DER LANGE MARSCH
Halt, liebe Leser, bevor Dikigoros falsche Erwartungen weckt, will er Euch lieber gleich gestehen, daß er hier nichts über Mao Tse-tung, Heinz Rühmann oder die Fremdenlegion schreiben wird - das sind andere Geschichten. (Wenn er über die letztere schreiben wollte, müßte er sie ganz anders einbinden, etwa mit der germanischen Leibwache der römischen Kaiser beginnen - oder der Warägergarde der Byzantiner -, dann mit den Yenişeri ["Janitscharen"] der Osmanen fortfahren, dann mit den HiWis der Briten - von der "German Legion" bis zu den Gurkhas - und mit der Waffen-SS enden; aber die Thematik liegt ihm nicht.) Warum dann aber die Überschriften? Will Dikigoros etwa nur brave Kommunisten, Kino-Fans, Möchtegern-Söldner und andere unschuldige Surfer verführen, diese seine Seite anzuklicken, auf die sie womöglich gar nicht wollen? Nun, er hat irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil er so viel über Reisen mit Pferd und Wagen, Auto und Eisenbahn, Schiff und Flugzeug geschrieben hat, daß die ursprüngliche Form des Reisens darüber fast in Vergessenheit zu geraten droht, nämlich die zu Fuß. Die erste Bedeutung des Wortes "reisen" ist "in den Krieg ziehen" - darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr. Es gibt aber noch eine zweite Bedeutung des Wortes "reisen" (nein, es ist immer noch nicht die, die Ihr heute kennt, das ist bestenfalls die dritte!), die mit der ersten unmittelbar zusammen hängt, denn wenn die einen in den Krieg ziehen, d.h. ein fremdes Land mit Krieg über-ziehen, dann endet das oft damit, daß andere fort ziehen müssen. Und während die ersten Reisenden oft mit den anfangs genannten Verkehrsmitteln einreisen, müssen die zuletzt genannten sich meist per pedes auf die Reise machen. Deshalb hätte die Überschrift eigentlich korrekt lauten müssen: "Die langen Märsche" und die Liederzeile hätte Dikigoros zusammen ziehen können zu "Wozu ist die Straße da? - Zum Krepieren!" Genau so ist es gemeint - aber er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
Gewiß wurden in der Vergangenheit auch die Reisen in der ersten Bedeutung des Wortes meist per pedes unternommen; und nur zu oft endeten sie kaum besser als die der zweiten Bedeutung; aber das soll hier nicht unser Thema sein, deshalb werdet Ihr hier auch nichts über die Märsche lesen, die Karl X nach Poltawa, Napoleon I nach Moskau und Adolf den letzten nach Stalingrad führten - wobei der letzte ja nicht einmal persönlich dabei war. Aber das ist für Dikigoros nicht das entscheidende Abgrenzungs-Kriterium, sondern ein anderes: Hier soll es nicht um Märsche gehen, die freiwillig - um nicht zu sagen mutwillig - unternommen wurden, um ein fremdes Land zu erobern oder zu zerstören, sondern um solche, die - zumeist unfreiwillig - unternommen wurden, um ein Land zu verlassen und sich woanders eine neue Existenz aufzubauen, die Märsche der Vertriebenen, Verratenen und Verkauften. Wegen dieses "und" werden hier einige Märsche nicht vorkommen, die Ihr vielleicht dereinst in den Geschichtsbüchern wieder finden werdet - und z.T. schon findet -, wie der sprichwörtlich gewordene "Lange Marsch" der chinesischen Maoïsten, der am Ende dazu führen sollte, daß die alte chinesische Kultur zerstört wurde. Auch nicht der Lange Marsch der Asylanten aus aller Welt (besonders der sogenannten "Dritten"), der am Ende dazu führen wird, daß die alte europäische Kultur zerstört wird. Nein, Ihr sollt hier von Märschen lesen, die zwar nicht direkt unbekannt sind, deren Bedeutung aber stets unterschätzt oder verdrängt worden ist - vor allem in Bezug auf die Folgen, die bis heute andauern.
Wenn Ihr mal an der afrikanischen Westküste entlang Richtung Süden reist, liebe Leser - und sei es nur mit dem Finger auf der Landkarte -, dann werdet Ihr dort auf allerlei geografische Bezeichnungen stoßen, die schlicht falsch sind: Am "Kap Bojador" gibt es ebenso wenig Bojaren wie am "Cabo Cisneros" Störche; das "Cabo Blanco" ist ebenso wenig weiß wie das "Cabo Verde" grün; an der Pfefferküste ("Liberia") wächst ebenso wenig Pfeffer wie an der Elfenbeinküste Elefanten; und an der Goldküste ("Ghana") werdet Ihr ebenso wenig gelbes Gold finden wie an der Sklavenküste ("Togo" und West-"Nigeria") "schwarzes Gold", wie man einst die Neger-Sklaven nannte, denn Schwarze sind von Natur aus wasserscheu und hätten sich gehütet, freiwillig an dieser oder irgendeiner anderen Küste zu siedeln.
Bucht von Benin Auslese schon vor der Verschiffung! (...)18. Jahrhundert:
Le grand dérangement. Die Deportation der Acadier aus Neu-Braunschweig. Kleine
Zahlen - große Folgen: Kanada wird britisch.
Wenn Ihr mal an der bayrisch-österreichischen Grenze entlang Richtung Süden reist,
liebe Leser - und sei es nur mit dem Finger auf der Landkarte, dann werdet Ihr als
geschichtsbewußte Menschen dort auf zwei Städtenamen stoßen, die
... Braunau am Inn und Salzburg... Salzburger Emigranten nach Preußen, "Schwaben" die Donau hinunter nach Osteuropa unter Maria Theresia.
19. Jahrhundert:
Wenn Ihr mal an der Grenze zwischen Südwestafrika ("Namibia") und Südafrika entlang
Richtung Osten reist, liebe Leser - und sei es nur mit dem Finger auf der Landkarte, dann werdet
Ihr dabei zwangsläufig zwei Flüssen folgen: erst dem Oranje, und dann - wenn die
Grenze am 20. Breitengrad endet - seinem Nebenfluß, dem Vaal.
1837: Voortrekker nach Transvaal.
Wenn Ihr mal die USA von Osten nach Westen durchqueren wollt, liebe Leser, dann gibt es dafür zwei historisch interessante Routen: Die eine verläuft im Norden von New York City über Philadelphia, Harrisburg, Pittsburgh, Cleveland, Chicago, Council Bluffs, Ohama/Nebraska usw. nach Utah, Oregon und Kalifornien - aber über die schreibt Dikigoros an anderer Stelle. Die andere, die er Euch hier vorstellen will, verläuft im Süden, von Georgia nach Oklahoma.
20. Jahrhundert:
1945: Deutsche aus Osteuropa,
Wenn Ihr mal nach Indien reist, liebe Leser - und das bitte nicht nur mit dem Finger auf der
Landkarte, denn im Gegensatz zu den Schauplätzen aller anderen Märsche, von denen
Euch Dikigoros bisher berichtet hat, lohnt es sich heute immer noch, das einmal in natura
anzuschauen -, dann werdet Ihr dort vielleicht von drei Schicksalsflüssen hören,
die für den Inder geradezu mythische Bedeutung haben, und auf damit verbundene
Vorstellungen, die schlicht falsch sind:
Fünfstromland, Gangesdelta und Brahmaputra.
(Die wahren Schicksalsströme sind vielmehr die Sabarmati, der Narmadá und die
Godawarí - aber das ist eine andere Geschichte)
1947: Inder aus Panjab und Bengalen.
*****Transmigrasi (Javaner nach Kalimantan u.a.)*****
Wir haben mit "verkauft" begonnen, und Dikigoros' fleißige Leser wissen, daß er seine Reisen, auch wenn sie in der Vergangenheit spielen, nie ohne Zeitbezug zur Gegenwart enden läßt und nie ohne eine Parallele zum Anfang. Also müssen wir wieder zu "verkauft" zurück kehren - nur um festzustellen, daß es auch da grundlegende Unterschiede geben kann. Beim ersten Mal wurden die Menschen, die auf die Reise geschickt wurden, selber verkauft; aber auf der Reisen, von der Euch Dikigoros abschließend berichten will, wurde ihnen etwas verkauft, jawohl, sogar zu äußerst günstigen Konditionen: auf Pump und vorerst steuerfrei. Und dennoch geschah es ebenso unfreiwillig wie das Verkauft-werden der Negersklaven, und es zog sich wie dieses über einen längeren Zeitraum hin als die anderen Märsche. Redet Dikigoros in Rätseln, oder ist diese Reise wirklich so wenig ins Bewußtsein westlicher Leser gedrungen, daß Ihr noch nie davon gehört habt? Als Dikigoros studierte - und sooo lange ist das ja nun auch noch nicht her -, da lernte er, daß
Nach dem, was Dikigoros bisher einleitend geschrieben hat, wird es Euch vielleicht überraschen, daß er nicht mit dem 18. Jahrhundert beginnt, sondern anderthalb Jahrhundert davor. Wenn er oben von "Vertriebenen, Verratenen und Verkauften" geschrieben hat, dann nicht nur um eine Redewendung zu zitieren, sondern weil er das ganz wörtlich meint. Was hat man Euch, liebe jüngere Leser, im Märchen- und Geschichten-Unterricht beigebracht, welches die größten Verbrechen dieser Art gewesen seien? Der Holocaust der europäischen Juden im 20. Jahrhundert? Das ist doch lächerlich - selbst wenn es 6 Millionen gewesen wären... Die Ausrottung der nordamerikanischen Rothäute im 19. Jahrhundert? Dto - weder die Juden noch die Indianer sind "ausgerottet" worden, im Gegenteil, sie leben heute zahlreicher und in größerem Wohlstand als je zuvor in ihrer Geschichte. Die Greuel des 30-jährigen Krieges im 17. Jahrhundert? Nun, ein Krieg ist ein Krieg... Die Zerstörung der mittel- und südamerikanischen Indio-Hochkulturen im 16. Jahrhundert? Nein, als aufmerksame Leser von Dikigoros' "Reisen durch die Vergangenheit" wißt Ihr ja schon, was es damit in Wahrheit auf sich hatte: Die alten Hochkulturen waren längst von den barbarischen Inka und Azteken zerstört worden; die Überlebenden rächten sich mit Hilfe der Spanier an diesen Terror-Regimen, und wo gehobelt wird, fallen halt Späne...
Nein, das erste große Verbrechen dieser Art - viele (einschließlich Dikigoros) meinen sogar das [folgen-]schwerste - habt Ihr wahrscheinlich übersehen, vergessen oder verdrängt: Es ist der Export von Negersklaven aus Afrika und ihr Import nach Amerika.
Nanu - was regt sich denn ausgerechnet ein alter Cyniker wie Dikigoros (der zudem nicht unbedingt ein Freund der Schwarzen ist, wo man aus seinen anderen Reiseberichten weiß) über den Sklavenhandel auf? Sklaven gab es doch zu allen Zeiten der Geschichte - und es gibt sie de facto immer noch, auch wenn sie inzwischen anderes heißen. Pardon, liebe Leser, hat Dikigoros hier etwas gegen die Sklaverei geschrieben? Wir sind doch auf einer Seite über Reisen; und auch wenn Dikigoros deren Definition bekanntlich sehr weit faßt, kann er doch nicht ganz darauf verzichten. Was ist schlimm an einer "Sklaverei", die darin besteht, daß sich jemand in finanzielle, wirtschaftliche, rechtliche, politische und/oder militärische Abhängigkeit eines anderen begibt? Vieles - aber dem muß nicht unbedingt ein Verbrechen zugrunde liegen. Was macht den Handel mit Negersklaven zwischen Afrika und Amerika zu einem so einmaligen Verbrechen, daß Dikigoros mit ihm diese Reise durch die Vergangenheit beginnt?
(...)
Fortsetzung folgt
"Und wenn wir marschieren, dann leuchtet ein Licht,
das Dunkel und Wolken strahlend durchbricht.
Und wenn wir uns finden beim Marsch durch das Land,
dann glüht in uns allen ein heiliger Brand.
Und wenn wir im Sturme dem Ziel uns genaht,
dann ragt vor uns allen Neuland der Tag.
Du Volk aus der Tiefe, du Volk in der Nacht,
vergiß nicht das Feuer, bleib auf der Wacht!"
(Walter Gättke, Weite Fahrt, 1922)