SONNENBLUMEN UND SCHWARZER GINSTER
( . . . UND EINE VIEL ZU BLAUE MELONE )
REISEN IN DIE UKRAÏNE
"Freunde dürfen Sie hier nicht suchen!"

['wolja - slahoda - dobro', 'Freiheit - Einigkeit - gutes Recht'. Aber laßt Euch durch diesen frommen Spruch - der so frappierend an 'Einigkeit und Recht und Freiheit' erinnert - nicht täuschen, liebe Leser: 'wolja' ist auch die Willkür, 'slahoda' die Einheit des Zentralstaats und 'dobro' alles, was die Regierung so nennt - wie bei uns, Anm. Dikigoros]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE

1918. Seit vier Jahren reisen viele Europäer - und seit gut einem Jahr auch einige Amerikaner - viel hin und her. Besonders beliebte Reiseziele sind idyllische Flüßchen, wie die Somme oder der Isonzo, oder schmucke kleine Städtchen, wie Verdun oder Przemysl; manche machen auch eine Seereise, zum Skågerrak oder zu den Dardanellen. Für viele ist es die Reise ihres Lebens, nämlich die letzte. Aber allmählich neigt sich die Große Reise, die sie später erst den Großen Krieg, dann den Ersten Weltkrieg nennen werden, ihrem Ende zu. Die Mittelmächte, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, wollen noch nicht wahr haben, daß sie die Verlierer sein werden. Wieso denn? Hat doch gerade der Hauptkonkurrent im Osten, das Reisebüro Rußland - das jetzt kein Zarenreich mehr ist, sondern eine "Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken" (was immer das genau ist) -, Vergleichsantrag gestellt. Allerdings weigern sich seine Vertreter, ein zwielichtiger Rechtsanwalt halb-deutscher Abstammung - seine Mutter stammt aus Lübeck - namens Uljanów (er nennt sich "Ljenin", nach der Ljena, einem Fluß in Sibirien, zu dem er mal gereist ist), ein anderer Rechtsanwalt, aus Lemberg, namens Sobelsohn (er nennt sich "Radek") und noch so ein ukraïnischer Jude namens Bronstein (er nennt sich "Trotski") - beharrlich, den Konkursantrag zu unterschreiben, dessen Einreichung beim Amtsgericht Brest-Litowsk ihnen die Mittelmächte schmackhaft machen wollen, um sich selber aus der Konkursmasse ein paar fette Happen zu sichern. Undankbares Pack, besonders dieser Uljanów. Da hat die Oberste Heeresleitung ihm und dem Sobelsohn doch die schöne Bahnfahrt erster Klasse spendiert, von der Schweiz über Skandinavien bis in die Stadt, die bald nach ihm benannt werden soll, und nun das. Wahrscheinlich ist er größenwahnsinnig geworden und nimmt seinen eigenen Vornamen wörtlich: Wladímir, "beherrsche (die) Welt"! Um Druck auszuüben, unterstützen die Deutschen Bestrebungen nach Unabhängigkeit in den westlichen Urlaubs-Gebieten des einstigen Zarenreichs: in Polen (wo sie ein Königreich gründen), in Finnland, im Baltikum und vor allem in der an Bodenschätzen und landwirtschaftlicher Nutzfläche reichen Ukraïne. Als die Russen deren Unabhängigkeit nicht anerkennen wollen, reisen deutsche und österreichische Urlauber ein, bis nach Kiew. Dikigoros' Großonkel, Premier-Leutnant der Reserve in der k.u.k. [das, liebe Nicht-Habsburger, spricht sich "kakanischen"] Kavallerie, ist dabei. Eine schöne Stadt, eine eindrucksvolle Stadt, die alte Hauptstadt der sagenhaften Rus, die einst das Russische Reich gegründet haben sollen, am heiligen Fluß Dnjepr. Zwar müssen sie bald wieder abreisen, aber die Ukraïne ist erst einmal unabhängig. Allerdings nicht lange. Drei Jahre später zieht die Rote Armee in Kiew ein. In den 1920er und 1930er Jahren wütet der sowjetische Terror - sein Schöpfer, ein Georgier (?) namens Dschugaschwili (er nennt sich "Stalin"), hat Uljanów überlebt und beerbt - gegen die "Kulaken", die produktive Ober- und Mittelschicht der Bauernschaft, mit besonderer Brutalität. An die zehn Millionen Ukraïner werden ermordet, verhungern oder fliehen - wenn sie können - ins Ausland. Einigen Ukraïnern hilft auch das nichts: den Bronstein läßt Stalin in Mexiko aufspüren und ermorden; den Sobelsohn hat er schon vorher in Sibirien liquidieren lassen.

[Sonnenblumenfelder]

1942. Dikigoros' Vater macht eine Reise auf Staatskosten durch das "Reichskommissariat Ukraine". Angesichts der riesigen Sonnenblumen-Felder, die er stundenlang an seinem Eisenbahnfenster vorbei ziehen sieht, kommen ihm ernste Zweifel, ob diese Reise ein gutes Ende nehmen kann, erst recht, als er durch die Geisterstadt Kiew fährt: Die Sowjets haben auf ihrem Rückzug das Prinzip der "verbrannten Erde" angewandt - wie soll man hier so schnell eine vernünftige touristische Infrastruktur aufbauen? Gewiß, die von den Sowjets geschlossenen Kirchen, die immer und überall die erste Touristen-Attraktion eines Landes sind, haben die Deutschen wieder geöffnet, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein; aber ganz ohne geht es auch nicht. Seine düsteren Vorahnungen sollen sich nur zu bald bestätigen. Er selber hat noch Glück im Unglück, denn er erkrankt auf halbem Weg zur Wolga an Gelbsucht und bleibt so in einem Lazarett in der Ukraïne hängen, in Dnjepropjetrowsk, der Stadt, die einst Fürst Potjómkin zum Ruhme seiner Geliebten, der aus Deutschland stammenden Tsarin Katharina der Großen gegründet hatte. (Daher hieß sie ursprünglich auch Jekatjerinoslaw, Katharinenruhm; als die Sowjets aus Pjetrograd, der alten Hauptstadt Zar Peters, "Ljeningrad" machten, benannten sie, gewissermaßen als Ausgleich, die Stadt am Dnjepr in "Dnjepropjetrowsk" um.) Leichtsinnige westliche Reisende hatten damals alles, was der tüchtige Potjómkin in Rußland aufgebaut hatte, als Attrappen und Spiegelfechtereien abgetan - im Deutschen wurden daraus die sprichwörtlichen "Potemkin'schen Dörfer". Anderthalb Jahrhunderte später haben leichtsinnige westliche Reisende wieder alles, was die neuen russischen Machthaber aufgebaut haben, als Attrappen abgetan, vom schweren Reisebus T 34 bis zu dem nach derselben Zarin Katharina (Koseform "Katjuscha") benannten Silvester-Feuerwerk mit Orgelbegleitung (die Deutschen nennen es lieber nach Stalin). Es hat ein böses Erwachen gegeben. Als Dikigoros' Vater endlich genesen ist, befindet sich seine Reise-Gesellschaft schon wieder auf dem Rückweg, der nicht immer ganz unbeschwerlich ist, zumal es in der Ukraïne, deren Einwohner die Einreisenden noch vor kurzem so stürmisch bejubelten, plötzlich von Wegelagerern (man nennt sie jetzt auch "Partisanen") nur so wimmelt. Sei's drum, irgendwie hält er - nicht ganz unversehrt, aber lebend - bis zum letzten Reisetag durch, im Mai 1945, als im Mecklenburgischen die Grenze Amerikas nur noch knapp zwei Kilometer von der Grenze Rußlands entfernt ist. Ist es nicht merkwürdig, daß im 18. Jahrhundert das slawische Wort "Granitza" - erst zu "Gräntze, dann zu "Grenze" verballhornt - das schöne, alte Wort "Front" aus der deutschen Sprache verdrängt hat? Letzteres ist mit deutschen Militärberatern unter Katharina der Großen nach Osten gewandert und bezeichnet nun im Russischen die Grenze zwischen zwei Armee-Einheiten, also eine Heeresgruppe. Im Englischen und Französischen bezeichnet es auch das, was im Deutschen jetzt "Hauptkampflinie" heißt. Es wird letztere bald ersetzen und so völlig verändert heim ins Reich kehren - wie so mancher Reisende auch. Andere kehren gar nicht heim oder sehr spät - die letzten erst nach zehn Jahren, als schon kaum noch jemand mit ihnen rechnet. Zwei Jahre später eröffnen die Deutschen wieder ein eigenes Reisebüro, und Dikigoros' Vater wird wieder Aushilfs-Reiseleiter, fest entschlossen, eines Tages nach Mecklenburg zurück zu kehren und sich für die russische Gastfreundschaft zu revanchieren.

Auch Dikigoros' Mutter ist 1945 auf Reisen, aber in die entgegengesetzte Richtung, nach Osten. Die Engländer, die sie in der britischen Besatzungszone gefangen genommen haben (sie war Reisehelferin), wollen sie nicht da behalten als überzählige Fresserin. (Im Gegensatz zu den Amerikanern, Franzosen und Russen ernähren die Briten ihre deutschen Gefangenen vom ersten Tag an halbwegs anständig, jedenfalls wenn noch deutsche Vorräte da sind. Das ist durchaus nicht selbstverständlich; die Amerikaner und Franzosen haben ihre Besatzungszonen von den bei Kriegsende noch vorhandenen deutschen Arznei- und Lebensmittel-Vorräten systematisch "befreit" - sie nicht etwa selber aufgefuttert, wie die hungernden Rotarmisten, sondern einfach verbrannt. Und sie hindern auch das Rote Kreuz daran, Ersatz zu liefern; denn die Deutschen sollen hungern, nach Möglichkeit sogar verhungern. So besagt es ein Befehl aus Washington, und an den hält man sich strikt. In den ersten drei Jahren unter alliierter Besatzung verrecken in Mitteleuropa anderthalb Millionen Kriegsgefangene und neun Millionen Zivilisten, mehr als in sechs Jahren Krieg; aber niemand spricht von "Völkermord" - im Gegenteil, es war doch eine "Befreiung", nicht wahr, Herr v. Weizsäcker?) Also schieben die Briten sie in ihre Heimat ab, nach Wien. Und so sitzt sie nun auf einem der ersten Züge, die wieder fahren. Das "auf" ist wörtlich zu nehmen, denn die BesatzerBefreier haben ihr zwar eine Art Fahrschein für den Zug ausgestellt, aber keine Reservierung für einen Sitzplatz im Zug (so etwas gibt es damals noch nicht wieder). Egal, besser schlecht gefahren als gut gelaufen - die ersten brauchbaren Schuhe wird es erst wieder in drei Jahren geben, nach der Währungs-Reform, und es sind über tausend Kilometer - Luftlinie. Unterwegs hält der Zug in Linz, der Lieblingsstadt des Führers. Tatsächlich hält er so ziemlich an jeder Milchkanne, nur daß man nirgends Milch sieht.

Aber hier gibt es etwas zu sehen: riesige Horden russischer Kosaken, nicht als Besatzungsarmee, sondern als Gefangene der Briten. Die schieben auch sie ab, in die Ukraïne, wo sie her kommen. Sie heulen und betteln, denn sie wissen, was auf sie zu kommt: Sie haben mitten im Krieg die Fronten gewechselt und für Hitler gegen Stalin gekämpft. Das ist schlimm genug, aber kurz vor Kriegsende haben sie (wie ihr russischer Kollege Wlassow) noch einen zweiten, entscheidenden Fehler begangen: sie sind wieder umgeschwenkt und haben die Waffen in letzter Minute gegen ihre deutschen Verbündeten gerichtet, in der Hoffnung, darob als "Alliierte" angesehen zu werden, etwa wie die Italiener. Aber Churchill hatte Prinzipien: So wie er es ablehnte, mit den "Verrätern" vom 20. Juli 1944 zu verhandeln, die das Attentat auf Hitler versucht hatten (wie wir heute wissen, verriet er sie sogar an Hitler - so viel Solidarität unter Diktatoren mußte sein, schließlich lagen Churchill & Co. ja nicht mit dem "Führer und Reichskanzler" persönlich im Krieg, sondern mit dem Deutschen Reich, und eine Beseitigung Hitlers hätte es ihnen nur erschwert, gegenüber ihren Völkern die Fortsetzung des Krieges bis zur bedingungslosen Kapitulation der Deutschen zu rechtfertigen!), so lehnte er es auch ab, mit den "doppelten Verrätern", die die Linzer Kosaken in seinen Augen waren, zu verhandeln. Und die Frauen und Kinder? Nun, Frauen und Kinder von Verrätern halt. Man will keine fünfte Kolonne im Lande haben, die am Ende noch ein drittes Mal die Seiten wechseln könnte - diesmal wieder für Stalin und gegen die West-Alliierten. Zwar ist Churchill inzwischen abgewählt worden, aber was sollte das ändern? Hat es etwas geändert, als Roosevelt gestorben ist? Natürlich nicht. Sein Nachfolger Truman hat die beiden Atom-Bomben wie geplant von seinen tapferen Piloten (die dafür hinterher mit dem höchstem amerikanischen Militär-Orden ausgezeichnet wurden, aber das ist eine andere Geschichte) auf Hiroshima und Nagasaki werfen lassen, obwohl Japan inzwischen längst zur Kapitulation bereit war. (In Deutschland hält sich zwar bis heute scheinbar unausrottbar das Gerücht, Truman sei, bevor er beschloß Politiker zu werden, Vertreter für Schnürsenkel gewesen; tatsächlich war er jedoch Rechtsanwalt, und er betrachtete sich als Testamentsvollstrecker Roosevelt's - so wie Stalin nur der Testamentsvollstrecker Ljenins war, auch wenn dessen Anhänger das nicht wahr haben wollen -, und Roosevelt's letzten Willen, eben den Einsatz der Atombomben, führte er getreulich, wie sein Name es gebot, aus.) Warum sollte da ausgerechnet die neue britische Regierung des Sozialisten Attlee die Vereinbarungen des Konservativen Lord Churchill mit dem guten Onkel Jo Stalin nicht einhalten? Die Linzer Kosaken und ihre Angehörigen werden also gnadenlos an die Sowjets ausgeliefert (mit Ausnahme der Pferde - die behalten die Briten für sich). Sowie sie die Grenze zur Ukraïne überschritten haben, läßt Stalin sie an die Wand stellen. Mit Mann und Maus, Kind und Kegel. Die Ukraïner haben verstanden; sie greifen zu den Waffen - es sind zum großen Teil dieselben Männer (und Frauen und Kinder), die 1942-44 ihren deutschen Befreiern (so nennt man doch heutzutage ausländische Truppen, die ein Land besetzen, nicht wahr, liebe Leser?) in den Rücken gefallen waren. [Wer das nicht glaubt, lese die erschütternden Memoiren von Grigorij Klimow ("Berliner Kreml"), der die glorreiche "Befreiung" hautnah miterlebt hat und auch etwas über die Gründe für diesen "Gesinnungswandel" schreibt. Es ist kein großer Aufwand, es steht gleich im ersten Kapitel, auf den ersten sechseinhalb Seiten. Aber auch die restlichen 400 Seiten - eng gedruckt in der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa 600 heutigen Normseiten entsprechend - sind sehr lesenswert, vor allem was den schäbigen Schacher um die Ukraïne anbelangt, an dem die wiederholten Verhandlungen um einen Separatfrieden zwischen Hitler und Stalin immer wieder scheiterten.] Inzwischen wissen sie - wie Churchill -, daß sie "das falsche Schwein geschlachtet" haben; aber diese Erkenntnis kommt bei beiden zu spät: sowohl das britische Empire als auch die Unabhängigkeit der Ukraïne sind dahin.

[Ermordung von Frauen und Kindern der Kosaken, die sich der Auslieferung 
an Stalin durch Flucht entziehen wollen, von Hand der britischen Kriegsverbrecher im Auftrag Churchills]

Nachtrag. Ein aufmerksamer Leser hat Dikigoros darauf hingewiesen, daß Schauplatz der Geschehnisse, die er im vorigen Absatz geschildert hat, nicht Linz an der Donau, sondern Lienz an der Drau, die Hauptstadt Osttirols, war. Folglich muß es richtig "Lienzer Kosaken" heißen; Dikigoros' Mutter besteht jedoch darauf, damals in Linz osteuropäische Gefangene gesehen zu haben, die von den alliierten Besatzern zusammen getrieben wurden, und auf das Langzeit-Gedächtnis seiner Eltern kann sich Dikigoros felsenfest verlassen, auch und gerade was den Krieg anbelangt. (Jene furchtbaren Erinnerungen aus jungen Jahren scheinen sich einem Menschenhirn unauslöschlich einzubrennen; Dikigoros' Vater konnte sie noch nach dem dritten Schlaganfall, als sein Kurzzeit-Gedächtnis längst jenseits von Gut und Böse war, in allen Einzelheiten rekapitulieren. Niemand, der im Krieg in der Ukraïne war, kann die mannshohen Sonnenblumenfelder vergessen, und die Menschen, die pausenlos die Kerne knabberten. Wohlgemerkt, Sonnenblumenkerne sind eine feine Sache, wenn man sie als leckere Zugabe, etwa zum Müsli oder zum Frischkäse ißt - aber nicht, wenn man sie solo essen muß, um nicht zu verhungern, weil es nichts anderes gibt. "Steckrüben sind eine feine Sache," pflegte Dikigoros' Großvater zu sagen, "wenn man sie zu einem Stück Hammelbauch und einer ordentlichen Portion Kartoffeln ißt - aber nicht, wenn man sie solo essen muß, um nicht zu verhungern, wie im Winter '17..." Dikigoros' Eltern kannten den "Steckrüben-Winter" nur aus den Erzählungen ihrer Eltern; aber Dikigoros kann sich erinnern, daß es, als er noch klein war, zu Ostern Steckrüben mit Hammelbauch und Kartoffeln gab. Fades Zeug, das nach nichts schmeckte, aber seinen Vater störte das nicht, denn er würzte es mit riesigen Mengen Senf. Dikigoros mochte keinen Senf, aber er ißt bis heute gerne Sonnenblumen-Margarine, etwas, das sein Vater nie angerührt hätte - er bestand, seit er es sich leisten konnte, auf Butter, und auch im Brot durfte sich kein Sonnenblumenkern verirren - dabei gibt es doch nichts schöneres und gesünderes als ein Vollkornbrot mit Sonnenblumenkernen! Dikigoros wird nie das entsetzte Gesicht seiner Mutter vergessen, als sie bei einem Besuch feststellte, daß ihr Sohn zum Tee statt Salzstangen oder Plätzchen Sonnenblumenkerne knabberte: "Das ist doch Vogelfutter," meinte sie, "wie kann ein Mensch sowas essen?" Auch in solchen an sich harmlosen Kleinigkeiten hat die Erinnerung an den Krieg jene, die ihn mitgemacht haben, ein Leben lang verfolgt. (Ja, bis in den Tod. Wenn man es recht bedenkt, dann verdankte Dikigoros' Vater letztlich seiner Liebe zur Butter - und zu all den anderen schönen, fetten, süßen Sachen, die er im Krieg entbehren mußte - sein Übergewicht und die Schlaganfälle, die ihn schließlich ins Grab brachten.) Ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende verfilmte Vittorio De Sica die Geschichte eines in der Sowjet-Union verschollenen italienischen Kriegsfreiwilligen - mit Sophia Loren und Marcello Mastroianni in den Hauptrollen -, und er gab ihm den Titel "I girasoli [Die Sonnenblumen]". Die Kritiker nannten den Film "anachronistisch" und "am Zeitgeist vorbei" gedreht. Mag sein, liebe Leser, aber das spricht vielleicht weniger gegen den Film als gegen - den Zeitgeist.)

Also hat Dikigoros ein wenig nachgefragt und dabei die abenteuerlichsten Antworten erhalten: Die Leute, die seine Mutter dort gesehen habe, müßten wohl von den Alliierten "befreite" Insassen deutscher Konzentrationslager gewesen sein. Die Spekulationen reichten von Auschwitz über Dachau bis Mauthausen - gab es nicht von dem letzten ein "Außenlager" in Linz? Dikigoros wäre ja froh gewesen, wenn es so wäre, denn dann hätte er all jenen politisch-korrekten Gutmenschen, die ihm vorwerfen, diese seine Seite sei zu "rechtslastig", weil sie "nur" auf die Kriegs- und Nachkriegs-Verbrechen der Alliierten eingehe, nicht aber auf die der bösen Nazi-Deutschen, endlich das Maul stopfen können. Aber ach, liebe Leser, die Geschichte ist nun mal kein Wunschkonzert. Wie Dikigoros bei weiteren Recherchen erfuhr, handelte es sich bei dem "Außenlager" Linz nicht etwa um ein Konzentrationslager, sondern um ein Lager zur Unterbringung von "HiWis", die in den "Hermann-Göring-Werken" (heute "VOEST") arbeiteten; und darunter waren in der Tat viele Osteuropäer. Da es sich aber nicht um "Zwangsarbeiter" handelte (auch wenn das heutzutage vielfach behauptet wird - eigentlich von allen, die zum einen nicht als "Kollaborateure der Nazis" gelten und zum anderen finanziell nochmal ordentlich absahnen wollen), sondern wie gesagt um Freiwillige, wurden sie von den Alliierten wie Schwerverbrecher behandelt - bereits bei den alliierten Terror-Bombardements seit 1944 soll eine fünfstellige Zahl von Arbeitern umgekommen sein. (Und selbst wenn es anders gewesen wäre und die Arbeiter keine "Freiwilligen" gewesen wären - was hätte dann die Betreiber der HGW von jenem Oskar Schindler unterschieden, der in seinen Betrieben Insassen von Konzentrationslagern beschäftigte, ihnen dadurch das Leben rettete und dafür heute als großer Wohltäter der Menschheit gefeiert wird?) Und so kann Dikigoros leider dieses alliierte Verbrechen nicht durch ein deutsches Verbrechen ersetzen, sondern muß ihm vielmehr noch ein weiteres alliiertes Verbrechen hinzu fügen. Sorry, liebe linke Leser, aber soll Dikigoros Euch belügen, bloß damit Ihr weiter Euren masochistischen Neigungen frönen könnt?

Wie dem auch sei, nach einem kurzen Rundgang durch die sowjetische Besatzungszone ihrer Heimatstadt schwingt sich Dikigoros' Mutter auf den nächsten Zug gen Norden und kehrt aus den Trümmern Wiens zurück in die Trümmer Hamburgs, wo sie Dikigoros' Vater kennen lernt und heiratet. [Nachtrag. Auf nochmalige Befragung von Dikigoros' Mutter: Nein, Wien sei damals nicht annähernd so zerstört gewesen wie Hamburg; und anders als die Briten hätten ihr die Russen, da sie nie in der Partei und somit "unbelastet" war, sofort eine Aufenthalts-Bewilligung und sogar eine Stelle bei der Kommandantur als Kontoristin angeboten. Aber nachdem sie mit einigen Frauen gesprochen hatte, die den Einmarsch der Roten Armee in Wien mit erlebt hatten, wollte sie dort nicht bleiben - die Briten hatten sich wenigstens halbwegs korrekt verhalten. Die Rückfahrt nach Hamburg sei übrigens nicht halb so glatt vonstatten gegangen wie die Hinfahrt; aber jene grauenhafte Odyssee durch das besetzte Deutschland - über Rosenheim, Augsburg, Bremen und Bremerhaven - soll nicht Gegenstand dieses Berichts sein. Dikigoros' Mutter hat über 60 Jahre gebraucht, bis sie darüber mit ihrem Sohn gesprochen hat.]

[Hamburg 1945] [Hamburg 1946]

* * * * *

1959, München. Auf offener Straße wird ein Reisender aus der Ukraïne erschossen. Der Täter entkommt, nicht gerade unerkannt (er arbeitet für den sowjetischen Geheimdienst KGB), aber unbehelligt. Den Zeitungen ist der Mord kaum einen Dreizeiler wert. Der Bürgerkrieg in der Ukraïne, der nach dem offiziellen Ende des 2. Weltkriegs noch geschlagene zehn Jahre lang zwischen Sowjets und "Nationalisten" (das gilt inzwischen als Schimpfwort, fast schon wie "Faschisten"; sie selber nennen sich "Waldbrüder") weiter tobte, ist vor vier Jahren zuende gegangen. Im Westen wußte man entweder nichts davon oder wollte nichts wissen - man hatte andere Sorgen und war froh, wenn der eigene Wiederaufbau einigermaßen voran kam. Stephan Bandera hieß der Reisende. Geboren war er vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn. Die Österreicher der Habsburgerzeit waren sehr tolerant gegenüber ihren ethnischen Minderheiten gewesen und hatten versucht, einen multi-kulturellen Staat aufzubauen (was sich bald rächen sollte); deshalb hatten sie Volkstum und Sprache dieser Minderheiten nicht unterdrückt (im Gegensatz zu allen anderen großen "Kultur"-Nationen und solchen, die sich dafür hielten, wie den Spaniern, den Engländern, den Franzosen, den Russen und selbst den Ungarn in ihrer Hälfte des Habsburgerreiches), sondern sie sogar gefördert, so auch die der Ruthenen im "Königreich Galizien und Lodomerien". Deshalb konnte sich dort - und nur dort - auch die ruthenische Sprache erhalten und weiter entwickeln, die erst Taras Schewtschenko im 19. Jahrhundert zur Literatur-Sprache gemacht hatte. Bandera gehörte dieser Minderheit an; aber er nannte sie Ukraïner, und sein Land die [West-]Ukraïne. Ist es nicht merkwürdig, daß diese verächtliche Bezeichnung der Polen für ihre einstige Kolonie den fast tausend Jahre alten Namen ihres ersten eigenen Fürstentums verdrängt hat? "Galizien" ist die deutsche Form von "Galiczina" (was sich "Halitschina" ausspricht und deshalb so in den meisten deutschen Atlanten steht); "Kraïn(a)" dagegen kommt vom selben Wortstamm wie "Granitza"; "u kraïna" bedeutet "an (der) Grenze", und "Ukraïner" sind die, "die an (der) Grenze leben".

[Ukraine 1939]

Als das Reich der Habsburger nach dem Ersten Weltkrieg zerschlagen wurde, hatten die Ukraïner Pech, wie ein Blick auf die Karte zeigt: Die Ost- und Mittel-Ukraïne fielen nach kurzer Unabhängigkeit von Deutschlands Gnaden an die Sowjet-Union, die West-Ukraïne riß sich Polen unter den Nagel. Am Dnjepr wüteten Stalins Schergen, am Dnjestr nicht minder schlimm Pieracki, der polnische Innenminister, Todfeind aller Minderheiten, der Deutschen ebenso wie der Litauer, Juden und - Ukraïner. Bandera erschoß ihn auf offener Straße, wurde gefaßt, zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. Als die Sowjets 1939 in Polen einmarschierten, ließen sie ihn frei, schoben ihn aber als potentiellen Unruhestifter ins deutsch besetzte General-Gouvernement ab. Als er auch dort für einen unabhängigen ukraïnischen Staat zu agitieren begann, wurde er ins Konzentrations-Lager gesteckt, aber Ende 1944 wieder entlassen, nachdem die Deutschen die Ukraïne hatten räumen müssen. Nun war es ihnen egal, ob er dort für einen ukraïnischen Staat kämpfte - sie unterstützten ihn und seine "Insurgenten-Armee" sogar gegen die Sowjets. Sein Kampf war lang, aber aussichtslos. 1955 floh er nach München. Es sollte ihm ebenso wenig helfen wie einst Bronstein die Flucht nach Mexiko; vier Jahre später ist seine Reise beendet. Über die Ukraïne senkt sich Friedhofsruhe, und über den Mord wächst Gras. Kommunistische Propagandisten sorgen dafür, daß Banderas Andenken - und das seiner Kameraden, die man nun "Banderisten" und "Kriegsverbrecher" nennt - in den Dreck gezogen wird: In aberwitziger Verdrehung der historischen Tatsachen erklären sie ihn, den KZ-Häftling, zu einem "Nazi" und Mittäter des "Holocaust" - vor allem in jüdischen Publikationen wird sich diese Legende noch Jahrzehnte lang halten.

[Bandera]

[Nachtrag: Inzwischen hat Dikigoros Bandera eine eigene Webseite gewidmet. Es ist zwar nur ein kurzer tabellarischer Lebenslauf, der "Kennern" nicht viel Neues bringen mag; aber auch für letztere lohnt vielleicht ein Blick in die Fußnoten, insbesondere Nr. 3 und 6, deren Inhalt denn doch nicht jedem (mehr) bekannt sein dürfte.]

* * * * *

1985. In der Sowjet-Union kommt ein gewisser Mikhaïl Gorbatschëw an die Macht. Nanu, ein Bojar, ein Mann aus Fürstengeschlecht als General-Sekretär der KPdSU und Führer der größten kommunistischen Weltmacht? Dikigoros kann es kaum glauben, zumal ihm Freunde und Bekannte, die etwas davon verstehen müßten, erklären, daß es sich da um ein "Weich-Ei" handele: "Der wird die UdSSR abwickeln; im Jahre 2000 sind die Randstaaten wieder unabhängig." Was gegen ihn spreche? Der vertrage nichts und wolle den Russen das Saufen abgewöhnen - man nenne ihn schon spöttisch den "Mineral-Sekretär"; das könne nicht gut gehen. Etwas skeptisch ist Dikigoros schon; aber er will die Zeichen der Zeit nicht verkennen und besucht nochmal die Universität, um Ukraïnisch zu lernen. Nur zwei Stunden pro Woche, nach Vereinbarung, das ist kein großer Aufwand, und es fällt Dikigoros relativ leicht, denn er hat ja auf der Schule Russisch gelernt, und so weit sind die beiden Sprachen nicht voneinander entfernt. Seinen harten russischen Akzent (das Ukraïnische wird viel weicher gesprochen) wird er allerdings nicht so schnell los, und die erwachsene Tochter seines Lektors läßt jedesmal, wenn er anruft, fast den Telefonhörer fallen vor Schreck. Die Familie lebt noch immer in Angst vor den KGB-Schergen in der Bundesrepublik (wohl wissend, daß letztere sie weder schützen kann noch will, weil ihrer christlichen Regierung doch die guten Beziehungen zu den atheïstischen Sowjet-Mördern viel wichtiger sind als ein paar Menschenleben), denn der alte Lektor, der aus einem kleinen Ort nördlich von Kiew stammt, ist "Banderist" und arbeitet für die Deutsche Welle, die von den Sowjets als feindlicher Propaganda-Sender angesehen wird. Einmal erzählt er Dikigoros wehmütig, wie er als Kind in den riesigen Ginster-Feldern spielte, nach denen sein Heimatort benannt ist. Ginster heißt Tschórnobil, lernt Dikigoros, und als Esels-Brücke merkt er sich das daran, daß auf Russisch tschjornyj schwarz heißt, und bil Gras; die Ukraïner betrachten also Ginster als schwarzes Gras - ist das nicht lustig? Ginster ist doch gelb oder weiß, und Gras ähnelt er schon gar nicht, sondern eher einem Dornenstrauch! Erst viele Jahre später wird Dikigoros lernen, daß der gelbe Ginster auch im deutschen (und lateinischen) Fach-Jargon der Botaniker "schwarzer" Ginster heißt, wörtlich "schwarzer Klee", Cytisus nigricans Cyni, welch ein düsterer, unheilsschwangerer Name... [Ja, liebe Leser von Wikipedia, Dikigoros weiß wohl, daß in "Langenscheidts Taschenwörterbuch der russischen und deutschen Sprache" (das er selber noch aus Schulzeiten besitzt) für Ginster "drok" steht, und "tschjornobylnik" für Beifuß; aber das richtige Wort für Beifuß (und - für alle, die meinen, sich um des Kaisers Bart streiten zu müssen - auch für seinen nahen Verwandten, den Wermut) ist "polyn" bzw. "polin"; und im Zweifel glaubt Dikigoros in solchen Dingen eher seinem Lektor - der schließlich aus Tschornobil stammte - als dem seligen Herrn Blattner und dessen Nachfolgern, die das mehr oder weniger unkritisch von Auflage zu Auflage bei ihm abgeschrieben haben.] Damals lernt er erstmal, daß die russischen Namen "Kiew" und "Dnjepr" auf Ukraïnisch "Kijiw" (geschrieben "Kiïw") und "Dnipro" (oder - in Kijiw - "Dnepr") heißen.

[Gorbi]

April 1986. Dikigoros und seine Frau machen einen Wochenend-Ausflug an die holländische Nordsee-Küste. Aus dem Autoradio klingt wie so oft nur dummes Geschwätz. "Nun mach' doch endlich diesen Mist aus, ich will Musik hören," sagt Frau Dikigoros. Ihr Mann wechselt den Sender. So erfahren sie erst am nächsten Morgen vom Reaktor-Unfall im Atom-Kraftwerk von Tschjórnobil. Im Westen - wo man nicht weiß, daß ein "ë" (der Doppelpunkt über dem "e" wird freilich - für Ausländer verwirrend - oft nicht mit geschrieben) im Russischen wie betontes, weiches "jo" ausgesprochen wird - geht er unter seinem vermeintlichen russischen Namen "Tschernobyl" in die Geschichte ein, so wie Fürst Potjómkin in die Geschichte als "Potemkin" eingegangen ist und Fürst Gorbatschjów in die französische Geschichte als "Gorbatschev" eingehen wird. [Hätte es damals schon so etwas wie eine Sprach-Autonomie für die Ukraïner gegeben, wäre das nicht passiert, denn auf Ukraïnisch schreibt sich das wie gesagt "Tschornobil", mit "o" statt mit "ë".] Die nähere und weitere Umgebung der Unglücks-Stätte ist auf Jahre hinaus atomar verseucht. Also wird es erstmal nichts mit einer Reise in die Ukraïne, zumal von einer Lockerung des festen Griffs, mit dem die Moskauer Zentrale ihre Satelliten und Sowjet-Republiken gepackt hält, noch nicht die Rede sein kann. Vielleicht ist Fürst Gorbatschjów doch kein Weich-Ei? Politologen haben ja schon oft geirrt...

* * * * *

1991 ist es dann doch so weit - sogar noch eher als Dikigoros' Freunde es voraus gesagt hatten: Das marode Sowjet-Imperium beginnt, sich in seine Bestandteile aufzulösen. Die Satelliten-Staaten, allen voran die DDR, sind ihm schon davon gelaufen, und nun franst auch die Sowjet-Union selber an ihren Rändern aus: Die Balten im Nordwesten wollen nichts mehr von ihren slawischen "Brüdern" wissen, ebenso wenig die muselmanischen Turk-Völker im Süden von ihren orthodoxen Genossen. Auch die Ukraïne bereitet sich auf die Unabhängigkeit vor. Moskau will das zwar erst nicht zulassen und schickt Panzer; aber dann wird der "Mineral-Sekretär" gestürzt. (Wie zum Hohn benennen sie daraufhin ausgerechnet eine Wodka-Marke nach ihm.) Sein Nachfolger, ein dicker, tapsiger Bär, ist aus ganz anderem Holz geschnitzt; der verträgt ordentlich was, ist meist besoffen oder verkatert, und sie nennen ihn "Zar Borís", nach Borís Godunow, dem tüchtigen und trinkfesten, aber letztlich glücklosen Operetten-Zaren, unter dem Rußland im 17. Jahrhundert fast zerfiel. Er macht seinem Namen Ehre, denn unter seiner Führung tritt ausgerechnet Rußland selber aus der Sowjet-Union aus und versetzt ihr damit den Todesstoß. Über den schwarzen Tag im schwarzen Gras von Tschornobil, über 15.000 Tote und 50.000 Verkrüppelte (aber was ist das schon, verglichen mit den Opfern der Großen Säuberung, der Zweiten Großen Reise und der zehn Jahre von 1945 bis 1955?) ist inzwischen Gras gewachsen (die Russen und Ukraïner teilen diese Redensart für "in Vergessenheit geraten" mit den Deutschen); über den Reaktor hat man ein paar hundertausend Tonnen Stahlbeton gegossen, fertig.

[Ukraina 1992]

Pünktlich zur Unabhängigkeits-Feier der Ukraïne (die ein Jahr nach deren offizieller Erklärung statt findet - damals wollte sie noch so gut wie niemand anerkennen) hat Dikigoros ein hochkarätiges Reise-Grüppchen zusammen gebracht: Jockel, einen Journalisten aus Wien, Geert, einen Steuerberater und Wirtschaftsprüfer aus Belgien, und seinen alten Freund und Reisegefährten Melone, der schon wieder (oder immer noch) auf Freiersfüßen wandelt und glaubt, daß die Ukraïnerinnen nicht so anspruchsvoll sind wie die Polinnen und nicht so primitiv wie die Russinnen, sondern gerade die richtige Mischung. Via Warschau fliegen sie nach Kijiw, und als sie mit erklecklicher Verspätung ankommen, stellen sie als erstes fest, was sie alles vergessen haben: Jockel seinen Presse-Ausweis, Melone seine Zahnbürste, Dikigoros seine Sonnenbrille und Geert seine Visitenkarten. Macht nichts, die von Dikigoros sind eh repräsentativer, er schwatzt ihm die Hälfte ab. Und die Sonnenbrille braucht man auch nicht unbedingt, denn draußen ist es schon stockdunkel. Umso schlimmer, daß die vier keine Zimmer reserviert haben und keinen richtigen Stadtplan besitzen (zu Sowjet-Zeiten war so etwas aus Gründen der militärischen Sicherheit streng geheim, und neue gibt es noch nicht) - die Reise fängt ja gut an. In den staatlichen Hotels (die es reichlich gibt, und die offenbar gähnend leer sind) werden sie abgewiesen: "Sie haben keine Einladung und gehören keiner Reisegruppe an; als Privatleute müssen Sie sich ein privates Hotel suchen." Im Andrejewskij Spusk [Andreas-Gäßchen], schräg gegenüber von der gleichnamigen Kirche, soll es eines geben. - Wie man dahin kommt? - Keine Ahnung.

[Kiew bei Nacht]

Das Quartett kann sich auch nicht einigen und beschließt: Getrennt marschieren, vereint schlagen. Dikigoros geht zu Fuß und fragt sich durch (er hat keine Angst, schließlich spricht er die Landessprache, wenn auch nicht akzentfrei - ein älteres Ehepaar, das selber noch etwas Deutsch kann, erkennt ihn gleich als Germanen und ist sehr hilfsbereit); er kommt als erster an und belegt die beiden letzten freien Doppelzimmer. Jockel nimmt die Straßenbahn - er schafft es nach fünfmal Umsteigen und dreimal in die falsche Richtung fahren als zweiter. Melone nimmt ein Taxi - er wird letzter, da er sich eine halbe Stunde mit dem Fahrer herum gestritten hat, der ihn erst durch die halbe Stadt kutschiert hat und ihm dann 150 US-$ dafür abknöpfen wollte. Geert nimmt den Omnibus - er kommt überhaupt nicht an, d.h. bis er ankommt, will das Kleeblatt der Angekommenen nicht warten, denn nebenan gibt es einen sehr einladenden Biergarten, und sie haben Durst. Sie fallen natürlich als Ausländer auf. Einige nette junge Leute setzen sich gleich an ihren Tisch, fragen woher sie kommen und was der Zweck ihrer Reise sei. Melone braucht nur den Mund aufzumachen, schon werden ihm hübsche junge Mädchen zuhauf vorgeführt, von ihren "Freunden". "Nur 20 US-$ pro Nacht." - "Morgen, wenn ich ein Einzelzimmer habe," sagt Melone und bestellt noch eine Runde. Die Getränke kann man - anders als die Hotelzimmer - in ukraïnischer Währung bezahlen. "Karbowanzen" heißt das Zeug; sie taufen es gleich in "Wanzen" um, denn viel mehr ist es nicht wert: Die Flasche Wodka (es sind 0,5-Liter-Bierflaschen) kostet umgerechnet 50 Pfennige, und die Flasche Krım-Sekt (schlecht gekühlt, findet Dikigoros) 2,50 DM. Die Sowjets hatten die - nach Ausrottung oder Deportation der Krım-Goten und Krım-Tartaren rein russisch besiedelte - Halbinsel Krım der Ukraïne zugeschlagen, weil es nicht drauf ankam, und die hat sie nun behalten und streitet mit Rußland, wem die Sekt- und Weinkeller gehören.

[Krimsekt]

Und, fast ebenso wichtig, die Häfen - vor allem Sewastópol - und die Schwarzmeer-Flotte. Übrigens beides Schöpfungen des im Westen so verkannten Fürsten Potjómkin; er soll sogar eigenhändig die Pappeln gepflanzt haben, nach denen die Seefestung benannt wurde und unter denen für so viele Reisegefährten von Dikigoros' Vater die Große Fahrt zu Ende ging. Auf große Fahrt kann man mit den Pötten heute zwar nicht mehr gehen; aber sie haben immerhin noch einen nicht unbeträchtlichen Altmetallwert. Aber es gibt ein noch viel düsteres Erbe als diesen toten, alten Schrott, nämlich den lebenden, jungen Schrott. Während sich die anderen besaufen, unterhält sich Dikigoros mit einigen Veteranen des Afģānistān-Krieges, den die UdSSR ebenso verloren hat wie die USA den Vietnam-Krieg, nämlich so unnötigerweise wie sie ihn geführt hatte. [Nein, liebe Leser, das schreibt sich nicht "Afghanistan", denn "gh" ist ein weicher Laut, der sich wie ein aspiriertes deutsches "g-h" spricht; das "ģ" in Afģānistān dagegen ist ein "ģain", ein harter Reibelaut, fast wie ein deutsches - oder russisches - "ch" nach a, o oder u (oder, noch genauer, wie ein griechisches "γ" oder wie ein Berliner "r"); und beide "ā" sind lang und betont, genau wie das "ā" von Kābul, seiner Hauptstadt.] Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied: Anders als die GIs, die meistenteils nicht nur nicht wußten, was sie in Vietnam verloren hatten, sondern vielmehr zu wissen glaubten, daß sie dort nichts verloren hatten, glauben die Russen, daß sie in Afģānistān für eine gute und gerechte Sache kämpften, und sie sind verbittert. So verbittert wie etwa nach den großen Weltreisen des 20. Jahrhunderts die Beumelburg, Blunck, Degrelle, Dwinger, Ettighoffer, Johst, Rudel, Skorzeny und Vesper, die ja auch glaubten, für eine gute und gerechte Sache gekämpft und zu Unrecht verloren zu haben. Ohne diesen Glauben kann man wohl kein guter Soldat sein; der Ärger ist nur, daß dieser Glaube bisweilen nicht ganz mit der Wirklichkeit überein stimmt. "Wir haben Afģānistān das Terror-Regime der Mullahs ersparen wollen," sagt einer von ihnen, "und wir haben nur verloren, weil uns der Westen in den Rücken gefallen ist." - "Nein, ihr habt nicht das Mullah-Regime, sondern die Monarchie gestürzt, die sogar mit euch verbündet war; durch diesen Sturz habt ihr den Aufstand der Muslime gegen die kommunistische Regierung in Kābul doch erst provoziert. Und verloren hättet ihr den Krieg auf lange Sicht so oder so; eure eigenen turkmenischen Truppen sind doch am laufenden Band desertiert oder haben den Mujaheddin Waffen verkauft." - "Trotzdem hättet ihr die Mullahs nicht unterstützen dürfen; das werdet ihr eines Tages teuer bezahlen." Diese Leute - hervorragende Soldaten, sonst hätten sie nicht überlebt - sind nicht mehr bereit oder in der Lage, einen zivilen Beruf auszuüben. Die Armee braucht sie nicht mehr, die Polizei auch nicht. Sie hängen herum, werden kriminell oder bestenfalls Gorillas. Sie fragen Dikigoros, ob er sie nicht als Legionäre in den Westen vermitteln könne - einige sprechen Englisch und sogar ein wenig Deutsch. - Nein, deswegen sei er nicht her gekommen. - Aber irgend einen Grund müsse sein Besuch doch haben? Dikigoros überlegt, was die wohl hören wollen. So etwas wie "Tourismus" gibt es noch (?) nicht in der Ukraïne, also kramt er aus seinem Gedächtnis einen jener blöden, stereotypen Sprüche hervor, den er zu Sowjet-Zeiten in seinem Russisch-Schulbuch stehen hatte: "Wir sind gekommen, um die Völker-Freundschaft zu fördern." Sein Gegenüber blickt ihn an, als wollte er fragen: "Wollen Sie mich verarschen?" Aber er sagt nur ganz ernst - und auf Deutsch: "Freunde dürfen Sie hier nicht suchen."

Unterdessen hat Melone alleine drei Flaschen Wodka geleert, dazu zwei Flaschen Krım-Sekt und eine halbe Flasche grusinischen Cognac - der sagt ihm aber nicht so zu, zumal er etwas teurer ist. Gerade bestellt er lautstark seine vierte Flasche Wodka; aber noch bevor die gebracht wird, sinkt er endlich unter den Tisch. "Mußte das sein?" fragt Dikigoros Jockel (der immerhin noch auf eigenen Füßen gehen kann), "wie sollen wir dieses Schwergewicht denn nun zurück ins Hotel bekommen?" Zum Glück bieten sich einige der netten jungen Leute an, ihnen behilflich zu sein; sie tragen ihnen Melone nach ins Hotel, bitten noch um ein kleines Trinkgeld und verabschieden sich. Dikigoros ahnt noch nicht, daß der junge Mann auf geradezu makabre Art und Weise Recht behalten soll: Ein rundes Jahrzehnt später werden die USA den Sieg des Mullah-Regimes in Afģānistān mit der Zerstörung Manhattans und des Pentagons durch muslimische Kamikaze-Flieger bezahlen, die sie einst selber finanziert und für ihren "Jihād" gegen die "Ungläubigen" ausgebildet hatten. (Ihre Anführer und Hintermänner leben in Afģānistān, soweit sie nicht in der Bundesrepublik Deutschland großzügig gewährtes Asyl als "politisch Verfolgte" genießen.) Und die Zahl der amerikanischen Todesopfer wird an einem einzigen Tag die der russischen in zehn Jahren Krieg bei weitem übersteigen. Schließlich werden die USA und ihre SatellitenVerbündeten - u.a. die BRD - den von der untergegangenen Sowjet-Union abgebrochenen Krieg gegen Afģānistān an deren Stelle fort führen - der erste große Treppenwitz der Geschichte im 21. Jahrhundert...

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