit Hotels, Restaurants und dem Souvenir-Handel. In ganz Europa wimmelt es von echten Nägeln und Holzsplittern vom Kreuz Christi, von Händen, Füßen, Fingern, Zehen, Haaren und Zähnen aller möglichen und unmöglichen Heiligen und anderen "Reliquien".
Eines dieser Souvenirs, nämlich der Arm des Sankt Jacob, war Mitte des 11. Jahrhunderts in den "Galizien" genannten Nordwest-Zipfel der Iberischen Halbinsel gelangt, in ein Kaff namens Compostela - das man bald nach ihm "Santiago de Compostela" nannte - und hatte dort ein neues populäres Urlaubs-Zentrum entstehen lassen. Die Reise dorthin war zwar nicht ganz so lang und kostspielig wie die nach Palästina; aber auch die konnte sich noch längst nicht jeder Kreti und Plethi alljährlich leisten. Nur halbwegs wohlhabende Leute aus dem Adel oder gekrönte Häupter fuhren regelmäßig hin, zum Beispiel die mächtigen Herzöge von Aquitanien (für die es auch nicht allzu weit war), seit es Wilhelm V. an seinem bisherigen Urlaubsort Rom zu langweilig wurde. Dort wurden nämlich immer nur diese langweiligen Kirchenlieder gesungen; in Galizien dagegen sang man zwar auch fromme Marienlieder, aber daneben ziemlich freche Chansons, Cantigas genannt. Er brachte sie mit nach Hause und pflegte sie; sein Urenkel, Wilhelm IX., sollte der erste europaweit bekannte Chanson-Sänger werden. Da damals die Sänger Text und Musik ihrer Lieder noch selber erfanden, nicht von irgendwelchen Produzenten schreiben ließen, nannte man sie "Troubadours", (Er-)Finder. Einen gewissen Erfindergeist brauchte man auch, um den Touristen zu erklären, wieso der Arm des Sankt Jacob gerade erst vor 100 Jahren in Compostela aufgetaucht war, und dazu noch auf recht merkwürdigen Umwegen, denn gestorben war der überzählige Apostel eigentlich schon rund tausend Jahre zuvor im Heiligen Land. Aber die Touristen waren schon damals gutgläubig, zumal sie die Fahrt in die Heimat des Heiligen zunehmend scheuten, und zwar nicht nur aus Kostengründen. Palästina hatten nämlich inzwischen die türischen Seldschuken erobert, ebenfalls Mohammedaner (Sunniten zwar, während die Ägypter damals noch Shi'iten waren - aber den Unterschied machten die Christen nicht, Sarazene war Sarazene), aber eher von der ungehobelten Sorte, und die drohten dem lukrativen Fernreise-Verkehr alsbald ein Ende zu machen. Das wäre ärgerlich gewesen. Doch die Reiseveranstalter wußten Rat: Mit Gottes Hilfe und dem ausdrücklichen Segen des Papstes organisierten sie die erste bewaffnete Kreuzfahrt, befreiten das Heilige Land mit Gewalt von den Ungläubigen (auch von einigen Gläubigen, die dort noch lebten, aber so genau nahm man das nicht - die Gerechten würden schon in den Himmel kommen) und errichteten christliche Reisebüros.
[Exkurs. Ja ja, liebe Kritiker, so ganz stimmt das nicht, was Dikigoros da geschrieben hat; denn als die Kreuzfahrer vor Jerusalem ankamen, hatten es die Ägypter gerade von den Türken zurück erobert, und der "Reiseverkehr" für christliche Pilger war wieder frei gegeben; die Ägypter boten den Kreuzfahrern sogar ein Bündnis gegen die Türken an: Die Christen sollten den Ägyptern Palästina überlassen, selber Antiochia und Edessa behalten - das sie gerade erobert hatten, übrigens nicht von den Muselmanen, sondern von den christlichen Armeniern - und sich im übrigen dem Kampf gegen die Seldschuken widmen, der doch wohl viel wichtiger sei als der Kampf um Jerusalem, das sie ja kampflos besuchen konnten. Wohl wahr, das meinte auch der Basiläos von Byzanz, der seine "vorübergehend unter seldschukischer Verwaltung stehenden Ostgebiete" gerne zurück gewonnen hätte, ohne eigene Truppen dafür einzusetzen; aber die Kreuzfahrer sahen wie gesagt keinen Unterschied zwischen türkischen und ägyptischen "Sarazenen", oder wollten ihn nicht sehen... Und überhaupt: Versucht doch mal, einem Touristen, der extra nach Afrika gereist ist, um Löwen und Antilopen zu jagen, auf halbem Weg zu erzählen, er brauche gar nicht mehr bis ans Ziel zu fahren, denn die Löwen könne er mittlerweile auch kampflos im gerade neu eingerichteten Zoo besichtigen, und die Antilopen-Steaks im gerade neu eröffneten Restaurant "Zum verhinderten Safari-Jäger" auf dem Silbertablett serviert bekommen, während die armen Tiere im Urwald doch eigentlich unter Naturschutz gestellt werden sollten, statt sie zu jagen. Was meint Ihr, würde der tun? In Antiochia bleiben und dort den Zoo und das Restaurant besuchen? Und auch das, was Dikigoros im folgenden Absatz schreibt, stimmt nur bedingt; denn der Graf von Edessa hatte sein "Reisebüro" längst nach Turbessel verlegt, und das war nun wahrlich keine Reise wert. Aber das wußte Dikigoros damals noch nicht und - viel wichtiger - das wußten auch die Menschen in der Mitte des 12. Jahrhunderts nicht, als sie auf Kreuzfahrt gingen. So mögen Eure Informationen zwar richtiger sein, aber nicht besser, um das Fänomen zu erklären, daß sich so viele Menschen damals zu einer so gefährlichen Reise bereit fanden. Könnt Ihr denn die Faszination erklären, die noch heute von solchen Kreuzfahrten durchs Mittelmeer ausgeht und die noch immer die Orte in der Türkei, Palästina, Israel und Ägypten abklappert, zu denen es damals die Kreuzfahrer zog? Oder zu so vielen anderen Touristik-Zielen, die eigentlich gar keine Reise wert sind, obwohl die Reiseführer das immer behaupten, von A wie Ayers Rock in Australien bis Z wie Zuckerhut in Rio de Janeiro, vom Louvre in Paris bis zum Tāj Mahal in Āgrā? Wenn die Touristen immer die Wahrheit wüßten, kämen viele Reisen gar nicht zustande, und die Reisebüros würden reihenweise Pleite machen. Aber so finden sich halt immer wieder Dumme, und nachher sind sie ebenso enttäuscht wie Eleonore von Aquitanien vor achteinhalb Jahrhunderten. Exkurs Ende.]
Kaum 50 Jahre ist das jetzt her, und schon ist das alles wieder in Gefahr: Die Touristik-Hochburg Edessa ist gefallen, und Jerusalem (so heißt die "Stadt des Heils" verballhornt im Volksmund) wird fallen, wenn man nicht bald etwas unternimmt. Und genau genommen ist auch Santiago in Gefahr, denn auch auf der Iberischen Halbinsel sitzen Mohammedaner. Nun sind das zwar alles völlig verschiedene Bedrohungen, denn Edessa haben die Iraker erobert, Jerusalem wird allenfalls von den Fatimiden bedroht, und auf der Iberischen Halbinsel sitzen die Almohaden; aber in den Zentralen der christlichen Reisebüros wirft man das wie gesagt alles in einen Topf, schreibt "Sarazenen" drauf und knallt den Deckel zu. Die Könige von Frankreich und Deutschland rüsten zur zweiten bewaffneten Kreuzfahrt, die man nun "Kreuzzug" nennt, obwohl man noch längst nicht mit Zügen der Bagdad-Bahn, sondern zu Pferd (als Ritter) oder zu Fuß (als Normalreisender) unterwegs ist. Aber immerhin auf der gleichen Trasse, also über Byzanz, und das ist ja auch eine Reise wert. Die Kreuzfahrer sind denn auch beeindruckt von der damals größten Stadt der Welt, "strahlend in Purpur und Gold", wie ein Chronist schreibt. Einen ersten Eindruck davon bekommt man schon von weitem, wenn man die byzantinische Fahne über den Zinnen flattern sieht: ein goldener Stern über einer liegenden goldenen Mondsichel auf purpur-rotem Grund. Im Osten (auf Griechisch "Anatoli") der Stadt sitzen wie gesagt die türkischen Seldschuken, mit denen man sich also auch noch herum schlagen muß. Die schlagen aber besser, die Kreuzfahrer bekommen Prügel, ihre beiden Könige müssen fliehen. Bei Adalia (die Byzantiner schreiben es "Antalia", da das griechische "δ [Delta]" schon lange wie ein weiches englisches "th" ausgesprochen wird; für "d" steht jetzt "ντ [nt]", so wie das griechische "β [Beta]" schon lange als "w[ita]" ausgesprochen wird, während für "b" "μπ" [mp]" steht) erreichen sie die Südküste. Aber sie haben keine Muße, das idyllische kleine Hafenstädtchen mit den Augen des Touristen zu betrachten, sondern nehmen schnell ein Schiff nach Antiochia, der größten den Kreuzfahrern noch verbliebenen Touristen-Hochburg in Nahost. In Sachen Edessa erreichen sie zwar nichts; aber sie kehren nicht ganz unverrichteter Dinge wieder heim, denn immerhin bringen sie eine große Menge Reliquien mit, und die sind dem französischen König Ludwig eh das wichtigste - nicht umsonst nennt man ihn "den Heiligen". (Er hatte nie König werden wollen, sondern nur Abt von Notre Dame; aber seinem älterer Bruder Philippe, dem eigentlichen Thronfolger, war eines Tages, als er durch Paris raste, ein Wildschwein vors AutoPferd gerannt. [Jawohl, damals gab es in Paris zwar noch keine Autowerkstätten, keine Schweinefleisch-Fabriken und keine Affenpinscher als Schoßhunde, aber dafür Pferde, Wildschweine und Wölfe; der eben erwähnte "Louvre" heißt so, weil er ursprünglich ein Jagdschloß für die Jagd auf Wölfe war!] Das Pferd hatte vor dem Keiler gescheut und seinen Reiter abgeworfen, wobei der sich das Genick brach. Ludwig soll geheult haben, als man ihn aus dem Kloster holte und zwang, den Thron zu besteigen - und zu allem Überfluß auch noch die Frau -, die eigentlich für seinen Bruder vorgesehen waren :-) Außerdem hat der König der Franzosen im Orient noch zwei ausgefallene Gerichte kennen gelernt, die bald zum Lieblings-Essen der Grande Nation avancieren: Artischocken und Frosch-Schenkel, außerdem jede Menge exotischer Gewürze, wie Ingwer, Muskat, Nelken, Safran und Zimt. Ganz erfolglos war die Reise also doch nicht, denkt Ludwig und ist's zufrieden.
Ludwigs Frau, Eleonore von Aquitanien, die Enkelin Wilhelms IX., die man "Königin der Troubadoure" nennt, sieht das ganz anders. Ihr Mann, "dieser Mönch", wie sie ihn hinter vorgehaltener Hand nennt, hatte sie auf diese unerquickliche Fahrt mit geschleppt - die letzten Kilometer bis Jerusalem mit Gewalt; sie wäre lieber in Antiochia zurück geblieben und hätte sich dort verlustiert -, und sie hat nun vom Reisen die Nase gestrichen voll, läßt sich nach der Rückkehr von Ludwig scheiden (damals ein unerhörter Vorgang, der im ganzen Abendland Skandal macht) und heiratet statt dessen Heini Ginsterpflanze, den künftigen König von England. Der ist zwölf Jahre jünger als sie und hat im Bett auch noch andere Dinge im Kopf als Reliquien und Gebete. (Er denkt vielmehr an die Gebiete, die sie ihm mit in die Ehe bringt - halb Frankreich. Von ihm wird sie acht Kinder bekommen (von Ludwig hatte sie nur zwei Töchter, für deren Vaterschaft Dikigoros seine Hand nicht ins Feuer legen würde; boshafte Chronisten schwankten zwischen Bernard von Clairvaux - der die Kreuzfahrt nach Edessa initiiert hatte -, Heinis Vater Gutfried Ginsterpflanze und Eleonores Onkel Raymond von Poitiers; aber da sie schuldig geschieden wird, bekommt Ludwig das Sorgerecht für beide - das Familienrecht trieb schon damals bisweilen recht merkwürdige Blüten :-) und 14 ihrer Nachkommen, darunter zwei ihrer Söhne, Richard Löwenherz und Johann Ohneland, werden Könige von England. Was nicht heißt, daß sie in ihrer zweiten Ehe wirklich glücklich geworden wäre; wie das so ist, wenn die Frau zehn Jahre älter ist, sollte sich ihr Mann nämlich irgendwann eine jüngere nehmen, in diesem Falle die "schöne Rosamunde" (über die Theodor Körner ein früher recht bekanntes Theaterstück schreiben sollte); wer sich für die traurigen Einzelheiten interessiert, kann sie hier nachlesen.) Aus Artischocken und Frosch-Schenkeln macht sie sich nichts, die läßt sie leichten Herzens zurück, ebenso die Gewürze (was man der englischen Küche bis heute anmerkt); aber ihre beste Chanson-Sängerin, Marie de France (die erste Frau in Europa, die das beruflich macht), nimmt sie mit. Ihre neuen Untertanen, die Engländer, haben unterdessen vorgemacht, wie man eine Kreuzfahrt richtig durchzieht: Während die blöden Franzosen und Deutschen sich die Füße ablatschen und von den Türken abschlachten lassen, organisieren sie eine echte Seereise, segeln durch die Biscaya, landen in Galizien, holen sich ihren Pfingst-Segen bei Sankt Jacob ab, machen dann beim Grafen von Porto Station (der damals nur ein popeliger kleiner Vasall des Königs von León ist, dem Compostela gehört) und schippern weiter nach Lissabon. In blutigen Kämpfen wird die Stadt von Arabern gesäubert und dem Grafen von Porto übergeben. Der ernennt sich flugs zum "König von Portugal" und bedankt sich bei den Engländern mit einigen Fässern des süßen, schweren Likör-Weins, der bald zum Lieblings-Getränk der Nation avanciert; denn die geschäftstüchtigen Engländer lassen sich auch gleich das Monopol auf den Portwein-Handel einräumen. Das ist auf die Dauer noch viel lukrativer als der Handel mit Artischocken oder Frosch-Schenkeln, und erst recht mit diesen albernen Reliquien. Statt Nägel vom Kreuz Christi zu kaufen machen die Engländer lieber gleich Nägel mit Köpfen, und damit bauen sie Kriegsschiffe, die ihnen viele Jahre später die Herrschaft über die Weltmeere erobern sollen, von den Franzosen, die sie nur noch "Frosch-Fresser" nennen.
Am anderen Ende Europas aber ziehen rund 300 Jahre später die Türken in Byzanz ein und ändern erstmal ein paar Kleinigkeiten: Erstens verbieten sie als gute Muslime den Alkohol-Genuß (ohne zu bedenken, daß sie sich damit für die nächsten Jahrhunderte jeglicher Chance berauben, Geld am Tourismus zu verdienen), und zweitens ändern sie das Wappen: der Mond ist doch nicht golden, sondern silberfarben, und das Weltall ist nicht rot, sondern - so Allah will - demnächst grün, denn das ist nicht nur die Farbe der Umweltschützer, sondern auch die des Islam. Und überhaupt liegt die Mondsichel nie auf dem Rücken, sondern steht aufrecht.
Mehr als ein halbes Jahrtausend später steht ein anderer aufrechter Portwein-Freund oben auf dem alten Festungsberg von Lissabon, der nach dem Heiligen Georg benannt ist, und blickt hinunter: In der Ferne sieht er die berühmte neue Hängebrücke, die nach dem ehemaligen Finanz- und Premier-Minister Salazar benannt ist, dem fähigsten Regierungschef den Portugal je hatte, der das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine gebracht und aus dem Zweiten Weltkrieg heraus gehalten hat, aber im Ausland als "Faschist" verschrien ist. Am Fuße des Berges liegt die Alfama. Sie trägt noch diesen ihren arabischen Namen und hat auch noch sehr viel von ihrem alten arabischen Gepräge bewahrt; denn der Massen-Tourismus hat die Iberische Halbinsel noch nicht erobert. (Nicht genug, daß in Portugal ein "rechtes" Regime herrscht; auch in Spanien regieren noch die bösen Falangisten unter dem galizischen General Franco - der übrigens in Sachen Devotionalien-Fetichismus, pardon Reliquien-Gläubigkeit, nicht besser ist als die Galizier des Mittelalters: Er führt stets eine Hasenpfote als Glücksbringer mit sich, die zu gewinnen er den Spanischen Bürgerkrieg um mehr als zwei Jahre verlängerte, aber das ist eine andere Geschichte. In solche Länder fährt kein anständiger Demokrat auf Urlaub :-) Am Abend singt dort Amália Rodrigues, die beste Chanson-Sängerin Portugals, den Fado, jene eigenartige Mischung aus arabischen und aquitanischen Weisen, deren zentraler Begriff die "Saudade" ist, ein schwer zu übersetzender Begriff, in dem ein Russe vielleicht seine "Toská" wieder erkennen würde; im Wörterbuch steht "wehmütige Erinnerung". (Dazu mögen die Portugiesen in der Tat Grund haben, wenn sie an ihr einstiges Weltreich denken und sehen, was inzwischen daraus geworden ist.) Entgegen anders lautender Behauptungen haben die Portugiesen das arabische Erbteil in ihrem Land nicht ausgetilgt, sondern durchaus gepflegt, und sei es auch nur, weil sie nicht in der Lage waren, etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Deshalb taugt Lissabon auch noch nicht zur echten Touristik-Hochburg; aber im Hafen liegt immerhin schon ein großes, weißes Kreuzfahrt-Schiff vor Anker.
Einige Kreuzfahrer auf Tagesausflug haben die Kraxelei den Berg hoch auf sich genommen und erzählen Dikigoros, dem Portwein-Freund, wohin sie ihre Reise sonst noch führen wird: Malta, Istanbul (so heißt Byzanz jetzt), Cypern, Jerusalem. Noch kann sich nicht jeder Kreti und Plethi so eine Luxus-Kreuzfahrt im Traumschiff leisten; es sind halbwegs wohlhabende Leute aus dem Bildungs-Bürgertum, die sie unternehmen, vom Oberstudienrat aufwärts; und sie geben stolz zum besten, was sie über ihre Reiseziele gelernt haben, zum Beispiel, daß dort überall auch schon mal die alten Kreuzfahrer waren, die sich ihren Weg noch mit dem Schwert statt mit dem Portemonnaie bahnen mußten. Nach Jerusalem kamen sie nicht mehr, aber dafür eroberten sie Anfang des 13. Jahrhunderts Byzanz, eine ziemliche Dummheit, denn mit der Zerstörung dieser blühenden Handels-Metropole am Bosporus, des zweiten Roms und vorweg genommenen New Yorks, versetzten sie dem Oströmischen Reich den Todesstoß. Damit machten sie den Weg für die Türken frei; die drangen Mitte des 15. Jahrhunderts "in die Stadt" (auf Griechisch "Is ton polis" geschrieben und "Is tom bóli" gesprochen - die Türken verballhornten das zu "Istámbul", und die Deutschen zu "Ístanbul") ein und bedrohten bald darauf ganz Europa, bis Prinz Eugen, der Edle Ritter, sie vor Wien zurück schlug. (In Deutschland treffen gerade die ersten türkischen Gastarbeiter ein; aber die empfindet noch niemand als Bedrohung, im Gegenteil - schließlich hat man sie selber lautstark herbei gerufen, für schlecht bezahlte Tätigkeiten, bei denen sich viele Deutsche nicht mehr die Hände schmutzig machen wollen.) Auch auf Malta gibt es edle Ritter, die heißen Malteser und haben den gleichnamigen Aquavit erfunden, als Medizin für ihre Krankenhäuser; und auf Cypern kann man prima zollfrei einkaufen.
Dikigoros ist beeindruckt von so viel Wissen und Welterfahrung. Er selber war noch nie auf Malta oder Cypern, in Istanbul oder Jerusalem. Er pilgert nur ziemlich popelig über Land, 2. Klasse Eisenbahn. Auf der Rückfahrt macht er in der Hauptstadt Aquitaniens Station, die ihre Bewohner einfallslos "Wasserrand" nennen, da sie an der Mündung eines mittelgroßen Flusses in den Atlantik liegt. Er besucht dort den Auftritt eines französischen Chanson-Sängers, der gerade auf dem Höhepunkt seiner kurzen Karriere steht; viel Aquitanisches hat das, was er da singt, nicht. Aber die junge, noch unbekannte Sängerin, die im Rahmen-Programm auftritt, ihre Melodien und Texte selber schreibt, hat etwas an sich, das ihn sich ihren Namen merken läßt.
Noch ein paar Jahre später. In Portugal hat eine kommunistische Militär-Revolte Caetano, den glücklosen Nachfolger des viel geschmähten Salazar, hinweg gefegt und die Salazar-Brücke in "Brücke des 25. Aprils" umbenannt, zur Erinnerung an den Tag ihres Putsches. Der Mob hat die Hauswände mit seinem Symbol beschmiert: der byzantinischen Flagge! Allerdings hat die Mondsichel nun einen Griff, der Stern ist nach oben gerutscht, und die Witzbolde haben noch einen goldenen Hammer hinzu gefügt; und der Grund sieht weniger purpur- als vielmehr blutrot aus, vielleicht paßt das besser. Kopfschüttelnd betrachtet Dikigoros die Fotos in den Zeitungen. Und kopfschüttelnd liest er, daß einige der Putschisten das Fado-Singen verbieten wollen, da es Ausdruck einer faschistoïden Gesinnung sei - macht doch Amália Rodrigues keinen Hehl daraus, daß sie über Salazar ebenso denkt wie Dikigoros (und jeder andere, der noch alle Tassen im Schrank hat - aber wer hat das schon noch in solchen Zeiten). In Spanien ist der Galizier Franco gestorben, dort regiert nun wieder ein König. Den kennt aber kaum jemand, im Gegensatz zu einem Landsmann Francos, der inzwischen als Troubadour Weltruhm erlangt hat. Obwohl er einen sehr frommen Namen trägt, singt er weder fromme noch freche Lieder, geschweige denn Fados, sondern vielmehr das, was boshafte Kritiker "Schnulzen" nennen; doch die verstummen bald, denn er hat damit ungeheuren Erfolg. Er singt auch nicht mehr auf Galizisch - mit Ausnahme seines ersten Hits, "Um Canto à Galicia (ein Lied auf Galizisch)", in dem auch noch das Wort "Saudade(s)" vorkommt, und der ihn auf einen Schlag bekannt gemacht hat -, sondern auf Kastilianisch, Französisch, Englisch und Deutsch (und eigentlich ziemlich schlecht, er selber ist der erste, der das unumwunden zugibt). Aber auch das nehmen ihm seine Landsleute nicht übel - er ist der neue, unumstrittene Heilige von Galizien, zu dessen Auftritten die Massen pilgern wie einst zum Grab des Heiligen Jacob. In den nächsten Jahrzehnten wird er 250 Millionen Schallplatten verkaufen (so viele Menschen haben zur Zeit der Pilger-Fahrten nach Santiago de Compostela noch gar nicht gelebt auf der Erde!) und der erfolgreichste Sänger aller Zeiten werden.
Und wenn man es recht bedenkt, haben einige seiner Lieder auch gar nichts Schlager- oder Schnulzenhaftes an sich, geschweige denn etwas von "heiler Welt". Nur ein Beispiel:
"Con los ojos cerrados, con los ojos cerrados
Como presentiendo que horrible es el mundo que vamos a ver
Con el llanto en los labios, con el llanto en los labios
Como lamentando llegar a una tierra que buena no es
Así nacemos, así nacemos, así nacemos, yo, tu, ese y aquel
Con las manos cerrados, con las manos cerrados
Como preparados a dar dures golpes, morir or vencer
Con la piel arrugada, con la piel arrugada
Como fiel presagio del día que llegue la dura vejez
Así nacemos, así nacemos, así nacemos, yo, tu, ese y aquel
Amarrados a un cuerpo, amarrados a un cuerpo
Para que sepamos que el hombre no puede a su antojo correr
Arañando y buscando, arañando y buscando
La leche de un pecho, con hambre, con ansias, con llanto y con sed
Así nacemos, así nacemos, así nacemos, yo, tu, ese y aquel.
(Mit geschlossenen Augen, mit geschlossenen Augen
Als ob wir schon wüßten wie schrecklich die Welt ist die wir einmal seh'n
Mit dem Schrei auf den Lippen, mit dem Schrei auf den Lippen
Als wollten wir klagen wie schlecht diese Welt ist auf die wir nun geh'n
Sind wir geboren, sind wir geboren, sind wir geboren, ich, du, dieser und jener
Mit geschlossenen Fäusten, mit geschlossenen Fäusten
Als ob wir schon übten die Schläge zu führen auf Leben und Tod...)"
Na, und so weiter... Das ist ein böser Text, dessen Rest zu übersetzen Dikigoros sich und seinen Lesern an dieser Stelle erspart. (Wer es unbedingt wissen will und kein Spanisch kann, mag ihm eine E-mail schicken.)
Während Dikigoros eine Schallplatte von Julio Iglesias hört ("Julio" spricht sich übrigens auf Galizisch mit weichem "J", wie in Rio de Janeiro, liebe Leser, die Ihr in Spanien wart und deshalb wißt, wie man das harte "Jota" auf Kastilianisch ausspricht, nämlich wie ein deutsches "ch" in "ach" - Julio fühlt sich jedoch inzwischen als "Spanier" und spricht sich auch selber so aus), überlegt er, wo er seinen nächsten Urlaub verbringen soll. Auf Malta ist er immer noch nicht gewesen, in der Stadt des Heils auch nicht, und auf Cypern stehen sich waffenstarrend griechische und türkische Soldaten gegenüber, die die Insel besetzt und geteilt haben, da muß man ja nicht unbedingt zwischen die Fronten geraten. Aber Byzanz könnte man doch endlich mal besuchen, oder? Die Freunde raten ab: In der Türkei herrscht jetzt eine böse Militär-Regierung, die auf Friedhofsruhe und Ordnung hält, das kann man doch nicht auch noch unterstützen. "Wieso nicht?" denkt Dikigoros, der als altgedienter Soldat gut mit anderen Soldaten kann, von Südamerika bis Südostasien, "besser Friedhofsruhe und Ordnung als Aufruhr und Unordnung." Die türkischen Militärs sind immer ein Hort der Vernunft in ihrem nur äußerlich laïzistischen Staat gewesen, wo ständig unterschwellig die Machtergreifung radikaler Muslime droht; und daß sie den sozialistischen Minister-Präsidenten zum Teufel gejagt haben, stört Dikigoros auch nicht. (Ja, liebe sozial-demokratische Leser, Dikigoros weiß wohl, mit welcher Parole Ihr das Anerkennen von und das Paktieren mit manchen sozialistischen und kommunistischen Regimes rechtfertigen wollt: "Die sind doch demokratisch gewählt worden!" Mag sein, aber das war Hitler auch, allerdings mit einem wesentlich höheren Stimmenanteil als die meisten sozialistischen Führer unserer Zeit - auch Wähler können irren.) Also fährt er hin, aber nicht mit dem Kreuzfahrtschiff, sondern mit dem Zug; und da er keine Lust hat, durchs kommunistische Bulgarien zu reisen und denen ein teures Transit-Visum abzukaufen, nimmt er nicht die direkte Route von Belgrad südöstlich über Sofia und Adrianopel (Edirne) an den Bosporus - der einst Gottfried von Bouillon auf dem "Ersten Kreuzzug" folgte -, sondern er entscheidet sich für einen Umweg über Griechenland: Erst nach Süden, dann die alte "Via Egnatia" entlang von [Thes]Saloníki aus östlich, der auch Raimund von Toulouse, Bohemund von Tarent und Robert von Flandern folgten. Und anders als die letzteren macht er vorher noch einen Abstecher nach Athen, das damals ein unbedeutendes Kuhdorf in der byzantinischen Provinz war, jetzt aber wieder die Hauptstadt Griechenlands ist; für Dikigoros hat das den Vorteil, daß er auch mal die andere Seite hören kann.
"UND NICHT VERGESSEN GRIECHEN HAUPTSTADT DES GRIECHENLANDES IST KONSTANTINOPEL" |
In Athen ist die Stimmung aufgeheizt: Die böse türkische Militär-Regierung hält noch immer die Osthälfte des urgriechischen Cyperns besetzt! (Daß die griechische Militär-Regierung angefangen hat, indem sie den Erzbischof Makários gestürzt hat, um das bis dahin unabhängige - und z.T. von Türken bewohnte - Cypern zu annektieren, davon spricht hier kein Mensch.) Und das ist ja noch längst nicht alles! "Was denn noch?" fragt Dikigoros. Ein paar junge Leute führen ihn in eines ihrer Lokale. Dort hängt eine große Karte von Groß-Griechenland an der Wand: dazu zählt all das, was Dikigoros aus dem Geschichts-Unterricht als "Kleinasien" erinnert, d.h. die ganze westanatolische Küste und noch ein gutes Stück vom Hinterland. Hauptstadt dieses Gebildes ist "Konstantinopolis" - so nennen die Griechen Byzanz jetzt wieder. (Schon etwas länger als Dikigoros damals ahnt: Bereits der Fuß-Wanderer und "Spaziergänger" Seume schrieb zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also noch bevor Griechenland wieder unabhängig wurde, "von Lissabon bis Konstantinopel". Natürlich kennen die Griechen auch noch "Wisá[n]dion" [mit weichem "s"], aber halt nur als historischen Namen). "Von Rechts wegen müßte das alles uns gehören. Wir haben diesem Land Jahrtausende lang die Kultur gebracht; die Türken sind nur gekommen, haben schmarotzt und alles kaputt gemacht; erst haben sie unsere Leute unterjocht, und dann, in den 20er Jahren, haben sie uns mit Gewalt vertrieben." (Daß die Griechen diesen unseligen Krieg selber angefangen hatten, davon spricht hier kein Mensch. Auch nicht davon, wie mies sie ihre aus Kleinasien geflohenen Landsleute zunächst behandelten, so mies, daß die meisten auswanderten, ins ferne Amerika oder ins noch fernere Australien.) Dikigoros löst also eine Fahrkarte nach "Konstadinupoli" (so sprechen sie es heute aus) und prägt sich vor der Abfahrt noch schnell ein, daß Byzanz dort Istámbul heißt, Gyros "Döner" und Pitsa "Lahmarsch" oder so ähnlich. (Daß türkischer Kaffee dort einfach "Kafes" heißt, während er in Griechenland "ellinikó" - griechischer [Kaffee] - genannt wird, nimmt er nur als Kuriosum am Rande zur Kenntnis; er trinkt eh lieber Tee, und der heißt, wie überall im Osten, cai [gesprochen "tschaj"].)
Dikigoros besucht den Topkapi-Serail, über dem jetzt wieder die alte byzantinische Flagge weht: die Mondsichel liegt wieder auf dem Rücken, statt aufrecht zu stehen, und über statt neben ihr prangt wieder ein Stern. Auch das Feld ist wieder rot, allerdings hat das nichts mit dem Kommunismus zu tun, denn diese Änderung stammt schon von 1876, und die Sichel hat auch keinen Griff; nur die silberne Farbe der Himmelskörper unterscheidet das moderne türkische Wappen noch vom alten byzantinischen. (Die Bezeichnung "türkischer Halbmond" ist also in doppelter Hinsicht falsch: Erstens ist es kein Halbmond, sondern nur eine Sichel, und zweitens ist diese nicht türkisch.) Dikigoros latscht auch die alte, halbverfallene Stadtmauer ab und besichtigt die Hağia Sofia, von der er ziemlich enttäuscht ist, nach allem, was er darüber gehört und gelesen hat. Sie war einst die Hauptkirche von Byzanz, dann bauten die Türken noch 4 Minarette drum herum und funktionierten sie zur Moschee um; heute ist sie ein Museum, das kahl und leer wirkt. Besucht wird sie kaum - der Massen-Tourismus hat die Türkei noch nicht erobert, und die wenigen potentiellen Einzel-Touristen werden vom schlechten Ruf der Militär-Regierung abgeschreckt. Außer Dikigoros verliert sich nur ein junger italienischer Professor für Mittelalterliche Geschichte in dem riesigen Innenraum. Sie kommen ins Gespräch, über Byzanz, seine große Vergangenheit und seine triste Gegenwart als nicht-einmal-mehr-Hauptstadt der Türkei. Dikigoros gibt zum besten, was ihm die Kreuzfahrer in Lissabon erzählt haben - und was ja auch in den Schulbüchern steht. Der Professor lächelt mitleidig: "Und diesen Unsinn glauben Sie?" - "Was meinen Sie?" - "Nun, die naïve Bewertung der diversen Eroberungen und ihrer Folgen. Für den Kreuzzug gegen Byzanz anno 1204 gab es sicher bessere Gründe als für jeden Kreuzzug ins Heilige Land davor oder danach, moralisch, wirtschaftlich und politisch. Aber lassen wir das mal dahin stehen. Es ist schlicht falsch, daß damals eine blühende Wirtschafts-Metropole zerstört wurde. Eine solche hätten die Kreuzfahrer nie erobern können. Tatsächlich war Byzanz schon ziemlich marode, und das hatte es sich selber zuzuschreiben. Die Träger des byzantinischen Wirtschaftswunders waren nämlich zu allen Zeiten Italiener, schon im Gesamtrömischen Reich, und erst recht danach im Oströmischen. Formell waren Venedig und die anderen italienischen Stadt-Staaten zwar Kolonien von Byzanz, aber in Wirklichkeit wurde die byzantinische Wirtschaft von Kaufleuten aus Venedig und Genua gemanagt." Er gebraucht tatsächlich das Wort "maneggiare", und obwohl Dikigoros recht gut Italienisch spricht, fällt ihm zum erstenmal auf, daß dieses Wort aus dem Italienischen kommt - wo es freilich einen leicht negativen Beigeschmack hat; der "Manager" im positiven Sinne nennt sich dort "impresario".
Gemeinsam wandern sie hinunter zum "Goldenen Horn" (auch diese Bucht wirkt nicht mehr golden, sondern eher wie eine trübe, braune Brühe) und blicken zum anderen Ufer hinüber. "Sehen Sie," fährt der Professor fort, "Galata, dort drüben, gehörte ganz den Italienern, aber auch hier am Westufer hatten sie große Faktoreien. Kurz vor dem 4. Kreuzzug hatten die byzantinischen Griechen sie aus Neid enteignet, vertrieben und ihre Warenlager geplündert. Dabei entstand ein Großbrand, bei dem die halbe Stadt abgefackelt wurde. Die Kreuzfahrer haben nur noch einen herunter gekommenen Pleitegeier erlegt. Ferner ist die Behauptung falsch, Europa hätte dadurch irgend etwas an Kultur verloren. Im Gegenteil: Da die Kreuzfahrer eine Menge antiker Schriften nach Italien zurück brachten, welche die byzantinischen Kaiser einst aus dem alten Rom hatten mitgehen lassen und die bei ihnen bloß in den Archiven vergammelten, ist in Europa erst die Renaissance möglich geworden. ("Rinascenza", Wiedergeburt, ebenfalls ein italienisches Fort.) Und gar die Behauptung, durch den 4. Kreuzzug sei den Türken der Weg nach Europa geebnet worden, entbehrt jeder Grundlage. Die haben Byzanz erst zweieinhalb Jahrhunderte später erobert - wo soll da der Kausal-Zusammenhang liegen? Die Türken saßen schon Ende des 11. Jahrhunderts in Anatolien; Byzanz war ja zuletzt nur noch eine Insel im Osmanischen Reich, etwa wie West-Berlin heute. Übrigens eine weitgehend italienische Insel, denn die Genuesen und Venezianer waren mit den Kreuzfahrern zurück gekehrt. Und erst als die Genuesen zu der Überzeugung gelangten, daß sie sich wirtschaftlich besser stünden, wenn sie die Türken in die Stadt ließen, um die Venezianer gegen sie auszuspielen, gelang denen 1453 die Eroberung. Sehen Sie, dort unten, am Eingang zum Goldenen Horn, hing eine große Eisenkette im Wasser, die damalige Schiffe nicht passieren konnten. Die Genuesen haben sie heimlich gelöst, und danach konnte die venezianische Flotte die Angreifer nicht mehr abwehren. Es war eine rein italienische Sache."
"Dann scheinen sich die Italiener damals aber ziemlich verrechnet zu haben," meint Dikigoros. "Auf den ersten Blick ja, da war es eine Fehlkalkulation. Denn die Türken hatten ja nichts eiligeres zu tun, als das ganze östliche Mittelmeer für alle fremden Schiffe zu sperren, auch für genuesische. Undank ist halt der Welt Lohn." - "Man liebt den Verrat, aber nicht die Verräter," bemerkt Dikigoros und verkneift sich einen Hinweis auf das Verhalten der Italiener im Ersten und Zweiten Weltkrieg. "Aber auf lange Sicht hat der Fall von Byzanz Europa mehr Vor- als Nachteile gebracht. Indem die Türken die Handelsroute nach Fernost unterbrachen, haben sie uns nämlich gezwungen, einen alternativen Seeweg nach Indien zu suchen. Und dabei haben wir immerhin Amerika entdeckt." - "Wer ist wir?" fragt Dikigoros. "Wir Italiener natürlich. Der Genuese Christofero Colombo hat Mittel-Amerika entdeckt, der Venezianer Giovanni Cabatto Nord-Amerika, und der Fiorentiner Amerigo Vespucci, nach dem der ganze Kontinent benannt ist, Süd-Amerika. Und wenig später haben wir, also wieder zwei Italiener, den Seeweg nach Indien dann ja auch tatsächlich entdeckt, sogar zwei Seewege: erst Vasco da Gama den östlichen um Afrika herum, und dann Antonio Pigafetta den westlichen um Südamerika herum, den Colombo gesucht hatte. Sie sehen, ohne den Untergang des alten Byzantions und die Tüchtigkeit der Italiener gäbe es heute kein New York. Und ohne die Italiner Leonardo da Vinci, Giordani Bruno und Galileo Galilei würden die Menschen heute nicht zum Mond fliegen. Die Genuesen hatten also doch richtig kalkuliert. Spielen Sie übrigens Schach?" - "Ja, wieso?" (Dikigoros war sogar mal Jugendmeister.) "Das ist auch eine italienische Erfindung. Die Italiener haben es damals aus Indien mitgebracht und zu dem gemacht, was es heute ist. An den unterschiedlichen Regeln können Sie den Unterschied in der Denkweise sehen: Wir haben weiter und raumgreifender gedacht als andere Völker jener Zeit; dagegen hatten Ihre Kreuzfahrer den Horizont von... Kreuzrittern."
Dikigoros findet diese Ansichten eines Prof(i)s zwar recht interessant, aber so ganz überzeugen tut ihn das alles nicht: Hat den westlichen Seeweg nach Indien nicht Magelhaez entdeckt? Und war der nicht Portugiese - wie Vasco da Gama auch? Und John Cabot aus Bristol, war der nicht Engländer? Und haben das Schachspiel nicht die Inder oder die Perser erfunden? Und was hatten die Genueser davon, daß Kolumbus für die Spanier Amerika entdeckte? Gar nichts. Und was heißt überhaupt "Entdeckung"? Schließlich gab es schon eine Halbinsel Manahattan, bevor Peter Stuyvesant sie den Indianern abkaufte, um Neu-Amsterdam darauf zu gründen, das dann unter dem Namen New York für kurze Zeit die Stadt mit den meisten Italienern auf der Welt wurde. Und die Reiche der Azteken und Inka gab es auch schon, bevor Cortez und Pizarro Mexiko und Perú "entdeckten"; und ohne die letzteren hätte er, Dikigoros, auf seinen eigenen Reisen dorthin vielleicht etwas mehr entdecken können als nur ein paar verfallene Ruinen.
Dikigoros besucht auch den Großen Bazaar, und dort erzählt ihm ein alter Türke, der lange Zeit als Gastarbeiter in Deutschland gelebt hat, die Geschichte noch einmal, nach griechischer und italienischer Sicht diesmal aus türkischer: "Sie müssen sich von dieser einseitigen Betrachtung aus der Sicht eines Kreuzritters frei machen," sagt er, "das Verhältnis zwischen Türken und Griechen war nicht immer so schlecht, wie man es Sie heute glauben machen will. Wir hatten den Griechen eine bevorzugte Stellung im ganzen Osmanischen Reich eingeräumt. Den gesamten Außenhandel hatten sie in der Hand, und große Teile der inneren Verwaltung auch. Wenn jemand schuld ist an unserem wirtschaftlichen Niedergang, dann diese Griechen. Und wir haben uns doch wirklich nicht in ihre Angelegenheiten eingemischt. Niemand hat ihnen unsere Religion und Kultur aufgezwungen, im Gegenteil. Die würden sich doch heute noch von Oliven, Schafskäse und Wasser ernähren, wenn wir ihnen nicht Shish Kebab, Döner, Pilav, Auberginen, Baklavan, Tee und Kaffee gebracht hätten. Die Griechen hätten heute noch nicht einmal an ihrem höchsten kirchlichen Feiertag ein Osterlamm zu essen, wenn wir ihnen nicht die Schafzucht beigebracht hätten. Überhaupt hatte die orthodoxe Kirche, bevor Griechenland Bestandteil des Osmanischen Reichs wurde, nie eine überragende Stellung; erst der Sultan hat ihr die verschafft. Und der südliche Balkan wurde erst mit unserer Hilfe eine richtige griechische Kolonie, einschließlich Rumäniens und der russischen Schwarzmeer-Küste, die damals auch zum Osmanischen Reich gehörten. Odessa war bis 1945 eine fast rein griechische Stadt, wußten Sie das?" Nein, das wußte Dikigoros nicht.
Aber der Alte hat noch nicht fertig: "Die Griechen waren gerne Untertanen der Pforte. Als diese Räuberbanden 1821 los geschlagen haben gegen uns, hat sie kein anständiger Grieche unterstützt, und der Aufstand ist zusammen gebrochen. Erst die Intervention der ausländischen Mächte hat Griechenland aus dem Osmanischen Reich heraus gerissen, weil die Engländer und Italiener wirtschaftliche Interessen im Mittelmeer hatten. Und ihr Deutschen habt euch noch dafür hergegeben, einen bayrischen Prinzen als König hin zu schicken. Und als der ihnen Athen, dieses Kuhdorf, wieder aufgebaut hatte, haben sie ihn zum Dank davon gejagt und Staatsbankrott erklärt. Woher habt ihr Deutschen bloß diese komische Griechenland-Schwärmerei? Die Griechen sind euch in zwei Weltkriegen in den Rücken gefallen. Wir Türken haben dagegen immer treu zu euch gehalten. Auch jetzt, wo ihr Arbeitskräfte-Mangel habt. Ich habe mein halbes Leben in Deutschland als Facharbeiter am Fließband gestanden, obwohl ich eigentlich gelernter Ingenieur bin." - "Die Griechen sind Christen, ihr seid Muslime," sagt Dikigoros, "und die Türken-Greuel in Griechenland, und der Völkermord an den Armeniern..." - "Ach, so ein Unsinn. Wofür die Religion doch immer herhalten muß. Die so genannten Türken-Greuel, die der Westen zum Anlaß genommen hat, Griechenland von uns zu trennen, haben in Wirklichkeit die Ägypter begangen, und die Armenier, die wir im Ersten Weltkrieg hingerichtet haben, waren aufständische Verräter und Partisanen. Die Kreuzzüge, die der Westen bis ins 20. Jahrhundert gegen die Türkei geführt haben, waren ein großes Unglück für die Welt. In Südost-Europa und im Nahen Osten gab es nur so lange Frieden, wie er geschlossen zum Osmanischen Reich gehörte. Wenn Sarajewo türkisch geblieben wäre, hätte es keinen Ersten Weltkrieg gegeben. Und wenn die Alliierten danach nicht das Osmanische Reich zerschlagen hätten - der Vertag von Sèvres war eine noch viel größere Dummheit als der Vertrag von Versailles mit Deutschland -, dann gäbe es heute kein Palästina-Problem, und kein arabisches Golf-Scheichtum könnte Ihnen plötzlich den Ölhahn zudrehen." Nein, denkt Dikigoros, aber die Türkei könnte es, denn sie wäre der reichste und wirtschaftlich mächtigste Staat der Welt. Da sind die Öl-Scheichs vielleicht doch das kleinere Übel... "Und zum Kleinasien-Krieg sind die Griechen auch vom Westen aufgehetzt worden, vor allem von den Franzosen und Italienern. Wir wollten ihn nicht. Unsretwegen hätten die Griechen getrost weiter dort leben können. Aber das genügte ihnen ja nicht; sie wollten ganz Anatolien erobern. Was blieb uns übrig? Wir haben uns bloß verteidigt."
Tja, wer hat nun die Wahrheit gesagt? fragt sich Dikigoros, der Grieche, der Italiener oder der Türke? Die Wahrheit? Welche Wahrheit? Vielleicht gibt es mehrere Wahrheiten? Oder mehrere Halb-Wahrheiten? Denn so ganz wahr ist die Wahrheit des Türken wohl auch nicht: Auch die Türkei ist Deutschland 1945 noch schnell in den Rücken gefallen und hat ihm kurz vor Toreschluß den Krieg erklärt, und der gute Mann kann schwerlich sein halbes Leben an einem deutschen Fließband verbracht haben - so lange gibt es noch gar keine Gastarbeiter! Und war es 1922 zur "Verteidigung" nötig gewesen, das griechische Smyrna, die nach Istanbul größte und dem Vernehmen nach schönste Stadt Kleinasiens, abzufackeln, bis kein Stein mehr auf dem anderen stand? Aber das hat ja Tradition; die alten Griechen hatten es seinerzeit mit Troja nicht anders gemacht, auf dem ersten Kreuzzug überhaupt, der uns überliefert ist, vom ersten Troubadour überhaupt, den wir kennen, der das ganze in eine überlange und etwas absurde Ballade vom Streit zweier Schwuler um eine Frau einkleidete. Ómiros hieß er (jedenfalls bei den Griechen; die Deutschen nennen ihn "Homer" und betonen ihn falsch auf der zweiten Silbe), und er kam - aus Smyrna. Was die türkische Eß- und Trinkkultur anbelangt, so haben die Türken den Griechen tatsächlich so manche Unart beigebracht, zum Beispiel den Tee aus diesen blöden Gläschen ohne Henkel zu trinken, die viel zu klein sind und an denen man sich so leicht die Finger verbrennt. Und darauf sind sie auch noch stolz...
[Exkurs. Viele Jahre später sollte ein türkischer "Historiker" behaupten, nicht die Italiener, sondern die Türken hätten Amerika entdeckt. Beweis: Es ist auf der Seekarte des türkischen Francis Drake - Piri Reis nannte sich der Freibeuter - eingezeichnet. Der gute Mann scheint nicht zu wissen, daß jene Karte aus dem Jahre 1513 datiert - da hatte er die Berichte des Colombo vermutlich bereits zur Kenntnis genommen und "verarbeitet". Aber inzwischen hat Dikigoros noch eine vierte Version gehört, von einem jungen ägyptischen Nationalisten, einem Bewunderer Nassers, der ihn aus unerfindlichen Gründen für einen DDR-Bürger hielt, und der seinerseits keinen Unterschied machte zwischen mittelalterlichen Juden und modernen Israelis, Byzantinern und modernen Griechen, Selçuken und modernen Türken, Franken und modernen Westeuropäern: "Solange die ägyptischen Fatimiden in Palästina waren, ging es allen gut, Christen, Juden und Muslimen aller Konfessionen. Wir Ägypter waren nie religiöse Fanatiker." Dikigoros schweigt. "Die Byzantiner waren immer unduldsam, und die Türken sind bis heute Rassisten; im Osmanischen Reich wurden die Ägypter und Araber doch schlechter behandelt als die nicht-muslimischen, aber dafür umso besser zu besteuernden Geschäftsleute, die Griechen, die Juden und die Armenier - na ja, bis auf die Armenier-Greuel im Ersten Weltkrieg, aber das war halt, als die Türken Ägypten und die arabischen Gebiete schon verloren hatten und sonst niemanden mehr fanden, an dem sie ihre sadistischen Neigungen austoben konnten. Die Franken kamen nur aus kapitalistischer Habgier nach Palästina, um es auszubeuten - denn wegen des Glaubens hätten sie es nicht erobern müssen -, so wie sie heute wieder das arabische Erdöl ausbeuten wollen. Und die Juden... na, Sie sehen ja, wie die bis heute mit den Palästinensern umspringen. Und dann noch jammern und sich als Opfer aufspielen. Aber Sie in der Deutschen Demokratischen Republik zahlen denen ja zum Glück keine Wiedergutmachung; das tun ja nur die dummen Kapitalisten in der BRD." Soweit also der Ägypter. Und Dikigoros? Der hat sich bis heute, nach vielen Jahrzehnten, noch immer kein abschließendes Urteil gebildet - diese Geschichte ist halt allzu verworren, zumal er inzwischen auch noch einer fünften Version über die Entdeckung Amerikas begegnet ist - aber die hat nun wirklich nichts mehr mit Kreuzfahrern zu tun, weshalb er interessierte Leser auf diesen Link verweist. Nachtrag: Anno 2014 behauptete der neue türkische Staatspräsident, nicht Kolumbus, sondern die Türken - oder andere Muslime - hätten Amerika entdeckt. Dabei berief er sich freilich nicht mehr auf Piri Reis, sondern... auf Kolumbus selber! Der hätte in seinen Erinnerungen geschrieben, daß er auf einem Berg in Kuba eine Moschee gesehen habe. Diese Stelle muß Dikigoros wohl entgangen sein; und er hat auch sonst noch nichts von jener famosen Moschee gesehen, gehört oder gelesen; er wollte es seinen Lesern bloß nicht vorenthalten, damit sie auch etwas zu lachen haben. Exkurs Ende.]
Auf der Rückreise macht Dikigoros noch einmal in Griechenland Station, um die Ruinen von Mystras zu bekraxeln, zusammen mit einem jungen Münchner, der gerade ein Studium der Klassischen Filologie, der Archäologie und der Kunstgeschichte begonnen hat. Als geübter Bergsteiger macht dem das gar nichts aus; Dikigoros hetzt mit hängender Zunge hinterher. Die Fresken in den alten Kirchen kommen ihm eher wie russische Ikonen vor denn wie Zeugnisse der griechischen Vergangenheit. "Täuschen Sie sich nicht," meint der Student, "Griechenland ist nicht Hellas. Das ganze Gerümpel auf der Akropolis von Athen oder in Akrokorinth haben irgendwann im 19. Jahrhundert die Bayern wieder aufgebaut, und das in Olympia die Preußen; aber das hier ist echt, und nur das hier. Griechenland hat vom byzantinischen Erbe viel mehr bewahrt als es selber wahr haben will, und viel weniger von der klassischen Antike, als die meisten Ausländer glauben." - "Aber die Sprache?" - "Ach was, die müssen die Griechen heute auf der Schule lernen, wie eine Fremdsprache. Die so genannte Volkssprache ist doch wie eine Parodie auf das Alt-Griechische. Das war so eine schöne, vokalreiche Sprache, mit vielen Diftongen, die ursprünglich sogar in mehreren Tonhöhen quasi gesungen wurde. Und heute? Nicht mal die Türken, denen die Griechen vorwerfen, sie kulturell unterdrückt zu haben, haben so einen kümmerlichen Lautbestand in ihrer Sprache wie das Neu-Griechische. Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, wie dumpf und monoton diese Sprache klingt? Die kennen kein helles, geschlossenes e und o mehr, und grundsätzlich nur noch lange Vokale. Und aus allen Diftongen haben sie unterschiedlos ein i gemacht. Dies ist nicht nur ein armes, sondern auch ein arm-seliges Land."
"Immerhin haben sie Zeitungen, auf deren ersten Seiten über die Spiele der deutschen Fußball-Bundesliga berichtet wird," bemerkt Dikigoros. Der Student ist zwar ein großer Fan des FC Bayern München, der gerade die Schlagzeilen ziert, doch das läßt er nicht gelten: "Ja, aber das bedeutet nicht, daß die sich Europa in irgendeiner Weise zugehörig fühlen; Ewrópi ist für die ein fremder Kontinent irgendwo im Westen, wo die Kreuzfahrer her gekommen sind und die teuren Importwaren, fast wie Amerika, bloß daß da kein reicher Onkel wohnt, sondern nur ein paar arme Neffen, die ab und zu mal ein paar Mark Devisen von ihrem Gastarbeiter-Lohn nach Hause schicken." - "Aber betrachten die Griechen ihr Land nicht irgendwie doch als die Wiege des Abendlandes?" - "Kaum, viel eher als Wiege der orthodoxen Welt; aber von der trennt sie nun der Eiserne Vorhang, seit die Kommunisten den Bürgerkrieg verloren haben. Und die Wiege ihrer eigenen Kultur sehen sie eben nicht hier, sondern im Orient, in Kleinasien, in Troja und in Konstantinopel, und von dort haben die Türken sie vertrieben; die haben einfach kein Glück. Wundert es Sie da, daß die ihrer Glücksgöttin den Namen Tücke gegeben haben?"
"Woran wollen Sie das fest machen, das mit der Verbindung zum Orient?" fragt Dikigoros, "bloß am Essen und Trinken?" - "Daran auch, aber nicht allein daran. Hören Sie doch mal." Von irgendwoher tönt griechische Musik. Es ist genau das gleiche Gedudel wie in der Türkei - jedenfalls kommt es Dikigoros' Ohren so vor, und er hält sich eigentlich für recht musikalisch. "Das war mir noch gar nicht aufgefallen." - "Sehen Sie, was wir Wiener Klassik nennen, hat seine Wurzeln in Italien, und zwar just zu der Zeit, als die Türken Byzanz erobert hatten, deshalb konnten die Griechen diese musikalische Entwicklung des übrigen Europas nicht mit machen. Die sind stehen geblieben auf ihren im wahrsten Sinne des Wortes eintönigen Melodien, ohne Harmonien und Akkorde, ohne Takt und Rhythmus. Dagegen spielen selbst die Beatles und die Rolling Stones noch heute nach den gleichen Noten wie Haydn, Beethoven oder Mozart. Die Wiener Klassik hat sogar China und Japan erobert, und den Ostblock. Und selbst das, was wir "amerikanischer Jazz" nennen, ist eigentlich bloß ein leicht veränderter Re-Import. Nur zwei Kulturkreise auf der Welt verschließen sich dem: der islamische und der griechische. Deshalb gehört Griechenland nicht mehr zum Westen, geschweige denn zu Europa."
Dikigoros hat noch zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges; die beiden verbringen sie in einem Straßen-Café auf dem "Platz der Harmonie", mitten im Zentrum der Smog-Glocke, die über Athen hängt. Hier laufen die drei größten Straßen der griechischen Hauptstadt zusammen. Die eine führt zum Piräus, dem alten Hafen, und heißt auch so - das ist nachvollziehbar. Die zweite heißt "Straße des 28. Oktober". Auch das ist verständlich - schließlich ist es Dikigoros' Geburtstag. - "Nein, das ist der griechische National-Feiertag," sagt der Student, "denn am 28. Oktober 1940 hat Italien Griechenland den Krieg erklärt - oder umgekehrt, da streiten die Gelehrten." Das versteht Dikigoros nun gar nicht: Der Beginn von vielen Jahren Krieg, Besatzung und Bürgerkrieg - was gibt es da zu feiern? Die dritte heißt "Venizelos-Straße". - "Wer war denn das?" will Dikigoros wissen. "Das war der griechische Hitler." - "Was? Doch sicher erfolgreicher?" - "Nein, mitnichten. Er war außerhalb der damaligen Landesgrenzen geboren, auf Kreta, ist auf fragwürdige, aber legale Art und Weise an die Macht gekommen, hat den Anschluß seiner Heimat an Griechenland erreicht, hatte praktisch das ganze begeisterte Volk hinter sich und hat es dann in einen Krieg geführt, in dem Griechenland seine Ostgebiete und ein Fünftel seiner Bevölkerung durch Kampfhandlungen, Vertreibung oder auf der Flucht verloren hat. Aber die Griechen sind von ihm bis heute ebenso begeistert wie die Franzosen von Napoléon Bonaparte." (Ob man das vergleichen kann? Die Franzosen haben doch keinen Grund, dem Korsen Napoleone Buonaparte böse zu sein - schließlich hat er in Rußland hauptsächlich deutsche Hilfs-Truppen verheizt.)
Wieder zuhause, macht sich Dikigoros die Mühe, das mit dem Kleinasien-Krieg nachzulesen. (Reisen bildet ja nur dann, wenn man das, was man unterwegs gesehen und gehört, aber nicht verstanden hat, hinterher aufarbeitet - schließlich kann man unterwegs kein mehrbändiges Lexikon mit schleppen!) Es ist die Geschichte des letzten und idiotischten Kreuzzugs, der mehr Opfer gekostet hat als alle anderen vor ihm zusammen, und wieder ging es gegen Byzanz. Die Griechen hatten gerade die Balkan-Kriege hinter sich und wollten eigentlich im Ersten Weltkrieg neutral bleiben, da waren sich der König - ein Schwager des deutschen Kaisers - und die überwiegende Mehrheit des Volkes einig. Den Alliierten aber war das gar nicht recht. Sie verhängten erst eine Hunger-Blockade über Griechenland, und als das nichts half, überfielen sie das wehrlose Land, landeten Truppen in Saloniki, zwangen den König zur Abdankung und ins Exil in die Schweiz. An die Macht brachten sie den kretischen Abenteuer Venizelos, der die Griechen in den Krieg führte, gegen das Versprechen, nach Zerschlagung des Osmanischen Reichs Konstantinopel und Kleinasien zu bekommen. Als der Krieg vorbei und die Türken geschlagen waren, schnitten sich die Alliierten denn auch alle ein paar schöne fette Happen aus der Beute heraus - lauter alte Bekannte: Frankreich nahm die einstigen Touristen-Hochburgen Edessa und Antiochia nebst Umland (das nannten sie jetzt "Syrie"), die Engländer nahmen Jerusalem nebst Umland (das nannten sie jetzt "Palestine"), und die Italiener Adalia. Die englische Flotte setzte das griechische Heer nach Kleinasien über. Das marschierte auf Ankara, die neue Hauptstadt der Türkei. Doch das griechische Volk hatte die Nase voll vom Krieg; es wählte Venizelos ab und holte den König ins Land zurück - die Royalisten hatten den Wahlkampf mit dem Versprechen geführt, Frieden zu schließen. Aber was kümmerte den König sein dummes Geschwätz von gestern? Wahlvieh ist dazu dazu da, um belogen und betrogen zu werden! Und Wahlversprechen können bedenkenlos gebrochen werden, das war schon immer so und wird auch immer so sein. Er führte also den Krieg weiter.
Doch da wechselten die Alliierten plötzlich die Fronten: Sie hatten ihre Versprechungen nur Venizelos gemacht, nicht diesem König, der damals nicht auf ihrer Seite in den Ersten Weltkrieg eintreten wollte! Von einem Tag auf den anderen sperrten sie die Kredite, die englische Flotte rührte keinen Finger mehr für die Griechen, Franzosen und Italiener lieferten fortan Waffen an die Türken (Geld stinkt nicht!), denn die führte nun nicht mehr ihr einstiger Kriegsgegner, der Osmanische Sultan, sondern der thrakische Offizier Kemal Pascha, den sie später "Atatürk (Vater der Türken)" nannten, und der sich als Freund der Westmächte gab.
Die Franzosen schämten sich nicht einmal, als weithin sichtbares Symbol des Verrats an ihren griechischen Bundesgenossen noch während des Kleinasien-Krieges eine Große Moschee zu stiften, für die muslimischen - also türkischen - Kriegs-Opfer, mitten im Herzen von Paris, unweit der verfallenen Arena des antiken Lutecia; bis heute ist sie das größte islamische Gebetshaus in Frankreich. (Allerdings hat die Regierung Mitterrand sie 1982 ausgerechnet den Terroristen der radikalen "Islamischen Heilsfront" Algeriens geschenkt; welcher Teufel sie dabei geritten hat, weiß nur der selber.) Wenn Dikigoros schreibt "mitten in Paris" stimmt das nicht ganz: Dort liegt das 5. Arrondissement heute; damals lag das "Quartier Latin" noch etwas abseits - was nicht hindert, daß es so etwas wie das Herz von Paris war und daß sich dort einige der ältesten Stätten auf dem Boden der heutigen Stadt befinden. Nicht nur die Arena, sondern auch ein uraltes christliches (und wahrscheinlich schon vorchristliches) Heiligtum, der "Brunnen des Eremiten". Die Moschee wurde direkt gegenüber, an der St. Hilarius-Straße gebaut; und der "Platz zum Brunnen des Eremiten" wurde inzwischen umbenannt in "Square (sic!) Robert Montagne" (das war ein französischer Islamologe), der Brunnen selber neu eingefaßt mit pseudo-arabischen Mosaïken. Wie war das nur möglich in einem christlichen Land? Gewiß, der französische Staat verstand sich seit 1870 als streng laïzistisch, keineswegs als christlich oder gar katholisch - aber verletzte er mit einer solch ostentativen Parteinahme für den Islam nicht seine Neutralitätspflicht? (Erst zwei, drei Generationen später sollten die Franzosen schmerzhaft den Treppenwitz der Geschichte erkennen: Die Große Moschee von Paris war nämlich nicht nur ein Schandmal ihres Verrats, sondern auch ein trojanisches Pferd; mit ihrem Bau leiteten sie die Eroberung ihrer eigenen Hauptstadt und die Zerstörung ihrer christlichen Kultur durch die Muslime ein. Aber noch war es ja nicht so weit.)
Zurück nach Kleinasien. Nach drei Jahren hatten die Türken den Krieg gewonnen; 600.000 Griechen (überwiegend Zivilisten) wurden getötet, knapp anderthalb Millionen retteten das nackte Leben; von ihnen starben noch einmal knapp 200.000 in griechischen Flüchtlings-Lagern an Hunger. (Griechenland hatte damals knapp 5 Millionen Einwohner, von denen keiner zu viel zu essen hatte.) Die Griechen jagten ihren König wieder ins Exil, erschossen seine Minister und Generäle und holten Venizelos zurück. Der warf im Gegenzug eine halbe Million Türken und Bulgaren aus Griechenland hinaus - das hatte sich gelohnt! Er versuchte dann noch, sich Albanien unter den Nagel zu reißen, aber das schnappten ihm Mussolinis Italiener vor der Nase weg, als Ersatz für Adalia, das sie aufgegeben hatten. Und was steht heute in den Geschichts-Büchern der Griechen? "Venizelos war ein großer Staatsmann!" Na klar, denkt Dikigoros, fast so groß wie Mussolini und Hitler... Der Student aus München hatte also Recht.
Und noch jemand hatte Recht, jedenfalls weitgehend: der italienische Professor in Konstantinopel mit seinen italienischen Entdeckungs-Reisenden und dem Schachspiel. Dessen Erfinder, ein gewisser Damiano, war tatsächlich Italiener, auch wenn er eine Zeit lang in Portugal gelebt hatte und daher den Beinamen "Portugese" trug. (Aber er schrieb auf Italienisch und veröffentlichte in Rom.) "Rabbiosa" hieß das Spiel, das er erfand, ursprünglich. Es war zwar vom indisch-persischen Schach inspiriert und wurde wie dieses mit 2x16 Steinen auf einem Brett von 8x8 Feldern gespielt; aber es verdrängte das alte Schach - das damit verglichen nur ein besseres Dame-Spiel war - bald so nachhaltig, daß es auch seinen Namen übernahm. (Aber das ist eine andere Geschichte.) Und Giovanni Cabatto (es gibt noch ein halbes Dutzend anderer Schreibweisen, aber Dikigoros glaubt dem Professor einfach mal, daß dies die richtige ist) war tatsächlich Italiener, auch wenn er zu seinen Nordamerika-Reisen von Bristol aus startete und die Angelsachsen ihn heute "John Cabot" nennen (und die Franzosen, die glauben, er hätte die Ostküste Kanadas eigens für sie entdeckt, "Jean Cabot"). Dafür, daß Vasco da Gama Italiener war, gibt es dagegen keine Beweise - allerdings ebenso wenig dafür, daß er Portugiese gewesen wäre (man weiß weder genau, wo noch wann er geboren ist). Sein Name - wenn man darauf denn etwas geben darf - deutet eher auf baskische Herkunft hin. Aber er war rückblickend auch gar nicht der "Entdecker Indiens", als den wir ihn heute feiern. Zwar segelte er als erster Europäer (die Araber kannten die Route schon lange) nach Kālikkat an der Malābār-Küste, im heutigen indischen Bundesstaat Keral[a], aber dieses Vorder-Indien hatten seine Auftraggeber - und die der anderen Entdeckungs-Reisenden - nicht gemeint, als sie ihn auf die Suche schickten nach dem "Land, wo der Pfeffer wächst". An der Malābār-Küste wuchsen zwar auch Pfeffer-Schoten, aber wo waren die Muskat-Nüsse, die Ingwer-Knollen, die Zimt- und Vanille-Stangen, die Gewürz-Nelken, all die schönen Dinge, die man in Europa so teuer bezahlte, um an kalten Winter-Abenden dem faden, stark geschwefelten Glüh-Wein mehr Geschmack zu verleihen? Wenn man damals "Indien" sagte, meinte man Insul-Inde, das heutige Indonesien, genauer gesagt die Molukken, wo es das alles im Überfluß gab. Die zu entdecken fuhr auch Magelhaez los; aber persönlich sollte er nie dort ankommen. Er war zwar Kapitän, als die Weltumsegler-Flotte Anker lichtete, landete aber unterwegs im Kochtopf irgendwelcher Südsee-Eingeborenen, in deren Streitigkeiten er sich hatte hinein ziehen lassen. Die Molukken hat erst sein Stellvertreter (so übersetzt Dikigoros "Lieutenant" - wörtlich heißt es "Platzhalter") erreicht, der Italiener Pigafetta, der heute nicht mal mehr im großen Brockhaus-Lexikon steht, obwohl er sogar einen sehr schönen Bericht über seine Reise verfaßte, aus dem wir wissen, daß von jener dreijährigen Kreuzfahrt gerade mal 13 Mann lebend (wenngleich halb verhungert und todkrank) zurück kehrten, knapp 6% derer, die auszogen, um die Welt zu segeln - das entsprach einer Verlust-Quote, die höher war als die der Kreuzzüge!
Dikigoros hat sich oft gefragt, was jene Menschen damals trieb, all die Strapazen - und womöglich den Tod - auf sich zu nehmen, um die Welt zu bereisen. Anders als ihm hatte denen doch niemand erzählt: "Dort und dort gibt es ganz tolle Länder, da müßt ihr unbedingt mal hin fahren; am besten steigt ihr im Hotel soundso ab, eßt im Restaurant soundso und besichtigt dieses und jenes Museum." Im Gegenteil, die konnten nicht mal wissen, ob sie überhaupt irgendwelche Länder erreichen würden, geschweige denn, was sie dort Tolles oder weniger Tolles zum Schlafen, Essen und Trinken oder gar Besichtigen finden würden. Aber was war es dann? Waren es wirklich nur die ach-so-wertvollen Gewürze und der aus ihrem Verkauf winkende Gewinn? Oder glaubten jene Menschen nicht doch vielleicht, ähnlich wie die Kreuzfahrer, daß Gott sie auf die Reise geschickt hatte, um überall das christliche Kreuz aufzurichten und den einzig wahren Glauben (die Reformation hatte noch nicht begonnen) an die allbarmherzige Liebe Gottes in aller Welt zu verbreiten? Stand nicht schon in der Bibel: "Gehet hin und lehret die Völker"? Überhaupt, was verstanden die Menschen damals unter "Gott und die Welt", was meinten die Troubadoure, wenn sie von "Liebe" sangen? War der allmächtige Gott so ohnmächtig, daß er keine anderen Götter neben sich dulden konnte und daß die Menschen einander seinetwegen die Köpfe einschlagen mußten? War die Welt eine mit Meerwasser bedeckte Scheibe, von der man hinunter fiel (womöglich in die Hölle), wenn man versehentlich über den Tellerrand hinaus segelte? Oder doch eher eine Kugel, die mehr oder weniger sinnlos im luftleeren Raum um eine Sonne kreist, wie wir heutigen glauben (ohne die Sonne noch als Gottheit anzusehen)? Und die Liebe Gottes und der Menschen, war es nicht eher ein fysischer, ja militärischer Schutz vor Gefahr? (Das romanische "amor" ist offensichtlich mit "armor", Rüstung, verwandt; das germanische "liaban" bedeutete ursprünglich "mit dem Leib beschützen"; und die slawischen Wörter für Liebe sind von letzterem abgeleitet.)
Ein gewisser Henry Thomas hat mal die originelle Theorie aufgestellt, die Spanier des Entdeckungs-Zeitalters hätten weder an die Gewürze noch an das liebe Jesulein geglaubt, sondern einfach zu viele die Abenteuerlust anstachelnde Ritterromane gelesen. (Stücker 49 sollen allein im 16. Jahrhundert in Spanien erschienen sein; das war damals, als die Buchdruckerei noch in den Anfängen steckte, enorm viel.) Aber wenn die großen Entdecker jener Epoche nun gar keine Spanier waren, sondern vielmehr Italiener, dann kann diese Erklärung wohl auch nicht der Weisheit letzter Schluß sein; außerdem erklärt es nicht, warum sie diese Abenteuer ausgerechnet in "Indien" suchen sollten - als ob es vor der eigenen Haustür nicht genug Abenteuer zu erleben gab: die Mitteleuropäer z.B. schlugen sich im Kampf um den wahren Glauben im selben Jahrhundert untereinander die Köpfe ein und warens auch zufrieden... Wie dem auch sei, die gottesfürchtigen und von Gott geliebten (also geschützten) italienischen Entdeckungs-Reisenden, die damals auf ihren Äppel-, pardon, Gewürz-Kähnen die sieben Weltmeere durchkreuzten, sich unterwegs an Sonne, Mond und Sternen orientierten und vielleicht davon träumten, auch einmal dorthin zu reisen, die haben schon einiges geleistet; aber irgendwie haben die Früchte dieser Leistungen am Ende immer andere geerntet: erst die Spanier und Portugiesen, dann die Engländer und Franzosen, und schließlich die Russen und Amerikaner. (Ganz am Rande lernt Dikigoros auch noch, daß der kühne Kreuzfahrer, der Manahattan von den Indianern erwarb und Neu-Amsterdam gründete, gar nicht Peter Stuyvesant war, wie er geglaubt hatte, sondern Pe[t]er Minnewitt; Stuyvesant war ganz im Gegenteil derjenige, der das Städtchen auf dem Halb-Inselchen ein paar Jahrzehnte später an die Engländer verlor, die es in "New York" umbenannten. Und entdeckt hatte Manahattan für die Europäer... Giovanni di Verranzano - wieder ein Italiener!) Fazit dieser Reise(n): 1. Die Welt ist ungerecht. 2. Man lernt nie aus...
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