Es ist nicht alles Gold was glänzt
EINE REISE NACH PRAG
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"GENS UNA SUMUS!"
Wenn Ihr den lateinischen Spruch aus der dritten Zeile der Überschrift nicht kennen solltet, liebe Leser - er bedeutet: "Wir sind ein Volk!" [Laßt Euch von den Küchen-Latein-Keksperten keine andere Übersetzung auftischen, vor allem nicht "Wir sind eine Familie" o.ä. Das, was wir heutzutage unter "Familie" verstehen, nämlich die in einem Haushalt zusammen lebende Kleinfamilie aus ein bis zwei Elternteilen und null bis einskommavier Kindern hieß "familias", die Großfamilie "centuria" und der Stamm "tribus". "Populus" meinte nicht das Volk - auch wenn das fälschlich in unseren heutigen Wörterbüchern steht -, sondern die Plebs, den Pöbel; deshalb lautete die offizielle römische Staatsbezeichnung auch "Senatus Populusque Romanus" - römischer Adel und Plebs. (Das spricht sich übrigens in richtigem Latein nicht "gänns" und "pläbbs", sondern "geens" und "pleebs" :-)] Aber der Spruch meint auch nicht das, was die Ossis 1989 auf den Straßen krakeelten, als sie eigentlich sagen wollten: "Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht geh'n wir zu ihr!" Und sie am Ende so ruinierten, daß sie wenig mehr als ein Jahrzehnt später abgeschafft und durch den Teuro ersetzt wurde. Nein, das ist eine andere Geschichte; hier will Euch Dikigoros auf eine Reise mitnehmen in eine Zeit, als die DM noch ihre volle Kaufkraft hatte und im Ausland - zumal im sozialistischen - den äußerlich sichtbaren Haupt-Unterschied ausmachte zwischen ihren Trägern aus der F.R.G. [offiziell "Federal Republic of Germany, inoffiziell "fine real Germans", d. h. gute, echte Deutsche] und denen des Aluchips (den Deutschen zweiter Klasse - die man damals noch nicht "Ossis" nannte). Wobei es nicht so viele Orte gab, an denen diese beiden Species aufeinander treffen konnten. Der mit Abstand beliebteste war die "goldene Stadt" an den Ufern der Moldau, die alte Hauptstadt Böhmens und die neue der ČSSR, der Česko-Slovenská Socialistická Republika.
Es war noch nicht lange her, daß dort die Träume des "Prager Frühlings" ausgeträumt worden waren. Einer der prominentesten Befürworter der Reformen Dubčeks, der beste Schachspieler, den die ČSSR seit ihrem Bestehen hatte, Großmeister Ludwig Bachmann alias Ludek Pachman (der nach 1945 seinen Namen tschechisieren mußte - dieser Zwang galt nicht nur für die wenigen Deutschstämmigen christlichen Glaubens, die der Ermordung oder Vertreibung durch die tschechischen Mörderbanden entgangen waren, sondern auch für die wenigen Deutschstämmigen jüdischen Glaubens, die noch im einst deutsch-jüdischen Prag geduldet wurden - wen die Einzelheiten interessieren, der kann sie hier nachlesen), wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee von den sowjet-russischen Folterknechten einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen und dann halbtot in den Westen abgeschoben - übrigens eine Parallele zu einem anderen Deutschstämmigen jüdischen Glaubens aus Prag, Wilhelm Steinitz (nein, er mußte sich damals noch nicht in "teynic" umbenennen, nur in "William", als er die US-Staatsbürgerschaft annahm :-), dem ersten Schachweltmeister, der gut sieben Jahrzehnte zuvor in einer tsaristisch-russischen Irrenanstalt zugrunde gerichtet wurde (aber das ist eine andere Geschichte, die Ihr nirgendwo anders mehr findet - sucht ihn nicht in einem deutschen Lexikon, liebe Leser, er ist nicht mal im 20-bändigen Brockhaus verzeichnet). Selbst wenn Pachman noch auf internationalem Niveau hätte Schach spielen können, gedurft hätte er es ohnehin nicht mehr; ein Schicksal, das so viele große Sportler traf, die in den Westen "über machten", also "Republikflucht" begingen. (Immerhin sollte er sich einige Jahre später soweit erholen, daß er wenigstens BRD-Meister wurde.) Legal in den Westen ausreisen durften nur absolut linientreue Kommunisten, wie der Schlagersänger Karel Gottar alias "Karel Gott", der zwar keineswegs "die goldene Stimme von Prag" hatte, als die seine Promoter ihn allenthalben anpriesen, der sich aber immerhin eine goldene Nase verdiente mit Liedern wie "Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld..." Ja, welcher Angehörige des real existierenden Sozialismus hätte davon nicht geträumt? Aber wozu hätte ein tschechischer Schachspieler überhaupt ins westliche Ausland reisen sollen? Nach dem kurzen Zwischenspiel des Deutsch-Amerikaners Robert ("Bobby") Fischer war der Weltmeister-Titel des königlichen Spiels - den dieser auf Island gewonnen hatte, als dort gerade die "demokratischen" Sozialisten regierten, weshalb es als "neutral" galt - wieder fest in sowjetischer Hand. Umgekehrt wurde ein Schuh draus: Wenn ein Westler ein hochkarätiges Schachturnier besuchen wollte, dann mußte er in den Ostblock reisen. Das galt auch für "Fidi" - so genannt, weil er einmal gesagt hatte: "Spätestens mit 30 bin ich FIDE-Weltmeister."
[Exkurs. FIDE ist die Abkürzung für Fédération Internationale Des Échecs (Internationaler Schach-Verband), dessen Wahlspruch eben jenes "gens una sumus" war und ist. Wobei freilich feine politische Unterschiede gemacht wurden zwischen dem "einen" Volk und dem anderen "einen" Volk. So wurden schon im Gründungsjahr 1924 die weltbesten Spieler - zumeist Juden aus dem Deutschen Reich, Österreich und Ungarn - von der ersten Schach-Olympiade ausgeschlossen mit der Begründung, daß sie alle Kriegsverbrecher seien (diese Olympiade wurde später aus den offiziellen Geschichtsbüchern gestrichen und durch die zweite von 1927 ersetzt, bei der die Ungarn - nach langem Streit auf dem Olympischen Kongress anno 1925 in Prag - wieder mitmachen durften und prompt gewannen); fünfzig Jahre später traf es Südafrika und Rhodesien mit der Begründung, daß es dort keine schwarzen Schachmeister gebe. (Woanders gab es die zwar auch nicht, denn die meisten Neger machen sich nichts aus Schach und haben keine Lust, es zu meistern; aber danach fragte niemand.) Ein Jahr später erkannte die FIDE Bobby Fischer seinen Weltmeistertitel ab, weil er ihn nicht zu Bedingungen verteidigen wollte, die ihn gegenüber seinem sowjetischen Herausforderer Karpow (einem braven KPdSU-Genossen) massiv benachteiligt hätten; der einzige Sekundant, der für ihn in Frage gekommen wäre - überhaupt der einzige Freund, den der exzentrische Bobby unter den Schach-Großmeistern noch hatte -, war just jener Ludek Pachman, und der schied ja nun aus. Heute kann man es endlich laut und deutlich sagen: Die FIDE war von Anfang an eine kriminelle Vereinigung und ist es seither geblieben; sie existiert zwar immer noch, aber inzwischen sind ihre Machenschaften aufgedeckt; die weltbesten Spieler haben ihr längst den Rücken gekehrt und tragen ihre eigenen Weltmeisterschafts-Turniere aus, und das ist gut so. Doch damals, als Fidi und Tarzan nach Prag fuhren, hatte die FIDE noch ein unangefochtenes Monopol. Rückblickend findet es Dikigoros heute skandalös, daß er seinerzeit mit Fidi zu einem Schachturnier nach Prag gereist ist - man hätte diese Banditen schon damals boykottieren sollen. Aber damals, als Tarzan, machte er sich darüber noch keine Gedanken; es war halt wie es war - sollte man deshalb aufs Schachspielen verzichten? Die Tschechen selber haben die Ereignisse von 1968/69 doch auch verdrängt! Exkurs Ende.]
Als Fidi das sagte, war er 13, jetzt ist er Mitte 20 und hat noch nicht einmal die IM-Norm erfüllt. (Man muß sie zweimal erfüllen, um den Titel "Internationaler Meister" - der unter dem Titel "Großmeister" rangiert -, verliehen zu bekommen; dafür darf man ihn dann auf Lebenszeit führen.) Es ist also höchste Zeit für ihn, den Worten Taten folgen zu lassen und einen erneuten Anlauf zu nehmen. Sein Schachfreund Tarzan dagegen hat solche Pläne längst begraben und eigentlich nie ernsthaft gehegt; er war zwar mal Jugendmeister (in einem Jahr, als Fidi völlig von der Rolle war); aber sein letztes größeres Turnier hat er in den USA gespielt und es schon nicht mehr gewonnen; eigentlich fährt er nur als Fidis Schlachtenbummler und Sekundant mit. Damals konnte man als Privatmann nicht so einfach in ein sozialistisches Land reisen (obwohl auch in der BRD inzwischen die "demokratischen" Sozialisten regierten und Herbert Frahm alias 'Willy Brandt' am Ort des Warschauer Ghetto-Aufstands von 1943 seinen berühmten Kniefall gemacht hatte, wovon die polnischen Kommunisten - Christen- und noch mehr Judenhasser, die sie sind - in etwa so begeistert waren wie knapp 900 Jahre zuvor Papst Gregor VII von Kaiser Heinrichs IV Gang nach Canossa), sondern man mußte entweder eine Einladung vorweisen können (und sich dann dem strengen Reglement des Einladenden - in diesem Falle dem tschecho-slowakischen Schachverband - unterwerfen), oder sich einem lizensierten Reiseveranstalter anschließen, also in der Gruppe fahren, mit dem Bus, über Nacht. Ankunft um 12 Uhr - so steht es jedenfalls im Prospekt von "Intercontact"; es wird also noch reichlich Zeit bis zum Turnierbeginn um 17 Uhr bleiben, zumal man die Schachuhr theoretisch fast zwei Stunden lang laufen lassen und dann die ganze Partie im Blitztempo herunter spielen kann - Fidi ist ein guter "Blitzspieler". Unterwegs vertieft er sich nochmal in seine Eröffnungs-Theorien, während Tarzan vor sich hin döst. Draußen regnet es in Strömen, der Bus bleibt mit Reifenpanne liegen, einmal, zweimal, dreimal - oder wars beim dritten Mal ein Motorschaden? An der Grenze haben sie zwei Stunden Aufenthalt, weil irgendwer westliche Bücher und Zeitschriften mit hat und sie offen herum liegen läßt - deren Einfuhr ist streng verboten im Ostblock, denn die könnten ja die sozialistische Moral untergraben -, und nun wird der ganze Bus von vorne bis hinten und von oben bis unten gründlichst durchsucht; anschließend steht noch der Zwangsumtausch an. (Der offizielle Reiseführer, der an der Grenze zusteigt, bietet beim ersten Stop hinter derselben einen um 10% günstigeren Schwarzmarktkurs an; aber das ist den meisten das Risiko nicht wert.) Als sie endlich in der Goldenen Stadt eintrudeln (im Schneckentempo; es gibt strenge Geschwindigkeits-Begrenzungen, und der Busfahrer wagt nicht, sie zu übertreten, denn die Strafen sind - jedenfalls für Westler - happig), ist es schon nach 19 Uhr und stockdunkel (die großen Schachturniere finden im Herbst statt), und als der Fahrer nach einer weiteren knappen Stunde endlich zum Hotel gefunden hat, wissen die beiden Studenten, daß sie statt einer Woche Schachturnier eine Woche Stadtbesichtigung vor sich haben.
[Kleiner Exkurs, da Dikigoros ja aus diversen Zuschriften weiß, daß viele seiner Leser seine "Reisen durch die Vergangenheit" als Reisen durch die Gegenwart mißverstehen und sie als Reiseführer-Ersatz nehmen: Ist es eigentlich schlimm, sich mal eine Woche Zeit für eine Stadt wie Prag zu nehmen? Zählt die böhmische Metropole nicht zu den Städten, die nach der Meinung vieler "eine Reise wert" sind? Nun, mit den derart gelobten Städten ist das oft so eine Sache. Wenn Dikigoros mal die europäischen Metropolen, die diesen Anspruch erheben, vor seinem geistigen Auge Revue passieren läßt, dann muß er das einigen rundweg absprechen: Paris, Rom und Athen sind verdreckte Moloche, um die man auf Reisen einen weiten Bogen machen sollte. Über Stockholm, Kopenhagen und Amsterdam will er den Stab nicht völlig brechen, da er sie immer nur im Regen kennen gelernt hat. Aber es gibt halt auch ein paar Städte, die selbst im Regen sehenswert sind, wie London, Lissabon und Wien. Und im Ostblock? Vergeßt Warschau und Moskau. Budapest und Sankt Peterburg kennt Dikigoros wieder nur im Regen und/oder Schneematsch; bleiben allein
Kiew
und - Prag. Nicht auch Istanbul? Pardon, aber das ist keine europäische Stadt mehr, auch wenn der große Reiseschriftsteller Hans-Christian Andersen sie im 19. Jahrhundert noch dazu zählte (damals - 1841 - war sie das vielleicht auch noch). Die Reihenfolge seiner Lieblingsmetropolen war übrigens: Stockholm, IstanbulKonstantinopel, Neapel, Kopenhagen - und er sah das zeitloser als Dikigoros, denn er achtete zuerst auf die Schönheit der landschaftlichen Lage, insbesondere die am Meer. Allerdings kannte Andersen einige außereuropäische Städte nicht, sonst hätte er unter diesem Aspekt bestimmt auch San Francisco, Rio de Janeiro, Kapstadt, Sydney, Hongkong und EdoTōkyō erwähnt. Dikigoros schreibt das mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wenn er daran denkt, wie die Menschen des 20. Jahrhunderts diese einstigen Traumstädte und Traumstätten ruiniert haben; und wenn Ihr denn auch noch wissen wollt, was er von einigen heutigen Metropolen in Übersee hält: Bagdad und Bombay, Kairo und Kapstadt, Bangkok und Hongkong, Buenos Aires und Rio de Janeiro, Los Angeles und Vancouver sind längst keine Reise mehr wert. (Aber Dikigoros möchte seine Reisen dorthin vor z.T. vielen Jahrzehnten gleichwohl nicht missen - ihre einstige Schönheit lebt in seiner Erinnerung weiter, so wie die Schönheit der einstigen deutschen Stadt Prag vielleicht in der Erinnerung einiger Vertriebener weiter lebt und bisweilen auch noch hinter der häßlichen Fratze des tschechischen Praha hervor lugt - und sei es unter dem aufgerissenen Straßenbelag, auf den er gleich zurück kommt.) New York steht auf der Kippe; fahrt möglichst bald dorthin, liebe Leser, ebenso nach San Francisco, Singapur und Sydney, bevor man auch die von der Liste der Sehenswürdigkeiten streichen muß. Exkurs Ende.]
Zu allem Überfluß sind sie völlig ohne logistische Vorbereitung dafür, haben nicht mal einen Stadtplan, und auch nichts im Bauch außer einer gehörigen Portion Frust, denn Abendbrot gibt es zu dieser späten Stunde nicht mehr - es sei denn in der Hotelbar, und da ist es natürlich nicht inclusive, sondern kostet extra. Frechheit - so etwas muß man ja nicht unterstützen! "Hing da nicht irgendwo das Zusatzprogramm, das wir nicht gebucht haben?" fragt Tarzan. "Ja, am Schwarzen Brett," meint Fidi. Sie stiefeln hin: "Abendlicher Besuch in der allseits beliebten Szene-Kneipe 'U Fleku' mit Gulasch und dem weltberühmten Schwarzbier." Na denn - Tarzan montiert das Programm und den Stadtplan ab und nimmt beides mit, so finden sie relativ problemlos hin.
Das "U Fleku [zum Flecken]" ist gerammelt voll, hauptsächlich mit Touristen (eine Gruppe Limeys grölt lautstark: "My Bonny is Over the Ocean"), obwohl das Gulasch äußerst mittelprächtig ist, und das Schwarzbier... (So steht es auf den deutschsprachigen Speisekarten, die bekanntlich höhere Preise haben als die tschechischen, auf denen "cerné pivo" steht.) Sie tun ihr bestes, um ihm etwas Geschmack abzugewinnen, aber nachdem Tarzan 5½ und Fidi immerhin 4½ Liter davon getrunken haben, um ihren Frust zu ersäufen (fleißige Leser der "Reisen durch die Vergangenheit" wissen ja bereits, daß Dikigoros sich in jungen Jahren keines sehr soliden Lebenswandels befleißigt hat) sind sie immer noch nicht blau - wahrscheinlich wird das Zeug mit Wasser verpanscht. Sie teilen sich einen Tisch mit einem ostdeutschen Trio - Vater, Sohn und Schwiegertochter in spe -, mit denen sie sich sehr nett unterhalten. Man merkt kaum, daß sie aus ganz anderen Welten kommen; und rückblickend stellt Dikigoros fest, daß diese ersten leibhaften DDR-Bürger, die er im Leben getroffen hat, ganz maßgeblich sein Vorurteil mit geprägt haben, daß Ossis auch Deutsche seien.
Das liegt wahrscheinlich daran, daß es "Kapitalisten" sind, die einen der letzten kleinen selbständigen Familien-Betriebe führen, die in der DDR nach der großen Plattmache Anfang der 1970er Jahre noch geduldet werden. (Klempner, die braucht man immer; wenn man solche Leute nicht gelassen hätte, hätten sie es schwarz gemacht, denn die Staatsbetriebe der DDR sind nie in der Lage gewesen, Dinge wie die Instandhaltung, geschweige denn Sanierung von Altbauten in den Griff zu bekommen; und auch die neuen "Plattenbauten" sind sehr schnell zu Altlasten geworden.) Sie schimpfen genauso auf die sozialistische Gängelung von oben wie ihre kapitalistischen Brüder in der BRD - aber wahrscheinlich mit mehr Grund. Steuern, Abgaben, Materialknappheit, Arbeitskräftemangel... Halt, das ist anders als im Westen, wo die Arbeitslosigkeit allmählich beginnt, ein Problem zu werden (obwohl sie noch nicht halb so hoch ist wie heute): "Wir würden gerne mehr Leute einstellen, aber wir dürfen nicht, sonst wären wir kein Kleinbetrieb mehr; wir würden unseren Leuten auch gerne höhere Löhne zahlen, aber das dürfen wir auch nicht, denn sonst könnten ja die in den staatlichen Betrieben unzufrieden werden - Fachleute abwerben dürfen wir schon gar nicht. Und wir dürfen auch keine Überstunden machen lassen, obwohl Arbeit genug da wäre und unsere Mitarbeiter es liebend gerne täten, aber das ist streng verboten..." Fehlendes Material im Ausland hinzu zu kaufen kommt auch nicht in Frage, denn die Ostmark, im Volksmund "Aluchip" genannt, ist praktisch nichts wert, nicht mal in den sozialistischen "Bruderländern". Das beste Beispiel ist der Zwangsumtausch, der für DDR-Bürger umgekehrt verläuft: Wenn sie eine Reise in die ČSSR machen (das einzige Land, in das sie ohne Visum ausreisen dürfen), haben sie Anspruch darauf, daß ihnen der Staat einmal im Jahr 40 Mark gegen 80 Kronen eintauscht, also 1:2. (Da die Krone offiziell knapp 10 Pf West entspricht, liegt die Ostmark also bei ca. 20 Pf West.) Mit umgerechnet 8.- DM West kommt man natürlich nicht sehr weit (man soll ja auch nicht zu lange verreisen :-), also muß man nachtauschen. Nicht etwa schwarz, bewahre (kein Schwarzhändler würde Ostmark annehmen!), sondern bei der Staatsbank der ČSSR, und dort ist der Kurs 2:3. (Wenn man berücksichtigt, daß die Krone schwarz nur 8 Pf kostet, liegt also der reale Kurs der Ostmark sogar nur bei 12 Pf West. Da die Ostmark-Einkommen in der DDR aber in etwa den Westmark-Einkommen in der BRD entsprechen, ist das für DDR-Bürger so, als müßte ein BRD-Bürger 1,50 DM pro Krone bezahlen, also das 15-fache, d.h. die Kaufkraft der Ostmark im Ausland liegt unter 7 Pf West!) Deshalb können sie sich kein Hotel leisten, sondern zelten irgendwo am Stadtrand ("neun Straßenbahn-Haltestellen raus") auf der grünen Wiese. Wiedervereinigung? Niemand spricht das Thema an.
Beim morgendlichen Frühstück stellen unsere Reisenden fest, daß sie in Sachen Abendbrot nicht allzu viel versäumt haben können: Kümmelbrot (unbegrenzt!), pro Nase eine hauchdünne Scheibe Kümmelkäse und ein Klecks Marmelade, Marke ungenießbar, dazu dünner Tee, eine Kanne pro Tisch. Es regnet noch immer; und wenn man eh naß wird, kann man ja gleich mal zur Moldau hinunter gehen (die genau so dreckig ist wie die schöne blaue Donau, der Rhein und andere viel besungene Gewässer), denn wie alle Touristen zieht es die beiden Studenten als erstes zur berühmten Karlsbrücke. (Sie trägt ihren Namen übrigens erst seit dem 19. Jahrhundert - bis dahin hieß sie einfach nur "die Brücke", weil es noch keine anderen gab.) Die Brückentürme, durch die man sie betritt, sind wirklich sehr sehenswert und erinnern daran, daß diese Brücke einst als Stadtgrenze zwischen der Altstadt und der Kleinstadt (die damals noch Neustadt hieß) diente, ganz ähnlich wie die alte Bonner Rheinbrücke zwischen Bonn und Beuel, deren im Krieg zerstörten Türme leider nicht wieder aufgebaut wurden. Die beiderseitig aufgestellten Heiligen-Statuen erinnern Tarzan an Würzburg - obwohl dort ja Bischofs-Figuren stehen. Tarzan schaut bei solchen Dingen genau hin, und er wundert sich: über Heilige, von denen er noch nie gehört hat, über die Madonna, die gar nicht das liebe Jesulein auf dem Arm trägt, sondern den heiligen Bernhard (das Jesulein trägt vielmehr die heilige Anna), über Kyrill und Method (was wollen die denn hier? Gerade die Tschechen haben ihre Schrift doch gar nicht übernommen!) und darüber, daß ausgerechnet die Statue des heiligen Nepomuk das beliebteste Fotomotiv zu sein scheint. Wer war das eigentlich? (Auf Befragen eines Fremdenführers: Der Beichtvater der Königin von Böhmen, den ihr Mann in der Moldau ertränken ließ - also ein Märtyrer -, weil der ihm unter Hinweis auf das Beichtgeheimnis nicht verraten wollte, mit wem sie ihn betrogen hatte :-)
Ein Blick hinter die Kulissen offenbart, daß im einst deutschen Prag noch immer eine Menge alter Substanz steckt: Unter der stümperhaft hingesauten Asfaltdecke der Straßen schauen die guten alten Katzköpfe aus der guten alten K. & K. ["kakanischen"] Zeit hervor; und hinter den verkommenen Haustüren, die manchmal offen stehen, sieht man alte Fußboden-Mosaïken, Marmorsäulen... Und mitten drin Mülltonnen, über Putz verlegte Leitungen, verrostete Briefkästen und der gleiche Gestank wie aus allen Hinterhöfen - das charakteristische Kennzeichen des tschechischen Praha. Fidi hat eine Kamera mit genommen - Fotografieren ist sein einziges Hobby außer Schach spielen, und er überlegt jede Einstellung und Belichtung ebenso lange und sorgfältig wie einen Schachzug. Aber er hat keinen Blick fürs Ganze - vielleicht ist er auch deshalb nie Schachweltmeister geworden: Statt in den Fluren diese himmelschreienden Gegensätze einzufangen, holt er brav und bieder mit dem Teleobjektiv die letzten heilen Gipsputten isoliert von den Wänden. In einem Park an der Moldau steht das Denkmal einer strahlenden jungen Heldin der sozialistischen Frauen-Emanzipation; davor kehrt ein altes, abgehärmtes Mütterchen in Lumpen die Wege. In der Bethlehems-Kapelle ist der Weg ins Innere mit einem Gitter versperrt. Statt hier symbolisch die babylonische Gefangenschaft der Kirche im real existierenden Sozialismus einzufangen, baut Fidi sein Stativ zwischen die Gitterstäbe und knallt überall seinen Fernblitz drauf.
Exkurs. Die Bethlehems-Kapelle ist nicht irgendeine Kapelle, und sie ist auch nicht wegen jener Stadt im Heiligen Land berühmt, sondern wegen eines Mannes, der hier seine Heimatpfarrei hatte: Jan Hus, der Nationalheilige der Tschechen, der die Lehren John Wycliffes auf dem Kontinent verbreitet hatte und dafür vom römischen König unter Bruch des ihm zugesagten freien Geleits als Ketzer verbrannt wurde. [So steht es jedenfalls in den meisten Geschichtsbüchern. Die Wahrheit ist, wie so oft, etwas komplizierter: Der König hatte ihm zwar einen Freibrief für die Reise von Prag zum Konzil von Konstanz und zurück ausgestellt, aber darum scherten sich die überwiegend italienischen und französischen Kardinäle, die sich dort versammelt hatten, herzlich wenig. Diese - nicht der böhmische König und schon gar nicht die Deutschen, denen die Tschechen das bis heute anlasten - ließen Hus verhaften und hinrichten.] An ihm scheiden sich die Geister, und auch Dikigoros begegnet ihm nicht ohne Zwiespalt, denn er ist trotz allem, was manche Leser meinen mögen, kein Nationalist - oder doch nur insoweit, als er jeder Nation ihren Nationalismus zubilligt, auch den Tschechen. Was hat Hus für sie getan? Er hat den mittelböhmischen Dialekt zur Schriftsprache erhoben (er ist u.a. der Erfinder des Háček) und hat ihn damit zur "tschechischen" Sprache gemacht - insoweit war er für die Tschechen das, was Luther mit seiner Bibelübersetzung für die Deutschen war; und er war ihm - und Thomas Müntzer, dem anderen deutschen Reformator, der just hier sein "Prager Manifest" verfaßte - zeitlich sogar rund hundert Jahre voraus. Auch in religiöser Hinsicht war er für die Tschechen das, was Luther für die Deutschen werden sollte: Er geißelte die Mißstände in der Kirche und predigte Rückkehr zum einfachen, frommen Glauben, gegen Prunksucht, Schwelgen in Putz und Tand einer abgehobenen Geistlichkeit, die vom einfachen Volk schmarotzte. Nun traf es sich aber, daß damals Geistlichkeit und Obrigkeit mehr oder weniger eins waren, ebenso wie in der Wissenschaft (die damals praktisch gleichbedeutend war mit der Theologie und ihren Hilfswissenschaften Kirchenrecht und Rhetorik) - und die Prager Universität war ein Zentrum dieser Wissenschaft in Europa. Zugleich war es Sitz des böhmischen Königs und Kaiser des (später) so genannten Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Und speziell gegen diese deutsche Nation richteten sich die Predigten Hus' im Ergebnis, denn sie stellte die Obrigkeit. Wie es ein späterer Biograf ausdrücken sollte: Es ist schwer zu sagen, ob Hus gegen die Deutschen predigte, weil sie die Obrigkeit stellten, oder gegen die Obrigkeit, weil sie deutsch war.
Nachtrag. Damals hat Dikigoros diese Frage offen gelassen. Und nun bekommt er Mails von Lesern, die wissen wollen, wie er heute, nachdem er einige Jahrzehnte älter geworden ist, darüber denkt. Hm... Seine Leser werden enttäuscht sein, denn er hat auf diese Frage - die ja nicht von ihm selber stammt - immer noch keine Antwort, er hält sie vielmehr für irreführend. Wahrscheinlich hat man da zwei Dinge vermischt, die viel weniger mit einander zu tun hatten als gemeinhin angenommen, nämlich den Nationalismus und die Religion, und sie alle beide überbewertet. Der Nationalismus konzentrierte sich damals hauptsächlich auf die Sprache, d.h. Wycliff wollte die Messe auf Englisch gelesen wissen, Hus auf Böhmisch, Calvin auf Französisch, Luther auf Deutsch usw. Diese Sprachen traten aber untereinander gar nicht in Konkurrenz, sondern sie hatten einen gemeinsamen Feind: das Lateinische. (Schon die Spaltung zwischen Ost- und Westkirche war letztlich eine Folge des Sprachenstreits zwischen "Griechen" und "Lateinern", ähnlich wie später die Abspaltung der russisch-orthodoxen von der griechisch-orthodoxen Kirche.) Was man später "Reformation" nannte und was zur Spaltung in unterschiedliche "Konfessionen" führte, hatte ja nichts damit zu tun, daß man etwa plötzlich an einen anderen Gott geglaubt hätte, sondern damit, wie man ihn verehren wollte, d.h. vor allem, in welcher Sprache man zu ihm betete und in welcher Sprache die Heilige Schrift gelesen werden sollte oder durfte. Hätte man diese Leute machen lassen, dann gäbe es wahrscheinlich heute noch eine einheitliche christliche Kirche, halt bloß mit unterschiedlichen Bibelübersetzungen. [Das ist übrigens eine Besonderheit der christlichen Kirche. Die Spaltungen der anderen "Welt-Religionen" haben nichts mit unterschiedlichen Sprachen zu tun: Die Shi'iten und die Sunniten lesen den Kor'an, die Shiwaïten und Wishnuïten die Weden, und Buddhisten des großen und des kleinen Wagens den Pali-Kanon in ein- und derselben Sprache, egal welcher Nationalität sie sind. So akzeptieren auch die nicht-arabischen Völker - selbst die Türken, die sonst so nationalistisch denken - ohne Murren, daß der Kor'an auch bei ihnen auf Alt-Arabisch gelesen wird, einer Sprache, die sonst heute wohl genauso tot wäre wie das Lateinische oder das Kirchenslawische.] Und? Hätte sich dann etwas an der politischen Geschichte geändert? Wohl kaum, denn die - fälschlich - so genannten "Glaubenskriege" des 15., 16. und 17. Jahrhunderts, von den "Hussitenkriegen" bis zum "30-jährigen Krieg", hätte auch ohne Reformation statt gefunden, denn für die war die Religion (bzw. die Konfessionen) nur ein Vorwand: Am Ende kämpften Katholiken gegen Katholiken und Protestanten gegen Protestanten; deshalb erscheint all das Dikigoros heute weniger wichtig. Es gibt viel brennendere Fragen, nämlich wenn es um die in unmittelbarer Zukunft anstehenden Kriege geht, bei denen die Religion eine, nein die ausschlaggebende Rolle spielen wird. Denn beim "Zusammenstoß der Zivilisationen" - wie das ein inzwischen leider verstorbener jüdischer Professor mal genannt hat - werden die Angehörigen aller christlichen Konfessionen, ja aller nicht-muslimischen Religionen, ob sie wollen oder nicht, in einem Boot sitzen; und wenn sie nicht ertrinken wollen in der islamischen Flut, dann werden sie sich zusammen raufen müssen zum Kampf auf Leben und Tod gegen ihre gemeinsamen Feinde. Erst wenn der Islam vom Antlitz der Erde vertilgt ist, werden wir uns wieder den Luxus leisten können, untereinander über Fragen des Glaubens zu streiten - und das wird ja dann, wenn es keine Muslime mehr gibt, hoffentlich auch auf friedlichem Wege möglich sein. Aber um auf Jan Hus zurück zu kommen: Unabhängig davon, wie Dikigoros damals über ihn dachte und heute über ihn denkt, findet er es doch irgendwie geschmacklos, daß die BRD anno 2014 eine Gedenkmünze auf eben jenes Konzil heraus gab, bei dem er getötet wurde, zumal es nach 600 Jahren weiß Gott keine aktuelle Bedeutung mehr hatte. Nachtrag Ende.
Nun mag es gute, ja zwingende Gründe geben, sich gegen eine fremde Obrigkeit zu erheben - je nach dem, wer sie ist und was sie tut. Die Geschichte kennt viele Eroberer, die lediglich in ein Land eindrangen, um es politisch zu unterwerfen, wirtschaftlich auszubeuten, von seiner Kultur zu schmarotzen und sie letztlich zugrunde zu richten. Wenn also die mongolischen Horden nach China eindrangen, die primitiven Turkvölker nach Indien oder die islamischen Araber nach Ägypten, Mesopotamien und Persien, dann war Widerstand nicht nur gutes Recht, sondern geradezu heilige Pflicht eines jeden Angehörigen der unterworfenen Völker (für deren Nichterfüllung vor allem die letzteren teuer bezahlt haben). Aber es gibt auch Fälle (zugegebenermaßen seltener), in denen ein primitiveres Volk von seinen kulturell höher stehenden Eroberern erst all das erhalten hat, was aus ihnen ein lebens- und verteidigenswertes Gemeinwesen macht. Ein klassisches Beispiel dafür ist die deutsche Kolonisation in Osteuropa - die, nebenbei bemerkt, weitgehend als friedliche Landnahme und Urbarmachung wüster Flächen verlief, oft sogar auf ausdrückliche Einladung hin. Nicht wahr, es kann kaum verwerflich sein, wenn diejenigen, welche die Städte bauen, auch die Bürgermeister stellen, diejenigen, welche die Kirchen einrichten, die Bischöfe, diejenigen, welche die Universitäten organisieren, die Professoren (in Prag wurde die erste deutsche Universität gegründet, älter als die in Wien, Heidelberg, Krakau und Straßburg), und diejenigen, welche die Brauereien bauen, die Braumeister - auch wenn die anderen viel besser im Biertrinken sind. Wenn die Dinge so stehen, gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder lernen die Unterworfenen allmählich all das, was ihnen die "Kolonial-Herren" einmal voraus hatten, selber genauso gut zu tun - dann ist aus der Sicht der Eroberer etwas schief gelaufen, und sie dürfen sich nicht wundern, wenn sie früher oder später davon gejagt werden (zumal wenn ihre Frauen eine niedrigere Geburtenrate haben als die der "Eingeborenen", weil sie lieber das emanzipierte Luxus-Weibchen spielen wollen als die verachtete "Kindergebär-Maschine" - daß sie damit alles aufs Spiel setzen, was ihre Männer im Schweiße ihres Angesichts erobert und erarbeitet haben, weil Kriege bis zum 20. Jahrhundert nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Kindbett gewonnen oder verloren wurden, sehen sie nicht), denn die anderen brauchen sie ja dann nicht mehr.
Die zweite Möglichkeit ist, daß die Unterworfenen nichts gelernt haben, aber trotzdem alles haben wollen und ihre Wohltäter hinaus werfen. Dann werden sie noch einige Zeit von der Substanz zehren, die letztere ihnen hinterlassen haben, aber dann geht es bergab und letztlich alles vor die Hunde. So ist es z.B. in den einstigen Kolonien Schwarzafrikas nach dem Rauswurf der Europäer und Inder geschehen - und in Osteuropa nach dem Rauswurf der Deutschen. Auf diesen verhängnisvollen Weg hat die Tschechen erstmals Jan Hus gebracht; und seither ist er von ihnen für solche Versuche immer wieder zum Vorbild genommen worden - bis ins 20. Jahrhundert, 1919 und 1945. (Erst nach dieser vorerst letzten Vertreibung der Deutschen begannen die Prager auch mit dem Wiederaufbau der Kapelle - das Original war anderthalb Jahrhunderte zuvor abgerissen worden.) Insofern war Hus einer der wenigen Religionsstifter und politischen Ideologen, dessen Anhänger seine Lehre nicht verfälschten, sondern wortgetreu und sinngemäß ausführten. In den Hussiten-Kriegen, als die tschechischen Banden raubend und mordend, sengend und plündernd durch Mitteleuropa zogen, taten sie nichts anderes als das, was Hus ihnen gepredigt hatte. Übrigens wurden auch die Hussiten letztlich nicht von "den Deutschen" vernichtet, sondern sie scheiterten an inneren Zwistigkeiten; letztlich wurden die so genannten Táboriten (meist radikale Bauern) von den so genannten Utraquisten (meist Adelige) besiegt. [Der Treppenwitz der Geschichte ist, daß es von ihnen heute unter den rund zehn Millionen Tschechen keine 400.000 mehr gibt; Katholiken gibt es dagegen fast vier Millionen - fast so viele wie Konfessionslose, und das nach über vier Jahrzehnten Kommunismus!] Was allen Tschechen gemeinsam geblieben ist, ist allein der Haß auf alles Deutsche; es ist halt immer einfacher, gemeinsam gegen etwas zu sein als gemeinsam für etwas; und die Deutschen - vor allem die deutschen Juden - haben sich schon immer gut zu Sündenböcken machen lassen. Exkurs Ende.
Auf den Straßen tauchen Erinnerungen an die gute alte Zeit auf, wenn - wie vielfach in der Altstadt - der Teer abbröckelt und darunter die schönen alten Mosaïk-Bürgersteige wieder zum Vorschein kommen (bzw. auf der Fahrbahn die Katzenköpfe). Oder die guten alten Laternen, die als Hängevorrichtungen für Straßenschilder die Zeit überdauert haben. Die Kirche am Novo Mesto (Neuplatz) ist komplett von einem Baugerüst verdeckt. Fidi fotografiert das, versäumt aber wieder die Pointe, nämlich das Nebengebäude, das bestens renoviert ist - es handelt sich um die Polizeistation. Aber vielleicht sollen die Baugerüste der Kirchen auch nur Besucher abhalten, sie sehen nämlich gar nicht aus, als seien sie nur vorübergehend zwecks Renovierung angebracht, sondern wie für die Ewigkeit; z.T. werden sogar die Gerüste selber sorgfältig angestrichen - die Farbe fehlt dann wieder, um das eigentliche Objekt zu streichen, also müssen die Baugerüste noch länger stehen bleiben, folglich wieder selber gestrichen werden, wenn die Farbe abblättert, usw. - die reinsten Schildbürger-Streiche! Aber was sollte man sich auch in der Kirche anhören? Der Mensch lebt nicht vom Brot allein - es muß auch etwas Fleisch bei sein. Wie sieht die Lage auf dem Versorgungssektor aus? Nun, die Schaufenster der Fleischereien sind voll, und es gibt auch nicht die berühmt-berüchtigten Schlangen wie anderswo im Ostblock. Vielleicht weil alles so teuer ist? Gewiß, Hauptstadt-Preise, aber ob es in der Provinz ebenso viel Auswahl gibt? Erstaunlich ist die Auswahl an Nippes, pardon Reiseandenken, vor allem Porzellan (eine Zweigstelle der Meißner hat im 19. Jahrhundert bei Eichwald ["Dubí"] mal eine Zweigstelle eröffnet; seitdem produzieren sie dort mit penetranter Eintönigkeit Zwiebelmuster in bayrisch weiß-blau) und Glas. Fidi ist beeindruckt; aber Tarzan erinnert sich dunkel an eine Werbe-Broschüre des Kaufhofs (wo Fidis Freundin jobbt, um sein Studium zu finanzieren, denn er ist von seinem Schachspiel noch nicht reich geworden): Weinpokale aus böhmischem Kristall mit Goldrand, Serien "Ramona", "Pantogravur Gold" oder "Goldband" kosten da je 4,95 DM - hier ein vielfaches, selbst wenn man den Schwarzmarktkurs zugrunde legt. Auch der Granat-Schmuck aus Gablonz ["Jablonec"] ist seit der Vertreibung der deutschen Juweliere eher drittklassig. Aber reingehen und anschauen kostet nichts, also tun sie das mal. Die Verkäuferin ist wieder so, wie man sich das im Sozialismus vorstellt: Sie macht nicht den geringsten Versuch, die Leute zum Kaufen zu animieren: "Will you take it?" fragt sie lustlos; und als Fidi verneint, läßt sie es einfach auf dem Tisch liegen - wahrscheinlich würde es nicht mal auffallen, wenn es einer mitnähme, ohne zu bezahlen...
Im Norden der Altstadt, direkt unterhalb des Moldauknies, liegt das Judenviertel, das zwar offiziell nicht als Stadtteil gilt; aber Dikigoros sieht es so (wahrscheinlich zählt er sogar mit zu den ältesten) und kommt deshalb auf ursprünglich fünf Orte. Seit dem Toleranzpatent von 1781 hieß und heißt es offiziell "Josefsviertel", nach dem gleichnamigen Kaiser, der seine Einwohner großzügig mit Privilegien aller Art - Glaubensfreiheit, Gewerbefreiheit, Steuerfreiheit, Freiheit vom Wehrdienst - ausstattete. Auch hier liegt jede Menge Substanz brach, was umso schändlicher ist, als diese Ecke um die Jahrhundertwende aufwendig saniert wurde - unter sorgfältiger Aussparung der alten Synagogen, des jüdischen Rathauses und des jüdischen Friedhofs. Auf den letzteren und das angeschlossene Museum hat sich der Fremdenverkehr nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschossen; sein Besuch gehört zum Pflichtprogrom, pardon Pflichtprogramm aller braven Touristengruppen aus dem Ausland, insbesondere aus Deutschland. Da hätte sich Dikigoros doch fast von der neudeutschen Schreibweise der Gutmenschen verwirren lassen, die davon ablenken soll, daß "Pogrom" - so schreibt es sich richtig - ein russisches Wort und eine russische Erfindung ist (so wie "Concentration Camps [Konzentrationslager]" eine britische Erfindung sind). Oder vielleicht doch eine tschechische? Bereits im 11. Jahrhundert soll es Pogrome in Prag gegeben haben, und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erreichten sie ihren grauenvollen Höhepunkt: Die dreckigen Tschechen (und leider auch andere ach-so-christliche Europäer, die nicht auf Körperhygiene hielten) wurden von den Ratten angeknabbert, die Überhand nahmen (weil man sich angewöhnt hatte, die Katzen, die sie sonst gefressen hätten, wegen "Hexerei" zu verbrennen - beinahe wären sie damals in Europa ausgerottet worden). Die Ratten aber übertrugen die Pest, was freilich niemand merkte; vielmehr glaubte man, daß die Juden die Brunnen vergiftet hätten - es war eine irre Zeit. Das jüdische Museum (seinerzeit das größte in Europa) haben übrigens die Nazis während der Protektoratszeit eingerichtet und dort alle greifbaren jüdischen Kulturdenkmäler vor den Terror-Bombardements der Alliierten in Sicherheit gebracht. [Dort wurden u.a. die Filme "Jud Süß" und "Der ewige Jude" gedreht, die so tatsächlich zu dem wurden, als was man sie ausgab, nämlich zu "Dokumentarfilmen", d.h. unschätzbaren Dokumenten jüdischen Lebens im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Leider sind sie heute in Deutschland aus politischen Gründen noch immer verboten - man will doch die unmündigen Bürger nicht in Versuchung führen! Statt dessen setzt man ihnen in der Tube Jew Süss, die 1934er Schrott-Verfilmung der Briten von Feuchtwangers Roman vor.]
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Von alledem erfährt man freilich nichts in dem besagten Museum; da sind vielmehr alle Übel dieser Welt im allgemeinen und die der jüdischen Welt im besonderen auf die bösen Nazideutschen zurück zu führen. Tschechische Kollaborateure [französisches Wort für Mittäter]? Aber nein, die hat es nie gegeben - die Frage zu stellen grenzt schon an ein Gedankenverbrechen! Darf Dikigoros an dieser Stelle ein paar Worte über einige bekannte Prager Juden verlieren? Rainer Maria Rilke, Franz Werfel und Franz Kafka wurden allesamt hier geboren, und sie alle wendeten sich mit Grausen ab. Warum? Nun, sie liebten ihre Stadt, das deutsche Prag, und sie haßten die Tschechen, die es erst unterwanderten, dann verfremdeten und schließlich, nach 1918, alles deutsche und jüdische Kulturleben brutal unterdrückten, somit auch ihre - selbstverständlich auf Deutsch geschriebenen - Bücher. Nein, da gab es nichts zu verbrennen; es durfte erst gar nichts mehr auf Deutsch gedruckt werden! Die Tschechen schwafeln immer so viel davon, daß Prag zwischen den Weltkriegen die große, ach so tolerante Zufluchtsstätte aller politisch verfolgten Exilanten gewesen sei - daß das oft Kriminelle und Nichtsnutze waren, verschweigen sie ebenso wie den Exodus der echten Prager, der dazu in so peinlichem Gegensatz steht. Die Tschechen haben bis heute ein gestörtes Verhältnis zu jenen drei Söhnen ihrer Hauptstadt. Das muß noch nichts heißen - die könnten ja alle drei bekloppt gewesen sein und an Verfolgungswahn gelitten haben; Dikigoros kann das nicht beurteilen, denn er ist zugegebenermaßen nicht ihr größter Fan. Aber wie fleißige Leser seiner "Reisen durch die Vergangenheit" wissen, ist er ein großer Fan der Prager Reiseschriftsteller Richard Katz, Colin Ross und Egon Kisch; und daß solch weltoffene, vorurteilsfreie Leute der Stadt und ihrem tschechischen Regime ebenfalls den Rücken gekehrt haben, wiegt in seinen Augen schwer. Ach, liebe linke Leser, Ihr meint, daß gute Juden nicht national denken dürften, jedenfalls nicht deutsch-national, sondern allenfalls zionistisch? Dann lest mal, was andere Juden jener Zeit, darunter so scharfsinnige Psychologen wie Stefan Zweig - Autor der "Schachnovelle" - oder Sigmund Freud, die ja ebenfalls Kinder der Habsburger Doppelmonarchie waren, über den Nationalismus geschrieben haben - und zu welcher Nation sie sich bekannten. Glaubt Ihr, das seien schlechtere Juden gewesen als ein Marcel Reich-Ranicki oder ein Michel Friedman?
Die Nordbrücke über die Moldau - weniger berühmt, dafür auch weniger überlaufen als die Karlsbrücke - führt zum Wallenstein-Garten. (Die Tschechen nennen den Feldherrn, nach dem er benannt ist und über den Dikigoros an anderer Stelle mehr schreibt, "Valdteyn".) Über das dazu gehörige Palais liest man allenthalben etwas anderes: daß sein prächtiges Inneres unermeßliche Reichtümer berge, daß man nicht hinein dürfe, weil das Kultusministerium dort seinen Sitz habe, oder im Gegenteil, daß es da jetzt ein Museum gebe. Die Wirklichkeit für Fidi und Tarzan ist viel profaner: Der Kasten hat geschlossen; drei der vier Türen haben nicht mal mehr Klinken; deshalb steht es zumindest damals auch auf keinem Besichtigungsprogramm. Dafür hat die schräg gegenüber liegende St.-Josefs-Kirche geöffnet, ebenso die etwas weiter westlich gelegene St.-Niklas-Kirche. (Nein, nicht nach Dikigoros benannt, sondern nach seinem Namenspatron, dem heiligen Nikolaus :-) Endlich ein lohnendes Fotomotiv für Fidi: die größte Barock-Kirche Prags, strahlend von Gold, erdrückend in ihren Dimensionen, und überlaufen von Touristen aus aller Herren Länder - trotz des Baugerüsts draußen. Aber Dikigoros denkt, während er dies schreibt, noch an etwas anderes, das er Euch, seinen nicht-ideologischen Lesern (die Ihr ihm immer noch am liebsten seid :-) nicht vorenthalten will. War Euch das eben zu abstrakt mit den deutsch-jüdischen Schriftstellern und ihren Gründen, weshalb sie Prag den Rücken kehrten? Dann will Dikigoros Euch hier seine ganz persönliche, banale Theorie erzählen, die er leider nicht mit einem Erlebnis aus seiner Tarzan-Zeit garnieren kann, denn was er Euch vorstellen will, existierte damals schon nicht mehr. Vielleicht habt Ihr schon mal den Radetzky-Marsch gehört? Bestimmt. Der war nach einem Habsburger Feldherrn benannt, der sich im 19. Jahrhundert um die Niederwerfung einiger Revolutionen und Revolutiönchen verdient gemacht hatte. Nach seinem Tode wurde er mit einem Denkmal geehrt, das unweit der St.-Niklas-Kirche aufgestellt wurde; und das Café dahinter nannte sich seitdem "Radetzky-Café". Dort trafen sich die Kafka, Werfel, Brod und wie sie alle hießen zum Kaffee trinken, Schach spielen und Gedichte vorlesen. Gleich 1918 rissen die Prager das Denkmal ab, denn Radetzky war ja gar kein echter Tscheche. (Dikigoros weiß selber nicht so genau, was der war; heute nehmen ihn die Slowenen für sich in Anspruch, aber auch das ist kein Beweis, denn die sind gerade dabei, auf Teufel komm raus Berühmtheiten zu sammeln und nehmen so ungefähr jeden, den sonst niemand [mehr] will; kürzlich haben sie sogar die Negerin Merlene Ottey aus Jamaika zur "Slowenin" gemacht :-). Aber das war doch kein Grund, auszuwandern, oder? Nein, für sich genommen sicher nicht; aber es gibt den berühmten Tropfen, der ein Faß zum Überlaufen bringen kann, und da tut es bisweilen schon eine Träne. Nach und nach wurde die ursprünglich rein deutsche Kleinseite gewaltsam tschechisiert. Als auch der Inhaber des Radetzky-Cafés gezwungen wurde, seinen Laden in "Malostranská Kavárna" umzubenennen, war es so weit - die Gäste gingen fort, und die meisten sollten nie wieder nach Prag zurück kehren.
Das "goldene Gäßchen" ist enttäuschend - jedenfalls empfinden Fidi und Tarzan das damals so. Im Rückblick meint Dikigoros: zu Unrecht. Diese alten Häuschen sind vielleicht das einzige Stück mittelalterliches Prag, das originalgetreu restauriert ist - so ärmlich haben die Menschen damals gelebt und gearbeitet, und zwar durchaus nicht die Bettler, sondern die ordentlichen Handwerker. Daß vor allem die Goldschmiede Prags wahre Krösusse gewesen sein sollen, ist ohnehin ein Gerücht. Im Vorübergehen hören sie, wie eine Reiseleiterin ihrer Gruppe erzählt, daß mit "zlatá ulička" gar nicht das "goldene" Gäßchen und mit "zlatá Praha" gar nicht das "goldene" Prag gemeint gewesen seien, sondern das goldige Gäßchen und das goldige Prag, und zwar wegen ihres goldigen Humors. [Exkurs. Diese Erklärung, die man in keinem Reiseführer wieder findet, hat Dikigoros keine Ruhe gelassen; er ist der Sache mal nachgegangen. Tatsächlich kann "zlatá" sowohl "golden" bzw. "gülden" als auch "goldig" bedeuten. Aber wurde in Prag nicht bis Ende des 19. Jahrhunderts überwiegend deutsch gesprochen, kann es also überhaupt auf die tschechische Bezeichnung ankommen? Ja, liebe Leser, denn dieser Beiname ist überraschend jungen Datums. Auch wenn Ihr in irgendwelchen neunmalklugen Büchern lesen werdet, daß diese Bezeichnung auf die vergoldeten Kirchturmspitzen zurück ginge, die Kaiser Karl IV. im 14. Jahrhundert anbringen ließ, oder auf die Goldschmiede und Alchimisten... aber wie ärmlich die ersteren lebten, habt Ihr ja gerade erst gelesen, und wieviel Gold die letzteren geschaffen haben, wißt Ihr wahrscheinlich auch - etwa soviel wie die Tschechen Kultur. Aber im "Goldenen Gäßchen" lebten ja nicht nur Goldschmiede und Alchimisten, sondern z.B. auch Schriftsteller und andere Witzbolde, wie Franz Kafka (in der Nr. 22) - aber den hatten wir ja schon. Nein, als der Kaufmann Ibrahim b'n Jakob im 10. Jahrhundert aus dem damals noch maurischen Spanien nach Prag kam (er ist der erste, von dem wir so etwas wie eine Reisebeschreibung Böhmens besitzen), nannte er es nicht die goldene, sondern "die steinerne Stadt" - und das war ja schon was in einer Zeit, als die meisten Hütten noch aus Holz, Lehm und Stroh gebaut waren. Ein anderer Schriftsteller, Seppl Hormayer, nannte es Anfang des 19. Jahrhunderts "Stadt der Türme", wieder andere nannten es "Rom des Nordens" - was erstens kein Kompliment war, denn Rom war bis ins 19. Jahrhundert eine malaria-verseuchte Ruinenstadt, und zweitens ein Vergleich, der hinkte, denn Rom war nur auf sieben Hügeln erbaut, Prag immerhin auf neun. 1882 war es dann soweit: Zum ersten Mal in Prags Geschichte wurde ein Tscheche zum Bürgermeister gewählt (die Segnung einer Demokratie, die nach Ärschen zählte statt nach Köpfen!), und der nannte Prag in seiner Antrittsrede "slavá [slawisch] a zlatá" - was natürlich ein Wortspiel war, weil die beiden Adjektive in An- und Auslaut allitterieren. Zwei Jahre später griff ein gewisser Adolf Heyduk (der auf Tschechisch schrieb, obwohl er einen deutschen Vor- und einen ungarischen Nachnamen hatte - das Habsburger Reich war in seiner Endfase multikulti, deshalb sollte es auch bald untergehen) den zweiten Teil dieses Satzes auf und gründete eine Illustrierte (oder, wie man damals noch schrieb, Illustrirte) mit witzigen Geschichten unter dem Titel "Zlatá Praha". Die ging zwar bald ein, aber das Schlagwort vom "Goldenen Prag" blieb; und die Reiseleiterin wird wohl Recht gehabt haben, daß die übrigen und üblichen Erklärungen dieses Namens falsch sind. Exkurs Ende.]
Wie dem auch sei - selbst der goldigste Humor kann einem in Prag beim Essen schnell vergehen. Wie schrieb Shakespeare: "Es ist nicht alles Gold, was glänzt", d.h. das ist eine Fehlübersetzung, eigentlich schrieb er: "Es ist nicht alles Gold was glitzert [All that glisters is not gold]"; aber statt im deutsch-jüdischen Prag ließ er seine Geschichte in Venedig spielen, und der Satz bezog sich auch nicht auf den Kaufmann, der beim Juden Scheuschloß ein Pfund von seinem Fleisch verpfändete, sondern auf die drei Kästchen der Porzia, die besonders schlau sein wollte - und dann doch auf einen Heiratsschwindler herein fällt, der es nur auf ihr Gold abgesehen hat, aber das ist eine andere Geschichte. [Nachtrag: Ein Leser hat Dikigoros darauf hingewiesen, daß dieser Satz nicht auf Shakespeares Mist gewachsen sein kann, denn er kommt so ähnlich schon im Rolandslied vor - auf Ganelon gemünzt -, und dort wird er als älteres Sprichwort in Bezug genommen. Nun, sowohl der Verfasser des "Kaufmanns von Venedig" als auch der des "Rolandsliedes" waren wohl gebildete Leute, die sich in alten Zitaten auskannten; Dikigoros dagegen hat den Urheber nicht heraus gefunden - bis auf eine nicht belegte Vermutung, daß es wohl Aesop sei. Wenn ihn also eine(r) seiner Leser(innen) diesbezüglich aufklären könnte, wäre er sehr dankbar.]
Im "U Certa" gibt es keine böhmischen Spezialitäten, sondern nur internationale Küche, die sich Einheimische mangels Goldes - glänzend, glitzernd oder wie auch immer - schwerlich leisten können; aber dafür gibt es "echtes", d.h. aus Pilsen kommendes Pils, an dem Fidi sogleich einen Narren frißt, pardon säuft (es wird für die nächsten Jahre sein Lieblings-Getränk) - nicht so Tarzan, der sich nichts aus Pils macht. Sein Biergeschmack ist noch amerikanisch geprägt, und er findet es nicht nur damals, sondern auch heute noch lächerlich, wenn dem Lagerbier (das schließlich auch auf gute deutsche Tradition zurück geht - oder was glaubt Ihr, liebe Leser, woher die Schlitz, Pabst und Müller alias Miller kamen?) der Zugang zum europäischen Markt verschlossen bleibt unter dem Vorwand, es verstoße gegen das "deutsche" Reinheitsgebot von 1516 (das in Wahrheit ein bayrisches Reinheitsgebot war, um das sich dreieinhalb Jahrhunderte lang sonst kaum jemand scherte). Man kann auch nach dem Reinheitsgebot schlechtes Bier brauen, und gutes, ohne sich daran zu halten - warum darf es denn nur Gerstenmalz sein? Die Bayern selber stellen doch auch Weizenbier her! Und wenn die Tschechen gar behaupten, ihr "Budweiser" sei besser als das gleichnamige amerikanische, dann ist das nicht nur lächerlich (wie so mancher Werbegag), sondern geradezu eine Frechheit; es schmeckt nämlich deutlich schlechter; und diejenigen, die diesen Unsinn nachplappern, kennen in der Regel das amerikanische Budweiser gar nicht - oder sie haben halt keinen Geschmack. Und namensrechtlich haben die Tschechen schon gar keine Handhabe; denn allein die Amerikaner schreiben den Namen noch richtig (auch wenn sie umgangssprachlich nur noch "Bud" sagen - das 'u' als kurzes 'a' gesprochen); die Tschechen dagegen schreiben und nennen die alte deutsche Stadt - einst die drittgrößte und -reichste Böhmens - heute "Ceské Budéjovice" und das Bier "Budvar" - woher wollen die da einen namens- oder herkunftsrechtlichen Unterlassungsanspruch gegen "Bud[weiser]" ableiten?
[Nachtrag Februar 2003: Im Gegenteil hat Anheuser-Busch, die Firma, die "Budweiser" in den USA herstellt und vertreibt, in fast allen Staaten der Welt erreicht, daß den tschechischen Panschern die Bezeichnung "Budweiser" für ihr Gesöff verboten wurde. Nur in einem Land sind sie damit gescheitert: Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, wo ein paar besoffene Lords das Urteil in letzter Instanz - die das Oberhaus dort immer noch ist - gekippt haben zugunsten der Budvaren (aber das geschieht den Limeys mit ihrer nicht-vorhandenen Bier-Kultur ja nur Recht :-). Prosit!]
Nach dem Mittagessen, das eher eine Mittagtrinken war, steht der Hradschin (nein, kein 's' mit Háček - auf Tschechisch schreibt sich das vielmehr "Hradčany"!), der nördliche der beiden Hügel über dem westlichen Moldau-Ufer, zur Besichtigung an, mit der Hofburg (nach der er benannt ist - Hrad heißt Burg) und dem berühmten St. Veits-Dom. Letzterer ist - wie könnte es anders sein in Prag - baugerüstet und "wegen Renovierungsarbeiten geschlossen". Schade, Dikigoros hätte so gerne etwas mehr über jenen Veit geschrieben, den dritten Heiligen der Prager (neben Hus und Nepomuk), der eigentlich Italiener war und der erst über ein Jahrtausend nach seinem Tode in Form eines (wahrscheinlich falschen) Skeletts seinen Weg hierher fand (eine Parallele zum heiligen Jacob von Compostela - aber das ist eine andere Geschichte); doch es widerstrebt Dikigoros, im Nachhinein aus irgendwelchen Reiseführern abzupinnen, was er damals als Tarzan nicht sehen konnte, ebenso wenig wie die vielen anderen ausländischen Touristen, die das Schloß und den Burghof in mehr oder minder großen Gruppen überfluten und die fertigen Dias kaufen, die sie dann zuhause vorführen werden, als hätten sie die selber geschossen. Also schreibt er lieber etwas, was nicht im Reiseführer steht: Lingua franca der einheimischen Fremdenführer ist Deutsch; die Gruppenleiter übersetzen es dann in die jeweilige Landessprache ihrer Schäfchen. Tarzan und Fidi schließen sich ungeniert einer Gruppe an - das fällt entweder nicht auf oder wird stillschweigend toleriert. [Nein, liebe Leser, das ist durchaus nicht selbstverständlich. Versucht mal als Reisender in Deutschland - oder im Ausland bei einer deutschen Reisegruppe - zu "schmarotzen", in dem Ihr es wagt, Euch in Hörweite eines bezahlten Fremdenführers aufzuhalten; Ihr werdet sofort angegiftet werden, Euch zu verziehen, auch wenn Ihr gar nicht zuhören wollt! Glaubt bloß nicht, daß es immer angenehm ist, als Ausländer in Deutschland Urlaub zu machen!] Prag wurde und wird oft als die europäische Hauptstadt des Touristennepps beschrieben. [Einer der eifrigsten Warner ist der Journalist Hans-Jörg Schmidt vom Bonner Generalanzeiger, dem Dikigoros für die vielen instruktiven Beispiele dankt - ohne sie hier im einzelnen aufzählen zu wollen.] Aber außerhalb des Hotel- und Gaststätten-Gewerbes sind die Leute auffallend freundlich: Wann immer Fidi Anstalten macht, etwas zu fotografieren, gehen sie unaufgefordert zur Seite - offenbar freuen sie sich, wenn Touristen ihre Stadt sehens- und fotografierenswert finden. Auch ihre Studenten-Ausweise werden anstandslos anerkannt. (Tarzan hat einen internationalen, Fidi nicht, er muß sich also als Deutscher outen; macht nichts, auch er erhält auf alle Eintrittspreise in Museen etc. 80% Rabatt - wo gibt es das im Westen?)
Weniger sympathisch sind dagegen die Kellner der vielen (oft auch von Reiseführern empfohlenen, wie sie nach ihrer Rückkehr feststellen) Restaurants und Kneipen: Im "U Černeho vola" gibt es zwar ausgezeichnetes Bier, aber das Essen schmeckt beschissen. Im "U Tomaše" gibt es angeblich keine freien Plätze mehr - muß man sich hier den Eintritt mit Bestechungsgeld erkaufen? Im "U Šate" gefällt es ihnen auch nicht - es ist furchtbar verräuchert -; so landen sie schließlich im "U medvídku [Zum Bären]", an einem Tisch mit zwei jungen, ungemein vollbusigen DDR-Bürgerinnen: Die eine ist Lehrling für E-Technik in einem Berliner Betrieb, der Wanzen herstellt, die andere Supervisorin (ja, auch im Ossinesischen gab es schon englische Fremdwörter!) im Hafen von Rostock. Der Kellner muß aus dem angeregten Gespräch schließen, daß sie allesamt DDR-Bürger sind (Fidi und Tarzan laufen auch nicht gerade herum wie aus dem Ei gepellte Westler, sondern eher im Gammellook) und läßt sie so lange schmoren ("Kollege kommt gleich"), bis das Kassler glücklich alle ist; bleibt nur noch der Schweinebraten - natürlich mit Kümmel, wie alles hier, und einem geradezu lächerlich kleinen Klacks Sauerkraut - oder Gulasch, die Portion so knapp bemessen, daß Fidi gleich zwei bestellt. Auch die beiden Mädchen wohnen nach eigenem Bekunden auf dem Zeltplatz am Rande der Stadt. "Eigentlich habe ich gar keine Lust, heute abend das Zelt aufzuräumen," meint die Rostockerin und berichtet von dem furchtbaren Zustand der Anlage nach tagelangen Regenfällen. Na, da muß man doch Mitleid haben...
Die beiden Mädchen fallen beim Frühstück gar nicht weiter auf - da einige aus der Reisegruppe es ohnehin verschmähen und gar nicht erst erscheinen, ist für alle genug Kümmelbrot da, und der Rest ist eh ungenießbar... nicht so für die beiden aus der DDR, die sind wohl von zuhause ähnliches gewohnt. Heute steht die Südstadt auf dem Programm. Der Karlshof, von Karl IV angeblich der Aachener Pfalz Karls des Großen nachempfunden, hat - natürlich - geschlossen. Die Gottwald-Brücke (benannt nach einem der kommunistischen Funktionäre, welche die Tschecho-Slowakei nach dem Zweiten Weltkrieg in die Arme der Sowjet-Union getrieben haben) macht einen baufälligen Eindruck; aber sie bietet einen fantastischen Blick auf den Hügel der Libuše (Libussa), der sagenhaften Gründerin der Stadt. Ja, sagenhaft, denn was immer Euch die Reiseführer über jene Dame erzählen mögen, liebe Leser, sie hat bestimmt nicht das gegründet, was heute "Prag" oder "Praha" genannt wird, egal ob man das von der Bedeutung "Schwelle" oder "Rodung" ableitet. [Dikigoros neigt der letzteren Etymologie zu, denn anders als die indische Hauptstadt - deren Name auch von "Schwelle" kommen soll - ist Prag kein Einfallstor ins Land; und selbst wenn man "Schwelle" und "Furt" gleichsetzen wollte: Bei Prag gibt es keine Furt über die Moldau.] Das heutige Prag entstand erst Ende des 18. Jahrhunderts durch Zusammenlegung von vier oder fünf Siedlungen an der Moldau, deren älteste der heute "Vyehrad" genannte Teil sicher nicht ist - der ist mindestens ein Jahrhundert jünger als der Hradschin und erhielt erst im 15. Jahrhundert das Stadtrecht. Außerdem waren diese Siedlungen - wie alle Städte Böhmens - irgendwann zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert von Deutschen gegründet worden, nicht von Tschechen - die Landeier blieben zunächst tunlichst auf dem Lande, wo sie hin gehörten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts, als die feinen deutschen Bürger arbeitsfaul und die feinen deutschen Bürgerinnen gebärfaul wurden und immer mehr tschechische Arbeiter und Dienstboten für die Drecksarbeit in die Stadt holten, gerieten sie dort zahlenmäßig ins Hintertreffen. 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, lag der tschechische Bevölkerungsanteil Prags bereits über 50 und der deutsche unter 30%, so daß sich niemand wundern durfte, als die Tschechen nach dessen Ende die politische Macht ganz an sich rissen - und sie in einem Maße zum Völkermord mißbrauchten, wie es in der Geschichte Mitteleuropas bis dahin einmalig war. Die Tschechen sollten nur ein Vierteljahrhundert benötigen, um Böhmen und Mähren gänzlich von den Deutschen zu "befreien" und alles, was diese in einem runden Jahrtausend aufgebaut hatten, mehr oder weniger zu zerstören. Nach einem weiteren halben Jahrhundert, kurz vor dem Staatsbankrott, sollten sie wieder angeschissen kommen und die Hand aufhalten, um via EU-Beitritt erneut von den Deutschen zu schmarotzen - freilich ohne sich für ihre Verbrechen auch nur entschuldigen, geschweige denn sie wieder gut machen zu wollen - aber davon ahnten Fidi und Tarzan damals natürlich noch nichts.
[Exkurs. Auch wenn Ihr, liebe linke Leser, es mit dem Spruch halten solltet: "Als Adam grub und Eva spann, wer war denn da der Edelmann?" (So ist es richtig, und nicht "wo war denn da der Edelmann?", wie Heinrich von Reder es 1885 in seinem Lied "Bauernaufstand" übersetzte; denn das Original von James Prescott - aus dem englischen Bauernkrieg des 14. Jahrhunderts, also rund anderthalb Jahrhunderte vor dem deutschen, auf den es Reder qua Widmung an Florian Geyer bezieht - lautete: "When Adam delved and Eve span, pray, who was then the nobleman?") oder mit Bert Brecht, der seinen "lesenden Arbeiter" fragen läßt, ob Caesar, als er die Gallier schlug, nicht wenigstens einen Koch bei sich hatte - könnt Ihr ganz beruhigt sein: Die Deutschen brachten nicht bloß "Edelmänner" in das Land, das sie zum Herzland Europas machten, sondern auch und gerade tüchtige Handwerker. Zum Beispiel den Baumeister Peter Parler, der praktisch alles geschaffen hat, was Euch heute als mittelalterliches "tschechisches" Bauerbe von Prag vorgeführt wird (vom St. Veitsdom bis zur Karlsbrücke - noch ohne die Statuen, die wurden erst zur Barockzeit hinzu gefügt, als in Prag die deutschen Baumeister und Bildhauer Böhm, Braun, Kohl, Max, Mayer, Jäckel und vor allem die Dientzenhofers wirkten). Nein, natürlich nicht er alleine, er wird schon seine Maurer dabei gehabt haben; aber selbst wenn darunter ein paar Tschechen gewesen sein sollten - was Dikigoros bezweifelt - macht Euch eines klar: Es braucht zwar immer beides, doch die Maurer sind leichter zu ersetzen als die Baumeister, jedenfalls wenn man sie gleichwertig ersetzen will - Dikigoros formuliert es absichtlich so herum, weil das Wort minderwertig heute so einen bösen Beigeschmack hat, jedenfalls wenn ein Deutscher wagt, es auf etwas Nichtdeutsches anzuwenden. Der Inhalt der Aussage bleibt sich jedoch gleich - wer einen schlagenden Beweis dafür sehen will, der besuche Prag und begebe sich auf die Suche nach irgend etwas, das die Tschechen nach Vertreibung der Deutschen aus Böhmen und Mähren dort noch auf die Beine gestellt haben. Im übrigen glauben nur dichtende Sesselpupser und Schlipssoldaten des 20. Jahrhunderts, daß man keine Schlachten schlagen könnte, ohne daß der Koch mit der dampfenden Gulaschkanone hinter einem in der Etappe steht; viele große Schlachten der Weltgeschichte sind mit knurrenden Mägen gewonnen worden; und um auch gleich die Frage zu beantworten, wer denn der erste Edelmann war: Es war derjenige, der das Hab und Gut, das Adam ausgegraben und Eva ausgesponnen hatte, mit dem Schwert in der Hand und unter Einsatz seines Lebens gegen die Feinde verteidigte, die es ihnen nehmen wollten. Das sah übrigens schon Prescotts Landsmann William Shakespeare so. Er legt nämlich den beiden Totengräbern in Hamlet V, 1 folgenden Dialog in den Mund: "Es gibt keine älteren Edelleute als Gärtner, Grabenmacher und Totengräber; sie halten Adams Beruf aufrecht." - "War Adam denn ein Edelmann?" - "Na klar, er war der erste, der Waffen trug!" Exkurs Ende.]
Nicht mal ihre Metro haben die Tschechen selber gebaut - das waren die Ungarn. Aber auch mit der muß man mal gefahren sein; da regnet es wenigstens nicht rein... Auf der Národní tría (die in deutschen Reiseführen meist nicht oder falsch übersetzt wird, weil ihnen "Völkische Straße" peinlich ist - solche Wörter dürfen Deutsche nicht mehr in den Mund nehmen, nur noch alle anderen Völker der Welt) gibt es einen DDR-Bücherladen, der vor allem von DDR-Bürgern mit großer Begeisterung frequentiert wird - was sicher nicht im Sinne des Erfinders liegt, denn er soll ja ddr-deutsches Kulturgut im Ausland verbreiten! Hier geht Tarzan ein Licht auf, das den westdeutschen (und anderen westlichen) Politikern bis zuletzt nicht gedämmert hat: Die ganze Außendarstellung der DDR ist bloß Fassade; sie können zwar im Ausland ordentliche Bücher (und andere Exportartikel) verkaufen, sogar äußerst günstig; aber nur auf Kosten ihrer eigenen Bevölkerung! Unweit der Buchhandlung steht ein relativ nobler Freßschuppen, "Klašterni Vinárna". [Den bzw. die - Vinárna bedeutet Weinstube - gibt es heute noch; die meisten anderen sind entweder eingegangen oder haben einen "westlicheren" Namen angenommen, Anm. Dikigoros.] Nun, Tarzan hat sich nie etwas aus weißem Leinen und vergoldetem Besteck gemacht, sondern mehr auf das Essen geachtet; und das ist ebenso mittelprächtig wie anderswo in Prag - nur halt teurer; aber Fidi besteht darauf, den Mädchen zum Abschied (sie fahren nachmittags in die DDR zurück) "etwas Besonderes" zu bieten: vorweg einen trockenen, hochprozentigen Aperitif, gefüllte Tomaten mit Schinken, dann Hühnersuppe mit Nudeln, Tomaten-Paprika-Salat mit (mäßigem) "Parmesan"-Käse bestreut. Als Hauptgang mit Gin flambierter Schaschlik-Spieß und Pommes frites; dazu ein halbtrockener Rotwein, und zum Nachtisch Mokka-Vanille-Eis mit Erdbeeren und Ananas aus der Dose nebst schon leicht angesäuerter Schlagsahne. Klingt ja nicht schlecht; aber die Tschechen können eben auch nicht kochen - die berühmte "böhmische Küche" war genauso eine deutsch-österreichische Errungenschaft wie alles andere hier. Ja, Tarzans Mutter hat noch Bowidl-Datschgerln [Ihr findet Sie im Wörterbuch unter "Powidl-Tatschkerln" - über die richtige Schreibweise und Aussprache kann man streiten, über den richtigen Geschmack nicht!], Marillen-Knödel, Szegediner Gulyás [so schreibt es sich auf Ungarisch - wobei das "s" wie "sch" ausgesprochen wird -; die Ungarn verstehen darunter freilich das, was wir "Gulaschsuppe" nennen; zu unserem "Gulasch" sagen sie "Pörkölt"], Palatschinken [kein Fleischgericht, sondern am ehesten vielleicht den französischen Crêpes zu vergleichen], Nockerln [den italienischen Gnocchi verwandt], Krautfleckerln [Fleckerln sind eine Nudelart], Prager Schinken [nur richtig, wenn er im Teigmantel gebacken ist] und all die anderen berühmten Spezialitäten des alten Habsburger-Reiches zuzubereiten gewußt; aber wer hätte diese Kenntnisse nach 1945 unter den primitiven Tschechen bewahren sollen? Etwa die Zigeuner, die sie statt der vertriebenen oder ermordeten Deutschen ins Land geholt haben? Selbst die berühmten Braumeister waren stets Deutsche, genauer gesagt Bayern - sie haben die Technik des Pilsbrauens erst im 19. Jahrhundert nach Böhmen gebracht. Die Tschechen waren immer nur groß im Trinken, nicht im Brauen des Pivo - vielleicht war das Schwarzbier doch nicht gepanscht, sondern einfach nur ebenso mies zubereitet wie alle anderen Nahrungsmittel hier. Der Mensch ist, was er ißt, er ißt, was er kocht, und er kocht, wie er ist - deshalb widmet Dikigoros auf seinen "Reisen durch die Vergangenheit" dem Essen und Trinken immer einen breiten Raum, auch wenn einige seiner Leser, die weniger an kulinarischen Genüssen hängen, das für übertrieben halten mögen. Wollt Ihr denn nicht wissen, wie andere Völker leben? Was macht denn "Leben" aus? Richtig, Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung, mit anderen Worten: Essen, Trinken und Sex. Deshalb erfahren Reisende, die vor allem zu diesem Zweck in ein fremdes Land fahren, bisweilen mehr von demselben als solche, die dort nur alte Ruinen oder Museen belatschen.
Exkurs. Schreibt Dikigoros sonst nicht immer, er bemühe sich, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen und mit ihnen zu sprechen? Wohl wahr, aber das ist hier in Prag schlecht möglich: Erstens spricht er nur Russisch, kein Tschechisch, d.h. er kann zwar so ungefähr lesen und verstehen, was er hier sieht und hört (die slawischen Sprachen sind viel weniger weit voneinander entfernt als die germanischen oder die romanischen), aber wenn er selber den Mund aufmachen würde, dann hielten ihn die Einheimischen wahrscheinlich für einen Russen - und das will er sich denn doch ersparen. [Es ist schon etwas merkwürdiges mit dem Haß zwischen Völkern, die nahe verwandt und womöglich benachbart sind. In diesem besonderen Fall mag das Besatzungs-Regime die Haßgefühle noch verstärken - obwohl das russische Militär im Straßenbild Prags kaum präsent ist -, aber das allein kann es nicht sein. Was ist denn mit den Deutschen und den Holländern, den Israelis und den Palästinensern, den Japanern und Koreanern, den Serben und Kroaten, den Türken und Kurden, den Bharatis und Pakistanis in Indien, den Schotten und Iren in Ulster und und und? Sie sind viel enger mit einander verwandt als sie es selber wahr haben wollen, und dennoch hassen sie einander wie die Pest.] Zweitens kann man in einem kommunistischen System nicht davon ausgehen, daß einem die Leute die Wahrheit sagen - und wer würde es ihnen verdenken? Er könnte doch ein westdeutscher Spion sein, der sie nur aushorchen oder - noch schlimmer - ein ostdeutscher Spitzel, der sie der geheimen Staatspolizei ans Messer liefern will! Und drittens ist für ihn damals die Begegnung mit Ostdeutschen eine viel interessantere Erfahrung als die mit Tschechen. Aber müßten die nicht auch Angst haben, von Stasi-Spitzeln ausgehorcht zu werden? Nein, die kennen ihre Pappenheimer, pardon Mielkeheimer und können sie offenbar von harmlosen Wessis unterscheiden. Exkurs Ende.
Peggy - die Berlinerin - erzählt die traurige Geschichte ihres Bruders: Ausbildung bei der Handelsmarine (ein begehrter Job, weil man da vielleicht auch mal ins westliche Ausland reisen kann), schon so gut wie übernommen, da kam heraus, daß er auf dem Bewerbungsbogen den geisteskranken Urgroßvater (!) "vergessen" hatte; daraufhin mußte er Facharbeiter im Bergwerk (43-Stundenwoche, Monatslohn 600.- Mark Ost) werden; mehrmals aufgemuckt und über die Stränge geschlagen, zwar immer wieder 'raus gekommen, weil Papi braver Parteifunktionär ist, aber inzwischen so negativ gegenüber dem Staat eingestellt, daß er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abhauen würde... Fidi kontert mit der Lebensgeschichte seines Patenonkels: Falsche Partei, nach der sozialistischen Machtergreifung 1969 aus dem BMVg entlassen, anschließend auch sein privates Unternehmen mit staatlichen Schikanen systematisch ruiniert, heute bankrott... In vielerlei Hinsicht hat man es in der DDR leichter als im Westen: Peggy zahlt z.B. monatlich 10.- (zehn!) Ostmark Miete, Essen gibt es in der Werkskantine, und wer keine Arbeit hat, wird nicht etwa arbeitslos, sondern bekommt eine Planstelle zum Däumchendrehen - da ist der Lohn praktisch wie ein Taschengeld! Wenn man nicht gerade auf Luxusgüter fixiert ist... A propos: Was sind Luxusgüter? Vor dem Theater, einem häßlichen Stahlbetonkasten, stehen die Leute Schlange - wie gesagt ein ganz ungewohnter Anblick in Prag. Wonach? Etwa nach einer Theaterkarte? Weit gefehlt: nach chinesischen Mandarinen in Dosen! Und bezahlt wird in Westmark (1.- DM pro Dose)! Auch funktionierende Uhren sind offenbar ein Luxus in Prag: Die öffentlichen gehen jedenfalls alle falsch - wenn sie überhaupt gehen, manche stehen auch ganz -, und in einer Uhrenreparatur-Annahmestelle stehen sich die Leute bis weit auf die Straße hinaus die Beine in den Bauch, für Modelle, die man bei uns nicht mehr reparieren lassen, sondern gleich wegwerfen würde!
Kaum haben sich die Mädchen verabschiedet, bekommt Fidi schon wieder Durst auf "etwas richtiges" (ein Bier, genauer gesagt drei) und - Appetit auf die Kellnerin. Wie war das gerade? Der Mensch ist, was er ißt; und wer hier tagaus, tagein essen muß, kann ja nur so aussehen. Dabei wüßte Tarzan nicht mal genau zu sagen, was ihn an der Frau stört: Sie ist weder alt noch fett, hat blondes, gelocktes Haar, sauber frisiert, gute Zähne (keine Selbstverständlichkeit!) und ordentlich lackierte Fingernägel, trägt ein schwarzes Kleid mit Goldbordüren, weiße Schuhe und eine Halskette; aber irgendwie paßt sie trotzdem hierher... Wer Prag nicht gesehen hat, wird Schwierigkeiten haben zu verstehen, was Tarzan meint; wer es gesehen hat, wird es als vernichtendes Urteil empfinden. [Rückblickend erkennt Dikigoros, daß er damals nur den "homo communisticus" gesehen hat, das minderwertige Produkt minderwertiger materieller und geistiger Nahrung, wie er überall im Ostblock anzutreffen war und ist; es wird einige Generationen dauern, bevor sich die Völker davon erholen - wenn überhaupt. Aber speziell die Tschechen haben es nicht besser verdient. Hatten sie nicht unter deutschem Schutz 1939-1945 den höchsten Lebensstandard in ganz Europa, ja auf der ganzen Welt? Was die bösen Nazis damals den Tschechen im Protektorat Böhmen und Mähren hinten rein geschoben haben, war nach damaliger Kaufkraft mehr als die blöden Wessis seit 1990 den Ossis hinten rein geschoben haben. Mag ja sein, daß das nicht nur aus Nächstenliebe, sondern auch aus Eigennutz geschah - die Ex-Tschechei blieb weitgehend verschont vom alliierten Bombenterror, eignete sich also ideal zur Auslagerung von Industrie-Betrieben -, aber von diesen Investitionen konnten die Tschechen noch Jahrzehnte nach dem Krieg zehren. Jetzt, da sie die Russen am Hals haben, merken vielleicht wenigstens die Älteren unter ihnen, was sie an den Deutschen hatten, die sie zum Dank ermordet oder vertrieben haben. Ach, liebe Leser, Ihr meint, der böse SS-General Heydrich hätte seinerzeit die armen Tschechen unterdrückt? Wo habt Ihr denn das Märchen her? Lest mal in Churchills Memoiren nach, warum der den jüdischen SS-Obergruppenführer ermorden ließ: Weil dessen Herrschaft so milde war, daß die Tschechen sich zu seinen Lebzeiten beim besten Willen nicht zum "Widerstand" gegen das Reich gewinnen lassen wollten - viele erinnerten sich nämlich, daß sie Jahrhunderte lang sehr gut gefahren waren unter deutscher Anleitung (Dikigoros verkneift sich das Wort "Führung" :-), so auch jetzt: Die erste Maßnahme der bösen Nazi-Verwaltung war, daß jeder tschechische Arbeiter in Staatsbetrieben auf Staatskosten ein Paar ordentlicher Schuhe bekam - bis dahin hatten sie z.T. barfuß an den Maschinen gestanden. Nein, unter Heydrich hätte man keinen "Prager Frühling" gebraucht - und auch keine Panzer, um ihn nieder zu walzen!]
Abendessen im "Deminka". Nein, keine Ausführungen über die tschechische Küche mehr! (Das Schweineschnitzel mit Reis und Pilzen fällt weder besonders positiv noch besonders negativ auf, bedarf also keiner weiteren Ausführungen) Aber über das Restaurant: Es gehört zur "2. Kategorie", aber früher, in der kakanischen Zeit, muß es einmal mehr gewesen sein, wie vor allem ein Blick an die Decke offenbart: Dezent bemalte Stukkaturen, Kristall-Leuchter, eine ca. sechs Meter lange schwere Übergardine als Eingangstür zum Speisesaal, (nicht mehr ganz) weiße Untergardinen vor den Fenstern - und dennoch zivile Preise. [Gewiß, all das mag man für überflüssig halten - man kann sich auch auf den nackten Boden hocken und aus einem Schweinetrog essen, wenn er sauber ist - oder mit den Fingern aus einer Bananenschale, wie in Indien; viel wichtiger als das Dekor ist, ob das Essen etwas taugt. Aber solange die Herstellung solcher Luxusgüter für die Oberschicht nicht dazu führt, daß die Unterschicht hungern muß, weil damit zuviele Ressourcen verbraucht werden, sieht Dikigoros keinen Grund, sie nur aus Neid zu zerstören und ihre Träger aus dem Lande zu jagen. Soviel noch einmal zu Jan Hus.] Sie gehen zum Wenzelsplatz mit dem großen Denkmal hoch zu Roß. Der Name ist relativ neu, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (obwohl die "Neustadt" ein rundes halbes Jahrtausend älter ist), und das Denkmal noch neuer (es wurde erst kurz vor dem Weltkrieg dort aufgestellt), und Dikigoros weiß bis heute nicht, welchem Wenzel es gewidmet ist - vielleicht dem Bildhauer, der auch so hieß (obwohl er heute natürlich unter "Václav", der tschechisierten Form des Namens, läuft, wie ja auch der Platz inzwischen "Václavské ná" heißt)? Nein, wohl eher einem der böhmischen Könige dieses Namens, vielleicht Wenzel dem Faulen, der Prag zur Reichshauptstadt machte. Dies ist offenbar der Lieblingsplatz der Prager, und für Ostblock-Verhältnisse ist er ungewöhnlich hell erleuchtet. Fidi macht Nachtaufnahmen, wobei wieder die Hilfsbereitschaft der Leute auffällt: Fidi hat diesmal kein Stativ mit, aber er bekommt anstandslos eines geliehen.) Währenddessen kurvt ein elektrischer Wagen der städtischen Straßenreinigung um den Platz herum, ohne die Bürsten ausgefahren zu haben! Kein Wunder, daß hier alles derart verdreckt ist... Aber es gibt noch mehr Widersprüchliches: Es gibt zwei Discotheken - die eine heißt "Kavárna cukrárna", die andere trägt keinen Namen, jedenfalls keinen sichtbaren. [Rückblickend meint Dikigoros, daß wohl keine von beiden einen Namen trug, denn "Kavárna cukrárna" bedeutet nichts weiter als "Café Konditorei", und das befand sich wohl über dem Tanzkeller.] Aus beiden dröhnt westliche Musik, und dort stehen die Gäste in spe bis auf den Treppenabsatz des untersten Stockwerks Schlange. In den anderen Tanzlokalen herrscht dagegen gähnende Leere. Gähnend kommen auch Fidi und Tarzan zurück ins Hotel. "Was machen wir morgen?" fragt Fidi. Tarzan wirft einen Blick ins Zusatzprogramm: "Exkursion nach Karlstein und Konopité".
Nach dem Frühstück (wie gehabt) nehmen sie also die Metro zum Smichovski-Bahnhof, wo sie um eine Nasenlänge den 9-Uhr-Zug nach Karlstein verpassen. Sie haben also bis zum nächsten 40 Minuten Muße, sich die Metro etwas näher anzuschauen: Sie liegt, ähnlich wie die in London, tief unter der Erde und ist als potentieller Luftschutzkeller ausgebaut, mit entsprechenden sanitären Einrichtungen. Ist das eigentlich schlimm? In Deutschland wäre so etwas nicht möglich - die Linken würden gleich schreien: "Kriegsvorbereitung". Dabei ist das doch wirklich nur eine Verteidigungs-Maßnahme, wie sie die Regierungen der westlichen Staaten geradezu sträflich vernachlässigen. In der BRD ist man gerade dabei, den BvS - den Bundesverband für den [zivilen] Selbstschutz - zu demontieren (der nichts weiter tut, als Erste-Hilfe-Kurse abzuhalten und die Leute zu beraten, wie und welche Vorräte sie anlegen sollen, wenn Lebensmittel-Knappheit droht; also alles Dinge, die z.B. auch bei einer Hochwasserkatastrofe sehr nützlich sind.) Begründung: Je besser die Zivil-Bevölkerung vor den Folgen eines Krieges geschützt werde, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, einen Angriffskrieg zu führen. Mit dieser verbrecherischen Argumentation wird also die Zivil-Bevölkerung des Westens so gut wie ungeschützt den Folgen eines Krieges ausgesetzt - daß dieser auch vom Osten begonnen werden kann, verdrängt man geflissentlich. Oder nimmt man es bewußt hin? Für die Regierungs- und Parteibonzen stehen ja genügend Schutzbunker zur Verfügung - aber auch nur für die. Wie lautet der Meineid, den bisher noch jeder Bundeskanzler abgelegt hat, ohne rot zu werden (der derzeit amtierende ist es ja eh schon, von der Parteicouleur her!): "... Schaden vom Volke abzuwenden, so wahr mir Gott helfe." Zurück nach Prag. Natürlich versucht man nach außen hin, die Metro "zivil" aussehen zu lassen; die Haltestellen sind künstlerisch heraus geputzt, wenn auch weit weniger als etwa in Moskau.
Der Zug nach "Karlštejn" ist eine ausgemacht lahme Ente; er braucht für die lächerlichen 31 km eine ¾ Stunde. (Dafür ist er auch spottbillig: 4 ČKr, zzgl. 1 ČKr für die Metro, zusammen also 45 Pf - was nehmen gleich die Reiseveranstalter für diesen "besonderen Ausflug"? 20.- DM? So so...) Sie fahren vorbei an armseligen Dörfchen und Einheimischen, die in der dreckigen Moldau (die Tschechen nennen sie übrigen "Vitava") baden. Mit im Abteil sitzt ein älteres Ehepaar undefinierbarer Herkunft - Fidi und Tarzan fragen nicht nach, denn bei den Jahrgängen gibt es für sie keinen Unterschied zwischen Ost und West; die stammen wohl noch aus dem Kaiserreich. Aber sie fragen nach, wie der Alte die Weltreisen finanziert habe, von denen er berichtet (von Island bis Japan, und in Westdeutschland sei er auch schon gewesen). Er bezeichnet sich als "ehemaligen Eisenwarenhändler"; aber Tarzan würde ihm auch den pensionierten Partei-Funktionär zutrauen. Was soll's, vielleicht ist er nur einer von vielen, die mit 65 die Ostzone verlassen haben und nun der BRD mit ihren Rentenansprüchen auf der Tasche liegen - von dem Geld kann man schon auf Weltreise gehen... Vom Bahnhof Karlstein sind es 1½ km Fußmarsch nebst Aufstieg zur Burg - und just heute knallt die Sonne unbarmherzig vom Himmel, Altweiber-Sommer nennt man das wohl. Den Hauptturm ziert ein Baugerüst - was sonst. "Zehn bis zwanzig Jahre wird die Renovierung dauern," sagt die potthäßliche Tschechin mit schwäbischem Akzent, die sie eine Stunde lang durch die Innenräume führt, auf Befragen. "Aber trösten Sie sich, nach der Renovierung werden wir da nämlich keine Touristen mehr rein lassen, nur noch Staatsoberhäupter." Das ganze ist dennoch recht sehenswert - wenn nur die Besuchermassen nicht wären!
Was soll Dikigoros groß über Karlstein schreiben, das nicht schon im Reiseführer steht und daher jeder zu wissen glaubt? Wie schön, wie alt, wie hoch und wie breit die Burganlage ist? Wo der Kaiser gepennt hat und wo die Kaiserin? Und was sonst alles großartiges passiert ist hieroselbst? Nein, lieber etwas von dem, was die Reiseführer verschweigen oder falsch darstellen. Zum Beispiel das Märchen, daß die Burg von einem Franzosen, einem Italiener und einem Tschechen erbaut worden sei. Richtig ist, daß Matthias von Arras, der die riesige Anlage in Rekordzeit von nur sieben Jahren hoch zog (im wahrsten Sinne des Wortes: Stein für Stein mußten den Felsen hoch geschleppt werden) ein Deutscher war, ebenso der Südtiroler Ulrich ("Udalrico") vom Aostatal, der sie zweieinhalb Jahrhunderte später hauptsächlich verschlimmbesserte, und der Sudetendeutsche Josef Mocker, der ihr ursprüngliches Aussehen wieder herstellte (bis auf die Türme, die er erstmals drauf setzte) - übrigens erst Ende des 19. Jahrhunderts. Die Burg - ursprünglich als das Fort Knox Böhmens geplant und genutzt - wurde nie erobert (selbst die Hussiten bissen sich die Zähne daran aus; sie kamen mit ihren berühmt-berüchtigen Panzerwagen, mit denen sie eine Zeit lang jede Feldschlacht gewannen, nicht den Berg hinauf). Dennoch hat sie ihrem Zweck nicht lange gedient; was man den Touristen heutzutage als "Kronschatz" vorsetzt, sind Replikate oder unbedeutende Reste; der echte Kronschatz wurde schon im 15. Jahrhundert verkleckert, nach Wien, nach Preßburg und auf den Prager Hradschin. Die Reiseführer verlieren auch kein Wort darüber, wie das alles finanziert wurde, nämlich aus den reichen Silberfunden im nahe gelegenen Príbram, wo der gleichnamige Gulden geprägt wurde, das böhmische Gegenstück zum Joachimsthaler Gulden der Grafen von Schlick - der bald nur noch "Thaler" heißen sollte, und zum Mansfelder Thaler der Preußen. Nein, dort kann man nichts mehr besichtigen, denn es werden nur noch hochgiftige Materialien abgebaut wie Blei-, Zink- und Uranerze; Príbram ist das Gegenstück zum Wismut-Abbau im ostzonalen Aue.
Unterhalb der Burg, "Pod Hradem", liegt ein Restaurant, wo Fidi und Tarzan zu Gulyás[suppe], Szegediner Gulasch (wieder mit wenig Kraut und viel Kümmel) und Pivo einkehren. "Vergessen wir doch einfach Konopite," meint Fidi und bestellt die zweite Portion, um eine Grundlage zu haben für die vielen Halben, die er kippt, "noch so eine blöde Burg belatschen ist doch viel zu anstrengend; hier sitzen wir gut, und Speis' und Trank sind auch passabel." Neidisch blicken die beiden DDR-Bürgerinnen am Nebentisch zu ihnen herüber - sie waren schon da, als die beiden Wessis ankamen und werden noch immer nicht bedient. Fidi lädt sie großzügig ein, an ihren Tisch zu kommen, aber sie wollen nicht - vielleicht sind sie standhafte Sozialistinnen und wollen sich nicht von besoffenen Kapitalisten anmachen lassen. "Darf ich Ihnen noch eine Flasche unseres guten Weines empfehlen?" schleimt der Ober. Fidi wirft einen Blick in sein Portemonnaie: Die Kronen reichen nicht mehr. Kein Problem; ein paar Minuten später erscheint ein anderer Kellner und bietet diskret welche zum Schwarztauschen an, zu einem sehr günstigen Kurs, und Fidi schlägt zu. Der muß wohl einen in der Krone haben, denkt Tarzan, wo will er denn bloß hin mit all dem tschechischen Geld? Zurück tauschen kann man es nicht, jedenfalls nicht legal, und in Deutschland ist es praktisch nichts wert, und obwohl Fidi noch ein zweite Flasche Wein spendiert - soviel könnte selbst er nicht versaufen. Im Hinauswanken bemerken sie, daß sich der Kellner nun endlich auch bequemt, die Bestellungen der beiden DDR-Bürgerinnen am Nebentisch aufzunehmen - die immer noch nicht gegangen sind; offenbar sind sie eine solche Behandlung (die sich im Westen sicher niemand gefallen lassen würde) von zuhause gewohnt und in Geduld geübt.
Fidi und Tarzan nehmen den Bummelzug zurück nach Prag und bummeln ihrerseits noch etwas durch die Altstadt, deren Kern der "Altstädter Ring" ist, der Tarzan viel besser gefällt als der "Wenzelsplatz", der ja eigentlich gar kein Platz ist, sondern - ja, wie soll man das beschreiben? Die Friedensmarschierer, die nach Bonn gekommen sind, um gegen die Nachrüstung zu demonstrieren, kennen ja die Poppelsdorfer Allee - der Wenzelsplatz in Prag sieht ganz ähnlich aus: An einem Ende das Schloß (heute das National-Museum), am anderen Ende das Denkmal auf König Wenzel. (In Bonn wurde das Denkmal auf Kaiser Wilhelm I., das sein Enkel Wilhelm II anno 1906 am Kaiserplatz hatte errichten lassen, nach dem Krieg abgerissen und durch einen namenlosen Brunnen ersetzt, weil Denkmäler auf Herrscher in Deutschland - und nur in Deutschland - als faschistoïd gelten; aber das Schloß steht noch, als Naturkunde-Museum). Den "Altstädter" Ring darf man sich dagegen nicht wie einen "Ring" im Westen vorstellen, womöglich als Autobahnzubringer, sondern als echten alten Marktplatz einer deutschen Stadt - sogar ein paar der schönen alten Patrizier-Häuser stehen noch: "Zum Storchen", "Zum goldenen Einhorn", "Zum blauen Stern", "Zur steinernen Glocke", "Zum weißen Einhorn"... Dazu auf der einen Seite die Teyn- und auf der anderen die zweite St.-Niklas-Kirche dieses Namens. Mitten drin liegt die häßliche, klotzige Denkmalanlage auf Jan Hus, die aber wenigstens den Vorteil hat, daß man auf den breiten Stufen bequem sitzen kann und dabei den Kerl im Rücken hat, ihn also nicht zu sehen braucht, wenn man nicht will. Es ist übrigens jüngeren Datums, als man meinen sollte: Die blöden Habsburger hatten mitten im Ersten Weltkrieg, als bereits überall Materialknappheit spürbar wurde, nichts besseres zu tun, als ausgerechnet den bereits in Massen desertierenden Tschechen noch einen monumentalen Kristallisationspunkt ihres Hasses auf die Deuschen und Deutsch-Österreicher zu errichten. Am alten Rathaus hängt die berühmte astronomische Uhr, die kein Tourist, der auf sich hält, zu knipsen versäumt - Fidi auch nicht. Sie ist ebenfalls ein Werk deutscher Handwerkerkunst (Nikolaus von Kaaden baute sie), weshalb die Tschechen (nein, nicht "die tschechischen Vandalen" wie Dikigoros irgendwo gelesen hat; das ist eine Beleidigung und Verleumdung jenes germanischen Stammes, der so etwas nie getan hat - aber das ist eine andere Geschichte) es gleich 1945 zerstörten. Erst später besannen sie sich, daß sie Nikolaus ja nachträglich zum Tschechen befördern (oder vielmehr degradieren) und umbenennen (in "Mikulá z Kadané") und die Uhr wieder aufbauen konnten. Alle Stunde kommen Figürchen heraus und machen Bimbam - "Puppenspiel" nennen sie das. Steht alles im Reiseführer, kann Dikigoros also hier weglassen, zumal es ihn schon als Tarzan nicht sonderlich fasziniert hat; die Prager sollten lieber mal sehen, wie sie ein paar öffentliche Uhren zum Laufen bringen - und wenn möglich pünktlich.
Abends im Hotel taucht der Reiseleiter wieder auf: Er habe noch Karten für die "Laterna Magika" (das Nationaltheater), für den vorgezogenen Abschiedsabend; die meisten anderen hätten abgesagt, weil sie lieber in die Disco gingen; ob sie nicht vielleicht mit kommen wollten, zum Freundschaftspreis... Damit meint er 1:1, denn auf den Billets steht "10.-", womit sicher Kronen gemeint sind; aber M. will dafür 10.- DM sehen. Kommt eh nicht mehr in die Tüte, denn Fidi schläft schon seinen Rausch aus, und alleine hat Tarzan auch keine Lust - er würde ja ohnehin nur die Hälfte verstehen, nicht die vielen Wortspiele und Witze, für die der Laden berühmt ist. Statt dessen nimmt er sich einen Stapel Postkarten vor und pinselt jedem Verwandten und Bekannten eine, von dem er annehmen darf, daß er sie ihm hinterher zurück gibt für sein Reisealbum - daran, daß er sie irgendwann mal einscannen und ins Internet stellen wird, denkt er noch nicht einmal im Traume. (Die ersten "persönlichen" Computer, d.h. solche, die keinen ganzen Hörsaal mehr beanspruchen, sondern auch auf einem privaten Schreibtisch Platz hätten, sind zwar gerade auf den Markt gekommen, aber Tarzan weiß nicht einmal genau, was das ist: vielleicht so eine Art großer Taschenrechner mit Bildschirm? Egal, für ihn wäre so etwas eh unerschwinglich.)
Die Sonne scheint; der Tag ist also ideal für eine Fototour, meint Fidi; und Tarzan muß wohl oder übel mit latschen. Warum schreibt Dikigoros das so unlustig, ja widerwillig? Nein, er hat nichts dagegen, Sehenswürdigkeiten anzuschauen - wenn es denn welche sind; allerdings findet er viele Dinge sehens- und erwähnenswert, die nicht unbedingt fotogen, ja nicht einmal vorzeigbar sind - aber nur solche Bilder kann Fidi für seine Dia-Vorträge an der Volkshochschule brauchen. Und Tarzan findet es ungeheuer nervend, Besichtigungen nach dem Sonnenstand auszurichten: Vormittags nur Nordostfassaden, nachmittags nur Südwest-Fassaden - sonst hätte man ja Gegenlicht, und die automatischen Belichtungsmesser sind damals noch nicht so weit, daß sie das selbsttätig ausglichen. Überhaupt belichtet Fidi lieber von Hand, wie er auch von Hand die Objektive wechselt. Nein, bewahre, er benutzt doch keinen Zoom, mit dem er etwa von 28 bis 135 mm alles in einem hätte (die Dinger sind damals noch sehr teuer und optisch nicht gerade perfekt), sondern Wechselobjektive - die er freilich schneller wechselt als Tarzan einen Zoom genau einstellen könnte. (Wenn Fidi nicht gerade zu einem Schachturnier fährt, sondern auf eine richtige Fototour, nimmt er sogar mehrere Kameras mit, wegen der unterschiedlichen Filmkörnigkeit.) Aber da die nicht stufenlos sind, muß der Fotograf halt fleißig den Standort wechseln. "Warum müssen wir denn nun schon wieder ans andere Ende des Platzes zurück?" fragt Tarzan, "ich kann die Häuser ja gar nicht mehr richtig erkennen. Warum gehst du nicht näher ran?" - "Mein Weitwinkel-Objektiv hat keinen Parallax-Ausgleich," doziert Fidi (was immer das sein mag - Tarzan fragt besser nicht nach), "wenn ich zu nahe ran gehe, kippen die Hauswände in die Schräge. Also muß ich weiter weg gehen und mir das mit dem Tele ran holen." Und dann diese lästige, zeitraubende Buchführung. Nein, Fidi gehört nicht zu den Touristen, die auf Reisen jeden Mist fotografieren und schon bei der Rückkehr nicht mehr wissen, was es ist (damals gab es noch nicht die Möglichkeit, Fotos gleich bei der Aufnahme elektronisch zu beschriften); er schreibt immer alles genau auf...
So weit, so gut - aber Tarzan will noch etwas mehr sehen als bloß schöne Fassaden. Zum Beispiel die Neruda-Gasse, von der er immer geglaubt hatte, daß sie nach Pablo Neruda, dem chilenischen Modeschreiber und Lieblings-Schriftsteller aller Kommunisten, benannt sei. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Straße ist nach einem Tschechen des 19. Jahrhunderts namens Jan Neruda benannt, und nach dem legte sich auch besagter Chilene - der richtig Neftalí Ricardo Reyes Basualto hieß - sein Pseudonym zu. Jan Neruda schilderte in seinen Erzählungen das Leben auf der Kleinseite, wo unsere Reisenden übrigens schon einmal waren, als sie den Hradschin besichtigt hatten - aber da war Fidi gerade der Film ausgegangen. Auch hier gibt es wunderschöne Häuser, deren tschechische Namen sich Tarzan gar nicht erst notiert, schließlich sind das bloß Übersetzungen der deutschen Originale: Zum goldenen Pokal, Zum goldenen Schlüssel, Zum goldenen Hufeisen... Nein, das kann doch nichts mit "goldig" zu tun haben, aber auch nichts mit dem Metall - wer hat schon mal ein goldenes Hufeisen gesehen? Nun, die Lösung liegt in den anderen Häusernamen: es handelt sich um Farben, die zwar nicht immer Sinn machen (wie "Zum grünen Krebs", "Zum roten Adler" oder "Zum roten Löwen"), aber manchmal halt doch (wie "Zum weißen Schwan").
Noch einmal zurück über die Karlsbrücke - aber die kann man ja gar nicht oft genug sehen - zur Altstadt, wo ihnen auch noch ein paar schöne Häuser mit literarischem Hintergrund fehlen, wie das "Zu den zwei goldenen Bären". Dort ist Egon "Erwin" Kisch geboren, der "rasende Reporter", der so viel über Prag geschrieben hat, in das er dennoch erst kurz vor seinem Tode zurück gekehrt ist, als ihn partout kein anderer Staat mehr haben wollte. Und gleich um die Ecke, im "goldenen Krug", pflegte er sich zu besaufen. A propos: Natürlich statten Fidi und Tarzan auch dem "U Kálicha [Zum Kelch]" einen Besuch ab, der Stammkneipe des "braven" Soldaten vejk (den Ihr, liebe deutsche Leser, wahrscheinlich besser in der Schreibweise "Schwejk" kennt) aus Haeks Roman, der den Ruf des tschechischen Humors im Ausland maßgeblich beeinflußt hat und auch in Deutschland verfilmt wurde. [Vielleicht wäre Heinz Rühmann als "Schwejk" in die Kino-Geschichte eingegangen, wenn er nicht auch den "Hauptmann von Köpenick" gespielt hätte - solche Rollen lagen ihm.] Man fragt sich freilich, warum er solchen Erfolg hatte. Dikigoros weiß darauf keine Antwort; er findet diesen tschechischen lendrian, pardon Schlendrian und die tschechische usseligkeit, pardon Schusseligkeit - die nicht mal echt ist, wie die russische, sondern bloß vorgetäuscht, um sich vor jeder Art ernsthafter Arbeit zu drücken, nicht witzig, sondern nur albern und abstoßend. Daß die Tschechen keine friedlichen Schwejks sind, die den Krieg verabscheuen, haben sie seit den Hussiten-Kriegen oft genug unter Beweis gestellt; daß sie für die Habsburger nie brauchbare Soldaten abgegeben haben, beruhte weniger auf Unfähigkeit als auf Unwilligkeit. Als die aus Deserteuren gebildete "Tschechische Legion" nach dem Ersten Weltkrieg, begünstigt durch das Machtvakuum, das der russische Bürgerkrieg schuf, vorübergehend die Macht in Sibirien an sich riß, zeigten sie sich von ihrer militärischten und bestialischten Seite: Kein deutscher oder österreichisch-ungarischer Kriegsgefangener, der ihnen in die Hände fiel und nicht zu Tode gefoltert worden wäre; und gegenüber der russischen Zivil-Bevölkerung benahmen sie sich kaum besser - lest einmal "Die deutsche Passion", die Erinnerungen des deutsch-russischen Fähnrichs Edwin Erich Dwinger an jene traurigen Jahre. Und auch die Zeit nach 1945 war für Deutsche und Ungarn bekanntlich wenig spaßig; Dikigoros versteht nicht, was ausgerechnet die an diesem Schmu finden und das ganze auch noch als "Schlitzohrigkeit" schön reden. Schlitzohren hießen ursprünglich so, weil man ihnen die Ohren aufschlitzte, damit jeder gleich von weitem sah, daß sie krumme Hunde waren; und das dürfte noch immer auf die meisten Tschechen zutreffen - zumindest auf die im Gaststätten-Gewerbe. Das Essen im "U Kálicha" ist nicht besser und nicht reichlicher als anderswo - nur teurer. "Der Kümmel kommt mir langsam zu den Ohren raus," schimpft Tarzan, "und das Bier auch. Könnten wir jetzt nicht mal auf den Vyehrad?" - "Nein, das hätten wir heute morgen machen müssen; wenn wir jetzt von da oben auf die Stadt runter sehen, blicken wir genau in die Sonne; und wenn die untergegangen ist, lohnt es sich eh nicht mehr." Na dann gute Nacht.
Am letzten Tag ist Einkaufen angesagt. Fidi hatte in der Nähe des Hauptbahnhofs einen Laden mit DDR-Kameras gesehen (das war wohl auch der Hauptgrund für sein Schwarztauschen), auf der "Wilsonova". Diese Straße ist nach dem U.S.-Präsidenten benannt, der sein Land in den Ersten Weltkrieg führte unter dem Vorwand, das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" verwirklichen zu wollen, und es dann den geschlagenen Feinden vorenthielt - aber das waren ja nur die bösen "Hunnen". Die Tschechen haben davon profitiert - sie durften die Deutsch-Österreicher in Böhmen und Mähren, die Slowaken und Ungarn in der Slowakei, die Polen in Teschen, die Ruthenen in der Karpatho-Ukraine, die Juden und Zigeuner wo auch immer einkassieren, sie unterdrücken, enteignen und schließlich ermorden oder vertreiben - sollen sie dem guten Mann, der ihnen das ermöglichte, dafür nicht dankbar sein? Und die DDR ist sich offenbar auch nicht zu schade, ihre Kameras auf einer Straße, die nach dem Staatsoberhaupt des größten Klassenfeindes benannt ist, feil zu bieten. "Die Apparate sind erstklassig; nicht das Zeug, das Porst bei uns im Westen verramscht" meint Fidi. Während Tarzan froh ist, wenn er ab und zu eine halbwegs gelungene Aufnahme mit der Kleinbild-Kamera hin bekommt, denkt er in größeren Kategorien: Eine Pentacon six [6x6] TL vom VEB Carl Zeiss Jena soll es sein, mit Tele-Objektiv und anderem Zubehör...
Am Ende gibt Fidi sage und schreibe 13.000 ČKr aus - "bei uns würde so eine Ausrüstung rund 4.000.- DM kosten," meint er nur, als Tarzan ihn ganz entsetzt anstarrt. Für Fidi hat sich die Reise nach Prag also doch noch gelohnt; seine ELO-Punkte kann er auch woanders holen... "Eigentlich ist der Sozialismus doch eine prima Sache," resümiert er, während sie im "U stare poty [zur alten Post]" noch ein paar Runden Pivo kippen, "niemand überarbeitet sich, niemand hungert oder durstet - Herr Ober, noch zwei Bier! -, das kulturelle Angebot ist z.T. besser als im Westen, und erstklassige Waren gibt es auch, sogar zu Spottpreisen." - "Ja," denkt Tarzan laut, "wenn man genügend Westmark in der Tasche hat, um schwarz zu tauschen. Aber für die Einheimischen?" - "Das kann uns doch egal sein," meint Fidi, "ich war jedenfalls bestimmt nicht zum letzten Mal hier." Um die verspätete Ankunft auszugleichen, setzt Intercontact die Rückfahrt 3 Stunden früher an als geplant, so daß sie auch der letzten Nachmittag verlieren. Tarzan ist erbost, verklagt, wieder zuhause, den Veranstalter auf Minderung des Reisepreises um 10% und gewinnt den Prozeß (wofür ist er Jurastudent :-). Fidi schreibt statt dessen nur einen bösen Brief, daß er Dozent an der örtlichen Volkshochschule sei und keinem seiner Hörer mehr empfehlen würde, mit so einem Unternehmen zu reisen, und bekommt - neben einem höflichen Entschuldigungs-Schreiben - einen Gutschein für die nächste Reise nach Prag (den er aber verfallen läßt, weil zur selben Zeit irgendein Schachturnier in Holland statt findet - das er übrigens gewinnt).
Nachtrag für alle, die wissen wollen, wie es weiter gegangen ist mit Fidi und Tarzan, Prag und der ČSSR. Fidi hat sein Jura-Studium abgebrochen und begonnen, statt dessen Slawistik mit den Hauptsprachen Russisch und Tschechisch zu studieren. Alle drei Monate fährt er nach Plzen und holt sich dort seinen Vierteljahresvorrat Pivo. Als Berufsschachspieler reüssiert er nicht ganz; aber er wird immerhin FIDE-Meister, als dieser Titel 3. Klasse neu eingeführt wird. (Jeder, der nach mindestens 24 Wertungspartien einmal 2.300 ELO-Punkte erreicht hat, darf ihn führen.) Als die Mauer geöffnet wird, siedelt er in die ehemalige DDR über; heute ist er hauptamtlicher Mitarbeiter der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands. (Das sind die, denen die PDS nicht links genug ist :-) Er spielt noch immer recht gut Schach (über 2.200 ELO) und wäre vor Jahr und Tag beim großen Turnier in Dresden beinahe unter die ersten 20 gekommen. Tarzan - aus dem inzwischen Dikigoros geworden ist - hat nie wieder an einem internationalen Schachturnier teilgenommen, Prag und die ČSSR nie wieder gesehen. [Auch die DDR ist unter- bzw. in der "DDR light" (als die böse Zungen die BRD inzwischen bezeichnen) aufgegangen, und die Pentacon six TL kann man heute als "Nostalgie-Sammler" für ein paar Teuro auf Internet-Auktionen kaufen.] Aber er hat sich angewöhnt (und bis heute nicht wieder abgewöhnt), in seinen privaten Aufzeichnungen kein "sch" mehr zu schreiben, sondern statt dessen ein "", weil er das so praktisch findet. Und nachdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, pardon, sich gehoben hat, und jener Monsterstaat aufgelöst ist - per ultimo 1992 - bereist er die Rest-Tschechei, pardon den Rest der Tschechischen Republik und die Slowakei: Eger (eine typische Grenzstadt mit Schmuggel und Prostitution), Marienbad (tot und teuer), Pilsen (eine häßliche Industriestadt), Budweis (wo inzwischen VW sein schlechtestes Modell herstellen läßt, den "koda"), Brünn (na ja) und Preßburg (die tristeste Hauptstadt, die Dikigoros in Europa je gesehen hat - aber zugegeben, er war noch nicht in Tirana, dort soll es noch schlimmer sein). Dabei begreift er erst so richtig, in welchem Ausmaß die Tschechen das schöne alte Böhmen und Mähren ruiniert haben: vom Böhmerwald bis zu den einst deutschen Städten, von der Landwirtschaft bis zur Industrie. Wie ein Geschwür haben sich die Tschechen über das einstige Herz Mitteleuropas gelegt und es fast zum Stillstand gebracht. [Wer das Dikigoros nicht so ohne weiteres glauben will, der besorge sich den sehr sachlichen und äußerst fundierten, mit wirtschaftlichen und sozialen Daten gespickten Artikel ("Aus jedem Winkel starrt die Armut"), den Heinrich Rieker - der das Land ebenfalls direkt nach der Maueröffnung, im November 1989, bereist hat - am 1.12.1989 im Rheinischen Merkur veröffentlicht hat (leider nicht im Internet); er hat an Aktualität kaum verloren - eher im Gegenteil gewonnen.] Und zugleich begreift er, welch ein Verbrechen es wäre, diese völlig ruinierten Gebiete zurück holen zu wollen mitsamt all den Drecks-Tschechen, und sie den [ver]arm[t]en, da von der "Wieder"-Vereinigung mit der DDR schon furchtbar gebeutelten Deutschen auch noch ans Bein zu binden. (Wer hatte mal gesagt: "Wir wollen gar keine Tschechen!"? Recht hatte er - hätte er sich bloß dran gehalten!)
Warum schreibt Dikigoros das mit solcher Bitterkeit? Hat er Verwandte im Sudentenland gehabt, die ermordet oder vertrieben wurden, oder sonst irgendwelche personellen oder materiellen Bindungen dorthin? Nein, nicht die Bohne. Und eigentlich ist er ein Freund der Formel: "Nie vergessen, aber dennoch vergeben." (Das Kriegsbeil nicht gleich begraben - sonst rostet es ein, man macht sich verteidigungsunfähig und provoziert so den nächsten Angriff -, aber es irgendwann mal aus der Hand legen und mit dem alten Feind sprechen, statt weiter auf einander einzuschlagen.) Gewiß, die tschechischen Verbrecher-Staaten, die sich nach 1919 und wieder nach 1945 in Böhmen und Mähren bildeten, waren nationalistische Terror-Regime, verglichen mit denen man das "Dritte Reich" als geradezu vorbildlichen Rechtsstaat bezeichnen müßte (alles ist relativ); aber die Nachgeborenen können über den Gräbern ihrer verfeindeten Vorfahren Frieden schließen, auch wenn unter den letzteren Verbrecher gewesen sein mögen. Zur Versöhnung gehören indes immer zwei Seiten. An den Deutschen hat es nie gelegen; aber leider haben sie ihre Bereitschaft zur Versöhnung oft am falschen Objekt verschwendet: Noch immer schieben sie den Schmarotzern und Erpressern, die sich als Erben der KZ-Opfer ausgeben und die Märtyrerrolle für sich monopolisiert haben, Milliarden und Abermilliarden zur "Wiedergutmachung" in den Arsch - als ob die Verbrechen an den wirklichen Opfern dadurch "gut", geschweige denn "wieder" gut gemacht werden könnten! Und was ernten sie dafür? Anhaltenden Haß und dazu noch Verachtung ob so viel Dummheit. (Letzteres kann Dikigoros, der öfters von Juden aus aller Welt auf dieses Fänomen angesprochen wird, gut nachvollziehen, ersteres nicht.) Wer "Nicht nur die Steine sprechen deutsch" von Elisabeth und Peter Ruge gelesen hat, weiß daß es mit den Polen nicht viel anders steht. Wobei Dikigoros in beiden Fällen noch einräumen will, daß der Haß auf "die" Deutschen eine halbwegs nachvollziehbare Grundlage in der Vergangenheit hat, so daß er ihn versteht, obwohl er kein Verständnis dafür aufbringt. Aber bei den Tschechen? Die hätten nun wirklich allen Grund, ihren deutschen Wohltätern für den Schutz, den sie ihnen stets angedeihen ließen, dankbar zu sein. Aber sie sind noch immer das gleiche Verbrechervolk wie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg; sie weigern sich bis heute hartnäckig, die so genannten Bene-"Dekrete" [fürwahr ein goldiger Humor, Mordaufruf mit "Dekret" zu übersetzen!] endlich aufzuheben (geschweige denn sie rückwirkend für nichtig zu erklären, was ja schon gar niemand mehr im Ernst zu hoffen, geschweige denn zu fordern wagt), mit denen die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Freiwild erklärt wurden. Wenn aber die Nachkommen von Verbrechern nicht bereit sind, sich von den Verbrechen ihrer Vorfahren zu distanzieren (geschweige denn sie zu sühnen), sondern sie noch fortsetzen, dann kann mit ihnen kein Friede sein - ihnen darf man nicht mit Achtung begegnen, sondern nur mit Ächtung. Doch nun, nach etwas mehr als sechs Jahrzehnten, ist es wieder so weit: Die Slowaken haben, wie schon einmal 1939, das sinkende Schiff verlassen; und der krumme Hund von tschechischem Präsident, der in Berlin auf der Matte steht und um den Schutz des Reiches, pardon der Union bettelt, heißt zwar nicht mehr Emil, und der Kanzler, dem er gegenüber steht, nicht mehr Adolf, sondern Gerhard, und er trägt nicht mehr Uniform, sondern Kaschmir und ist kein Nichtraucher, sondern pafft teuerste kubanische Zigarren, während er "seinem" Volk empfiehlt, den Gürtel enger zu schnallen - aber er ist um keinen Deut klüger, sondern sogar um viele Teuro dümmer als sein damaliger Amtskollege (den Dikigoros mit diesem Vergleich nicht beleidigen wollte). Denn jeder, der nur für fünf Pfennig, pardon 2½ Teuro-Cent Verstand hat, würde die Tschechen in ihrem eigenen Saft schmoren lassen, damit es nicht eines Tages wieder heißt, die Deutschen seien gewaltsam in Prag eingedrungen, und alle, die so dumm waren, ihr Geld dort zu lassen, pardon zu investieren, müssen enteignet und tot geschlagen werden. (Was wie gesagt völlig legal wäre, denn die Bene-Dekrete sind ja noch immer geltendes "Recht"!) Die Forderung der Tschechen an die Deutschen lautet einmal mehr: "Wir haben abgewirtschaftet, nun finanziert Ihr uns gefälligst den Wiederaufbau." Wollte Gott, sie gingen endlich einmal in sich und täten es nicht.
Noch ein Nachtrag. Im Februar 2003 wählt das tschechische Parlament einen neuen Staatspräsidenten. Er trägt einen deutschen Namen - aber das täuscht: Václav Klaus ist einer der übelsten Deutschen-Hasser im Lande (und das will etwas heißen!), der beinhart die Linie vertritt, daß die Bene-Dekrete unverzichtbar seien, sozusagen das Grundgesetz der Tschechischen Republik (was sie ja in gewisser Weise tatsächlich sind). Bevor er die aufheben ließe, so läßt er erklären, wolle er lieber auf den Beitritt seines Landes zur EU verzichten. Leider braucht er sein Versprechen nicht einzulösen, denn die EU nimmt die Tschechei, pardon Tschechien, im Jahre 2004 auch mit fortgeltenden Bene-Dekreten auf, und als im selben Jahre ein neuer Bundespräsident gewählt wird, entblödet der sich nicht, prompt nach Prag zu reisen und dort lauthals zu verkünden, daß er jeglichen Forderungen der deutschen Vertriebenen nach einer Revision der Bene-Dekrete und ihrer Folgen eine klare Absage erteile.
Und noch ein Nachtrag. Im Januar 2008 stirbt in seinem isländischen Exil Bobby Fischer, vergessen, verfehmt, verbittert. Er hat den "Prager Frühling" um fast vier Jahrzehnte überlebt und die Überzeugung mit ins Grab genommen, daß alle Übel der Welt, insbesondere in der Schachwelt, von dem Volk herrühren, dem die Nazis in Prag jene beiden cineastischen Denkmäler errichtet haben, von denen Dikigoros oben berichtet hat. Er war Deutscher und Jude, also Angehöriger jener beiden Völker, die den Selbsthaß offenbar zu ihrer obersten Maxime erhoben haben. Die Tschechen werden es wohlgefällig zur Kenntnis nehmen.
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