Oktober 2008. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg findet wieder eine Schachweltmeisterschaft auf deutschem Boden statt - in Bonn am Rhein, der einstigen provisorischen Hauptstadt der BRD. Wen wundert es da, daß sich an deren Rande auch einige alte Schachfreunde wieder treffen, die sich längst aus den Augen verloren hatte? Niemanden, jedenfalls nicht Dikigoros und Fidi, als sie sich in der Cafeteria der Bundeskunsthalle über den Weg laufen. "Du unterstützt die Kapitalisten mit deinem sauer verdienten Geld, bei diesen Eintrittspreisen?" pflaumt Dikigoros seinen alten Reisebegleiter an. "Wofür soll ich sparen? Das Geld ist bald eh nichts mehr wert," gibt der zurück, "der Kapitalismus ist zusammen gebrochen, genau so, wie ich es immer vorher gesagt habe." - "Na na, so ganz ist er wohl noch nicht zusammen gebrochen..." - "Das ist die schlimmste Wirtschaftskrise seit Oktober 1929, und es wird noch schlimmer kommen. Die ersten westlichen Länder stehen doch schon vor dem Staatsbankrott." - "Wenn du Island, das etwa so viele Einwohner hat wie die Stadt Bonn, als 'westliches Land' bezeichnen willst... Aber wenn ich dich daran erinnern darf, daß die ruhmreiche Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten schon vor 20 Jahren pleite waren..." - "Das hatte andere Gründe. Aber du wirst wohl nicht bestreiten, daß die Ursachen für die derzeitige Weltfinanzkrise typisch kapitalistischer Natur sind." - "Kaum. Das Problem ist, daß die westlichen Staaten eben nicht mehr wirklich kapitalistisch sind. Diese Krise ist durch ein paar verantwortungslose Zocker verursacht worden, wie sie in jedem System hätten auftreten können. Rußland ist genauso betroffen wie die USA oder die BRDDR." - "Weil der Ölpreis fällt." - "Ja, und ohne Öl ist eben mit gewissen Völkern kein Staat zu machen." - "Na siehst du, dann lag es also doch nicht am Kommunismus?!" - "Mein lieber Fidi, zu der Erkenntnis bin ich inzwischen auch gekommen, lange schon; aber uns hätte man dieses System nicht aufzwingen müssen." - "Ach was, du hast dem Kommunismus Unrecht getan. Übrigens nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Erinnerst du dich noch, wie du immer die FIDE als kommunistische Verbrecherorganisation bezeichnet hast?" - "Das tue ich immer noch." - "Eben, obwohl sie nicht mehr kommunistisch ist," versetzt Fidi triumfierend, "es lag also nicht am Sytem. Und auch nicht daran, daß die Leute, die du als 'russische Mafia' beschimpft hast, nur Russen und/oder Juden auf dem Schachthron sehen wollten. Jetzt haben sie einen Inder, und dem verschaffen sie genauso Vorteile wie früher ihren Sowjetmenschen, obwohl sein Gegner Russe ist." - "Kramnik ist kein Russe, sondern Ukraïner, und er ist betonter Anti-Kommunist und Christ." - "Wieso verschafft die FIDE dem denn Vorteile?" fragt ein junger Kiebitz am Nebentisch, der die Unterhaltung verfolgt hat, "immerhin spielen jetzt unzweifelhaft die beiden stärksten Spieler der Welt um die Weltmeisterschaft - was ja in der Vergangenheit durchaus nicht immer der Fall war -, wer soll denn da einen Vorteil haben?"
[Zwischenbemerkung für Leser, die mit der Geschichte des Schachspiels und seiner Weltmeisterschaften nicht so vertraut sind: Es handelt sich um die Revanche des Vereinigungskampfes zwischen der FIDE und der von Gary Kasparow gegründeten PCA. Letzterer war anno 2000 Kramnik unterlegen (während er 1995 Ānand geschlagen hatte, der daraufhin reumütig zur FIDE zurück kehrte und 2000 erstmals deren Weltmeister wurde), der 2006 auch den Vereinigungskampf gegen den damaligen "FIDE-Weltmeister", den Bulgaren Topalow, gewann und seitdem als alleiniger Weltmeister anerkannt wurde. Allerdings hatte er sich vor dem Vereinigungskampf darauf eingelassen, seinen Titel 2007 in einem 8-Personen-Turnier der FIDE zu verteidigen. (Das hatte es zuletzt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, als der Titel vakant war, da Aljechin gestorben war, ohne ihn verteidigt zu haben.) Dieses Turnier artete zu einer Remis-Orgie aus, und schließlich siegte Ānand, der zehnmal Remis geschoben hatte, u.a. beide Partien gegen Kramnik, der versucht hatte, gegen den sonst schwächsten Spieler des Turniers, Morosewitsch, mit Schwarz auf Gewinn zu spielen, und dabei verloren hatte, so daß er am Ende nur zweiter wurde. Offiziell stehensitzen sich also in Bonn Weltmeister und Vizeweltmeister der FIDE gegenüber; aber insgeheim kämpft hier immer noch der Weltmeister der FIDE gegen den der PCA - obwohl sich die letztere längst aufgelöst hat, und obwohl die beiden pro forma nur Nr. 5 und 6 der FIDE-"Weltrangliste" sind.]
Fidi lächelt. "Mein lieber junger Freund, du warst noch nie alt." - "Verstehe ich nicht; einer muß ja nun mal der ältere sein, das war schon immer so." - "Sicher," sagt Dikigoros, "was glaubst du denn, warum Lasker seinerzeit gegen Capablanca verloren hat?" - "Doch nicht weil er älter war, sondern weil es auf Kuba so heiß war und er im Gegensatz zu Capablanca das Klima nicht gewohnt war. Er hat doch später noch viele Jahre auf Weltklasseniveau gespielt. Und Keres und Tal und Kortschnoj..." - "Ja, aber das waren andere Zeiten. Karpow z.B. hat seinen Titel immer nur gegen deutlich ältere Leute verteidigt; als es gegen den jungen Kasparow ging, hat er verloren, und zwar nicht, weil er der schlechtere Schachspieler war, sondern weil er ihm fysisch unterlegen war. Die Marathon-Weltmeisterschaften haben ihn zermürbt. Und wenn es jetzt zu einem längeren Match käme, würden sich die sechs Jahre Altersunterschied schon bemerkbar machen, gerade weil die beiden ungefähr gleich stark sind. Überleg doch mal: Unter regulären Bedingungen gewinnt, wer zuerst 6 Partien gewonnen hat. Für gewöhnlich kommen auf eine Gewinnpartie 3-4 Remis, die nicht mitgezählt werden. Bei zwei Spielern, die sich so gut kennen wie Ānand und Kramnik wären es wahrscheinlich 5-6 Remise, d.h. insgesamt kämen sie auf über 50 Partien, und der Wettkampf könnte sich mehrere Monate hinziehen. Da hätte Ānand keine Chance. Deshalb hat die FIDE einen Modus festgesetzt, der so idiotisch ist wie zuletzt der beim Wettkampf zwischen Lasker und Schlechter vor fast 100 Jahren, wie man ihn seitdem aus gutem Grund immer vermieden hat. Diesmal ist es sogar noch schlimmer: Statt auf Gewinnpartien wird auf Punkte gespielt, d.h. man kann erstmals Schachweltmeister werden, ohne eine einzige Partie zu gewinnen." - "Wieso? Um auf 6,5:5,5 Punkte zu kommen, muß man doch mindestens einmal gewinnen." - "Und wenn alle 12 Partien unentschieden ausgehen?" - "Dann gibt es doch Tiebreak." - "Ja, Pustekuchen. Was verstehst du denn unter 'Tiebreak'? Beim Tennis heißt das doch, daß regulär weiter gespielt wird, halt nur mit unterschiedlicher Zählweise." - "Ja, und hier?" - "Sag bloß, darüber hast du dir noch gar keine Gedanken gemacht." - "Nein, wieso, ich gehe ja davon aus, daß einer von den beiden in den angesetzten 12 Spielen auf 6,5 Punkte kommt." - "Wer denn?" mischt sich Fidi ein, "so auf Sicherheit, wie die bisher spielen, hätte selbst ich beide Partien Remis gehalten, auch mit Schwarz." Der Kiebitz schenkt ihm ein müdes Lächeln. "Er sagt die Wahrheit," versetzt Dikigoros, "er ist FIDE-Meister und spielt seit 45 Jahren mit Schwarz nichts anderes als Slawische Verteidigung und Caro-Kann." - "Und Sie?" - "Erstens brauchst du uns nicht zu siezen, und zweitens bin ich nur noch ein ganz kleines Licht am Schachbrett; gegen mich würden sowohl Kramnik als auch Ānand ein paar Nummern schärfer spielen." - "Aber wo soll denn nun die Benachteiligung von Kramnik liegen?" - "Ganz einfach: Dieser so genannte 'Tiebreak' wird als halbes Blitzturnier durchgeführt, mit nur 30 Minuten Bedenkzeit," erklärt Fidi, "und in der Disziplin ist Anand unschlagbar; da bekäme selbst ich keinen einzigen Stich, und ich war mal deutscher Blitzmeister. Wenn dieser Wettkampf nach 12 Partien 6:6 steht, dann hat Kramnik keine Chance mehr. Anand braucht also nur, ohne irgendein Risiko einzugehen, 12x Remis zu schieben - und das dürfte bei etwa gleichstarken Gegnern wie hier kein Problem sein. Weil Kramnik das aber auch weiß, wird er spätestens in der letzten Partie gezwungen sein, hohe Risiken einzugehen, und das wird ihm in letzter Minute das Genick brechen, wie damals Schlechter. Jeder weiß das, und die FIDE weiß es natürlich auch." - "Aber wenn die beiden am Brett gleich stark sind, ist es dann nicht nur gerecht, wenn der bessere Blitzspieler Weltmeister wird?" fragt der Kiebitz." - "Na klar," sagt Dikigoros, "so wie es in der Leichtathletik gerecht ist, den 100-m-Weltmeister als schnellsten Läufer der Welt zu bezeichnen, und nicht den 10.000-m-Weltmeister. Trotzdem ist der letztere der bessere Läufer - oder? Und für mich ist derjenige der beste Schachspieler, der ein Match am längsten durchhält, nicht derjenige, der mal eben eine Kurzpartie runter holzt." - "Mein Freund hat Vorurteile gegenüber Farbigen und Angehörigen anderer Religionen; er gönnt Kramnik den Sieg, weil der ein Weißer ist und ein Christ," sagt Fidi. Dikigoros lächelt. "Du kennst mich schon lange nicht mehr. Nur wer sich wandelt bleibt mit mir verwandt."
[Fidi weiß nicht, daß Dikigoros vor ein paar Jahren den Bericht über ihre gemeinsame Reise nach Prag ins Internet gestellt hat - dabei hat der durchaus Furore gemacht, um nicht zu sagen Geschichte geschrieben: Bevor "Es ist nicht alles Gold was glänzt" online ging, gab es niemanden sonst, der diesen Satz mit der Hauptstadt des alten Böhmen in Verbindung gebracht hätte - Prag war "die goldene Stadt", daran hätte kein Reiseführer zu rütteln gewagt. Wenn Ihr dagegen heute googelt, findet Ihr diese Kombination auf Schritt und Tritt; offenbar waren inzwischen noch viele Leute in Prag, und zumindest diejenigen, die darüber auch im Netz geschrieben haben, scheinen sich überwiegend Dikigoros' Meinung und Diktion angeschlossen zu haben - daran hat auch das Ende des Kommunismus nichts geändert, wie Fidi boshaft feststellen würde. Und weil er das nicht weiß, kann er auch Dikigoros' Berichte über seine Reisen nach Indien nicht kennen.]
"Nietzsche," gibt Fidi trocken zurück, "na und? Wo wirst du dich schon groß gewandelt haben?" - "Also, erstmal habe ich keine Vorurteile gegenüber Indern; ich kenne sie so gut, daß ich da schon von Urteilen sprechen darf. Und sie schneiden bei mir wesentlich besser ab als die Ukraïner, die ich inzwischen ebenfalls kennen gelernt habe." - "So? Dann wirf doch mal einen Blick in die Zeitungen, was zur Zeit in Indien los ist. [Es finden gerade Christenverfolgungen durch einige radikale Hindus statt; anders als in muslimischen Staaten wie z.B. Irak oder Indonesien greift die Regierung jedoch hart gegen die Täter durch, Anm. Dikigoros.] Da hättest du als Christ auch nichts zu lachen." - "Wieso auch? Du bist doch längst aus der Kirche ausgetreten, also gar kein Christ mehr. Und ich bin Hindu geworden." Fidi verschluckt sich und schüttet den restlichen Kaffee über seinen Anzug." - "Sag das nochmal!" - "Na na, wer wird denn gleich Vorurteile gegenüber einer Religion haben, von der er gar nichts weiß? Es ist bestimmt nicht schlimmer, sich zum Sanātan Dharm zu bekehren als zum Kommunismus." - "Zum was?" - "Vergiß es. Wir sind keine Missionare und wollen niemanden bekehren. Jeder folgt seinem eigenen Weg, ob er es erkennt oder nicht." - "Aber ihr bringt Andersgläubige um." - "Nein, nicht aus Glaubensgründen; wir sind ja keine Muslime oder Kommunisten. Diese Morde haben ganz andere Ursachen; aber es würde zu weit gehen, dir das zu erklären. Um aufs Thema zurück zu kommen: Ich habe nichts für oder gegen Ānand oder Kramnik; ich kenne keinen von beiden persönlich; der Bessere soll gewinnen, aber ich fürchte, daß das nicht der Fall sein wird; und das verdanken wir dann der FIDE." - "Und wenn Kramnik trotzdem gewinnt?" fragt der Kiebitz. "Warts ab; wir werden uns ja am letzten Spieltag sicher hier nochmal wieder treffen."
Aber sie treffen sich schon ein paar Tage später wieder. Bereits in der dritten Partie hat Kramnik überraschend versucht, mit Gewalt auf Sieg zu spielen; weil es sich um eine neue Variante handelte, die niemand am Computer vorbereitet hatte, sind beide in Zeitnot gekommen, und dabei hat sich bestätigt, daß Ānand der bessere Schnellspieler ist - er machte am Ende einen Fehler weniger und gewann. "Da haben Sie sich wohl schwer geirrt," meint der Kiebitz, "von wegen auf Sicherheit spielen und 12x Remis. Nun braucht Anand nur noch die restlichen 9 Partien nach Hause zu schieben, dann bleibt er Weltmeister, auch ohne Tiebreak." - "Warten wir mal ab," meint Fidi, "Anand hat auch 1995 gegen Kasparow nach acht Remis die 9. Partie gewonnen, aber dann keine einzige mehr, sondern viermal verloren. Nichts ist unmöglich, Koyota." - "Und es bleibt ja immer noch die Möglichkeit, daß Kramnik ausgleicht und nach 12 Partien 6:6 Punkte zu Buche stehen," ergänzt Dikigoros, "dann sind wir doch wieder beim Blitz." - "Was macht Sie..." - "dich" - "dich eigentlich so sicher, daß Anand dann gewinnt?" - "Immerhin hat er seit 1997 noch jedes Jahr die Schnellschach-Weltmeisterschaft gewonnen - wer sollte ihn da schlagen? Kramnik bestimmt nicht." - "Diese Schnellschach-Weltmeisterschaften finden unter ganz anderen Bedingungen statt," widerspricht der Kiebitz, "Sie... du hast selber gesagt, daß Anand nach einem langen Match müde wird; 1994 hat er das Blitzstechen im Halbfinale gegen Kamsky verloren, und 1998 gegen Karpow, obwohl der 18 Jahre älter ist, und obwohl Anand in dem Jahr schon Schnellschach-Weltmeister war." - "Aber von läppischen 12 Partien wird doch niemand müde, auch Ānand nicht." - "Und, was ist nun eure Prognose?" Fidi überlegt kurz: "Kramnik bleibt ja gar nichts anderes übrig, als jetzt in jeder Partie auf Sieg zu spielen, auch mit Schwarz. Er wird seine Eröffnung umstellen und sich dann jedesmal einen erbitterten Schlagabtausch liefern. Wenn er sich seine Bedenkzeit besser einteilt, hat er noch eine Chance; aber ich möchte jetzt nicht in seiner Haut stecken." - "Nach dieser verrückten Partie gebe ich überhaupt keine Prognose mehr ab," sagt Dikigoros, "aber ich teile Fidis Meinung, daß Kramnik seine Eröffnung umstellen wird." - "Auf was?" - "Auf e4 natürlich; und wenn Ānand dann mit e5 antwortet, irgend eine Verzweiflungstat, etwas, was er noch nie gespielt hat, und womit Ānand garantiert nicht rechnet, vielleicht Schottisches oder Nordisches oder Mittelgambit." - "Wieso Verzweiflungstat?" - "Weil eine Eröffnungs-Umstellung objektiv gar nicht notwendig wäre; Kramnik hätte die 3. Partie mit seinen Freibauern noch gewinnen können, wenn er 32. Td3 gezogen und die Qualität geopfert hätte. [Anm.: Dikigoros' Computerprogramm hat gerade mal 70 Sekunden gebraucht, um diesen Zug zu finden, was ihn in seiner Auffassung bestärkt, daß heutzutage der Mensch gegen die Maschine am Schachbrett keine Chance mehr hat; doch das ist eine andere Geschichte. Die elektronische Datenbank des Chess Base-Lexikons, das ganze 99 Euro kostet, enthält mittlerweile 3,8 Mio Partien - wie sollte ein menschliches Gehirn oder selbst eine papierene Bibliothek seligen Andenkens die jemals speichern, geschweige denn zu einem erschwinglichen Preis?] Aber nach 32. f3 war die Partie unrettbar verloren, wobei ich zugeben muß, daß auch ich das nicht gesehen hätte. Du, Fidi? Sei ehrlich!"
Schach-WM 2008 Kramnik vs. Anand
3. Partie, Stellung nach dem 31. Zug
"Hm... weiß nicht; aber Aljechin, Tal, Fischer und Kasparow hätten es sicher gesehen, und deren Nachfolger will Kramnik ja sein. Und selbst Lasker und Capablanca - wenn die denn zu Beginn des Mittelspiels so ein halbseidenes Opfer riskiert hätten, was ich bezweifle - hätten 32. Td3 gezogen, die hatten nämlich einen Blick für gewonnene Endspiel-Positionen, und den haben die jungen Leute heutzutage nicht mehr. Die können zwar immer längere Eröffnungen auswendig lernen und den Computer die kompliziertesten Mittelspiele berechnen lassen; aber am Ende hapert es dann ausgerechnet daran. Im übrigen bin ich nicht deiner Meinung; Kramnik hatte diese Rettungsmöglichkeit nur noch, weil Anand vorher geschlafen hat. Hätte der im 31. Zug Lf5+ statt Lg4 gespielt, wäre der Ofen für Kramnik unweigerlich aus gewesen. Na ja, hinterher bei der Analyse ist man halt immer schlauer." - "Ich fände es nur schade, wenn dieser eine Zug schon die ganze Weltmeisterschaft entschieden hätte." - "Du hoffst also immer noch auf Kramnik," stichelt Fidi, "und nicht auf deinen Mit-Hindu?!" - "Ich weiß nicht, welcher Religion Ānand angehört." - "Frag ihn doch, kannst du kein Hindi? Wie liest du dann eure heiligen Schriften?" - "Die sind in Sanskrit verfaßt; aber ich lese sie in Hindī-Übersetzung; ich bezweifle nur, daß Ānand das auch kann; er ist ja Tamile. Aber frag du ihn doch, wenn er dein Favorit ist; er soll fließend Englisch sprechen*, und mit dir als Champ a.D. redet er sicher eher als mit mir, einem armseligen Figurenschieber." - "Was hast du bloß gegen ihn?" - "Nichts, ich habe nur Vorbehalte bei dieser Sorte völlig verwestlicher 'Inder', die mehr Zeit im Ausland als zuhause verbringen." - "Er ist von Beruf Schachspieler; und die großen Turniere finden nun mal nicht in Indien statt." - "Na ja, aber wenn man die WM nach Bonn holen kann, dann hätte man sie z.B. auch nach Madrās, Bambai, Kalkattā oder Dillī holen können, oder nach Bangalur, da hätte sich bestimmt ein Sponsor gefunden, oder sogar mehrere, bei den vielen Hightec-Unternehmen. Der Sieger hätte sich nur für ein Werbe-Foto mit einem Schachcomputer Marke soundso hergeben müssen und für ein Fantasie-Interview, wonach er sich mit eben jenem Computer auf die WM vorbereitet und nur Dank seiner Hilfe gewonnen hat. Das haben Karpow und Kasparow damals auch getan, ohne daß ihnen ein Zacken aus der Krone gefallen wäre." - "Einem Match in Indien hätte dein Kramnik sicher widersprochen." - "Wieso? Das Essen in Madrās ist wesentlich besser als in Bonn, und die Getränke sind an jedem billigen Straßenstand besser als in der hiesigen Cafeteria." - "Aber Anand hätte einen Heimvorteil gehabt." - "Da sind wir wieder beim Thema. Jahrzehnte lang haben die Sowjets einen Heimvorteil gehabt, und alle großen Turniere haben in Osteuropa statt gefunden. Erinnerst du dich noch, wie wir damals nach Prag gefahren sind?" - "Und ob. Das Turnier hätte ich damals gewonnen, wenn nicht der verdammte Regen gewesen wäre..." - "Heißt das jetzt nicht Chennai?" fragt der Kiebitz, "du bist nicht mehr auf dem Laufenden." - "Ānand ist in Madrās geboren, nicht in Chennai," knurrt Dikigoros, "und ich war schon in Madrās, aber noch nie in Chennai. Dieses alberne Umbenennen altbewährter Namen durch irgendwelche Politbonzen, ohne oder sogar gegen den erklärten Willen der betroffenen Einwohner, halte ich für ein Unding. Vielleicht gibt die FIDE demnächst auch dem Schach einen vermeintlich richtigeren Namen, dann kannste ja umlernen; ich sage weiter 'Schach'."
Wieder ein paar Tage später, nach der 5. Partie. "Ihr seid mir ja schöne Experten," feixt der Kiebitz, "alle eure Prognosen waren falsch: Kramnik hat nicht die Eröffnung gewechselt, und Anand hat nicht auf Remis gespielt, sondern wieder gewonnen." - "Ich hatte natürlich gedacht, daß Kramnik mal gewinnen wollte," entgegnet Fidi, "und das konnte er mit der Eröffnung nicht, war doch klar." - "Wieso kann man damit nicht gewinnen?" - "Grundsätzlich nicht. Schau mal, Weiß hat durch den Anzug ein Tempo Vorteil. Mit 6. Ld3 - und irgendwann muß er den Läufer ja irgendwohin entwickeln -, dem anschließenden Abtausch auf c4 und dem Rückzug wieder nach d3 verschenkt er 2 Tempi, und damit ist sein Eröffnungvorteil futsch." - "Ja, aber Schwarz verschenkt doch bei der Slawischen Verteidigung auch ein Tempo durch den Halbschritt auf c6, weil er früher oder später auf c5 nachrücken muß. Und wenn Weiß statt 6. Ld3 auf d5 abtauscht, hat Schwarz dieses verschenkte Tempo wieder gewonnen und ausgeglichen." - "Eben, deshalb habe ich ja immer gerne mit Schwarz Slawisch gespielt," sagt Fidi, "m.E. kann Weiß da keinen Eröffnungsvorteil heraus holen, wenn Schwarz nicht ausgesprochen patzt." - "Das sehe ich nach wie vor anders," meint Dikigoros, "Kramnik hätte die 3. Partie gewinnen können, und das scheint seine Analyse auch ergeben zu haben, sonst hätte er es ja nicht noch einmal mit der selben Eröffnung versucht; sicher hatte er eine ensprechende Neuerung vorbereitet." - "Ja, aber Anand ist ihm zuvorgekommen," sagt der Kiebitz. "Das zeigt nur, daß auch Ānand meiner Auffassung ist," sagt Dikigoros, "er ist nämlich von seinem alten Gewinnweg abgewichen und hat selber etwas Besseres gefunden." - "Wirklich etwas Besseres? Oder hat Kramnik bloß wieder gepatzt?" - "Kramnik hat nicht gepatzt," sagt Fidi, "Anand hat wirklich eine Verbesserung gefunden. Ich würde fast sagen, daß das die endgültige Widerlegung der weißen Eröffnung ist; wenn Kramnik sie jetzt nicht ändert, ist der Titelkampf verloren." - "Da ist schon was dran," ergänzt Dikigoros, "die 3. Partie hätte Kramnik noch gewinnen können, wenn er den richtigen Zug gefunden hätte; die 5. hätte er mit dem richtigen Zug (29. Sd2 statt Sd4:, Anm. Dikigoros) nur noch Remis halten können." [Kramniks Springeropfer war offenbar inkorrekt; Dikigoros' Computerprogramm hätte es zwar mit Weiß auch gespielt, es aber mit Schwarz binnen weniger Sekunden ebenso brillant widerlegt wie Ānand - wer weiß, ob das so viele andere menschliche Spieler auch geschafft hätten. Im übrigen zeigt dieses Kuriosum, woran es bei den Schachcomputern bisweilen noch hapert und wann sie zu schlagen sind: wenn ihre Tiefenanalyse mindestens einen Halbzug vor der entscheidenden Stellung abbricht.]
Schach-WM 2008 Kramnik vs. Anand
5. Partie, Stellung nach dem 28. Zug
"Was hättest du mit Weiß gespielt, Fidi?" - "Ich hätte mit 29. Df5 die Damen getauscht, und wenn Schwarz erst noch die Leichtfiguren auf f3 getauscht hätte, hätte ich den Bauern dort geopfert und versucht, meine Freibauern am Dameflügel durchzubringen." - "Wenn Anand aber nach dem Tausch nicht den Bauern auf f3 genommen, sondern Tb3 gespielt und dann den Bauern auf b4 abgeholt hätte?" - "Ich hab' ja nicht gesagt, daß es gereicht hätte; meine Meinung kennst du ja: Die Partie war für Weiß nicht mehr zu gewinnen, schon nach der Abtauscherei im 20. und 21. Zug hätte Kramnik Remis anbieten sollen, statt unmotiviert den Dameturm von der Grundlinie zu nehmen; vielleicht hätte sich Anand darauf eingelassen." - "Glaub' ich nicht," sagt der Kiebitz, "da stand Schwarz doch schon besser." - "Na, es gab aber noch genügend Fallstricke; dich hätte Kramnik da noch allemal geschlagen." - "So oder so wird es jetzt sehr schwierig für Kramnik, das Match noch zu gewinnen," unterbricht Dikigoros den Streit, "bei 2 Punkten Rückstand..." - "Auch Fischer hatte 1973 gegen Spasskij 2 Punkte Rückstand," sagt der Kiebitz." - "Ja, aber das waren die beiden ersten Partien, und damals wurde auf Gewinnpartien gespielt, nicht auf Punkte," sagt Fidi, "laß mich an Anands Stelle spielen, und ich würde das Polster gegen Kramnik bis zum Schluß halten, indem ich die restlichen Partien mit Weiß einfach auf Remis spiele und mit Schwarz slawische Verteidigung." - "Immer vorausgesetzt, er wechselt die Eröffnung nicht doch noch," meint Dikigoros, "und selbst wenn nicht: Darf ich daran erinnern, daß ich dich anno '73 auch mal in einer Slawischen..." - "Hör mir bloß damit auf," sagt Fidi ärgerlich, "da war ich völlig außer Form, und du hattest einfach einen guten Tag erwischt. Daß du das überhaupt noch weißt..." - "Na, du hast es doch offenbar auch nicht vergessen." - "Weil es meine letzte Niederlage gegen dich war." - "Weil wir danach nie mehr gegen einander gespielt haben." - "Das können wir gerne nachholen." - "Nein, das brauche ich nicht mehr; spiel lieber mal ein paar Blitzpartien mit unserem jungen Schachfreund hier, sonst fängst der noch an zu zweifeln, ob du wirklich was von Schach verstehst." - "Ihr habt 35 Jahre nicht mehr gegen einander gespielt?" fragt der Kiebitz verwundert. "Na ja, nicht turniermäßig, es hat sich halt nicht mehr ergeben." - "Was, wenn Weiß im 29. Zug zunächst auf d7 getauscht und dann erst Df5 gespielt hätte?" kommt Dikigoros auf die Partie zurück. Fidi schüttelt den Kopf: "Das bringt auch nichts. Schwarz muß ja nicht direkt auf d7 zurück nehmen, sondern kann erst auf f3 abtauschen." - "Na wenn schon, dann bekommt der weiße König endlich ein Luftloch; wenn man dann noch die Damen abtauscht, gibt es ein reines Turmendspiel, und man braucht keinen besonderen Blick für Endspielpositionen um zu sehen, daß Schwarz das nicht mehr gewinnen kann." - "Weiß aber auch nicht," sagt Fidi, "und es kann doch nicht Kramniks Ziel sein, mit Weiß jedes Mal um ein mühsames Remis zu kämpfen, zumal er nach Punkten hinten liegt. Nein, seine Eröffnungsstrategie ist komplett gescheitert; wenn er nicht sofort umstellt, ist die WM gelaufen." [Anm.: Dikigoros hat die Stellung vom Computer analysieren lassen; Schwarz kann direkt auf d7 zurück nehmen und gewinnt trotzdem - nur damit seine Leser nicht glauben, ausgerechnet er hätte einen Ausweg gefunden.]
Wieder ein paar Tage später. Die Spannung hat merklich nachgelassen, die Weltmeisterschaft ist praktisch entschieden. Ānand hat auch die 6. Partie gewonnen, die nächsten drei remisiert, führt also jetzt mit 6:3, und selbst wenn Kramnik die letzten drei Partien noch gewinnen sollte (was niemand im Ernst glaubt), hätte er im "Tiebreak" keine Chance. "Wie konntet ihr mit eurer Prognose bloß so völlig daneben liegen?" fragt der Kiebitz schon fast mitleidig. "Ich habe überhaupt nicht daneben gelegen," sagt Fidi gereizt, "ich habe frühzeitig gesagt, daß Kramnik die Eröffnung wechseln muß, wenn er noch eine Chance haben will. Das hat er nicht getan, also hatte er auch keine Chance gegen Anands Slawische Verteidigung. Wenn er die selber gespielt hat, hat er keine einzige Partie verloren. Und wenn er in der letzten Partie statt den Damentausch zuzulassen im 35. Zug Lc7 und dann Tb8 gespielt hätte, hätte er sogar gewinnen können." - "Er war in Zeitnot," erwidert der Kibitz kurz und trocken. "Gegen Anand darf man nicht in Zeitnot kommen, sonst ist man verraten und verkauft," sagt Fidi, "Schnellschach kann der besser." - "Langsamschach offenbar auch." - "Der Wettkampfverlauf war nicht so kraß wie es das Ergebnis auszudrücken scheint," sagt Dikigoros, "fast alle Partien waren äußerst knapp; nicht nur die letzte stand auf des Messers Schneide." - "Und doch wird diese Weltmeisterschaft als die einzige in die Geschichte eingehen, in der der Unterlegene keine einzige Partie gewonnen hat. Selbst Bogoljubow hat gegen Aljechin mal die eine oder andere Partie gewonnen. Aber sowas..." - "Zugegeben, ich habe Ānand unterschätzt," sagt Dikigoros, "wißt ihr, als ich mich das letzte Mal intensiv mit Schach im allgemeinen und mit Ānands Spiel im besonderen befaßt habe, das war 1995, während der WM gegen Kasparow, da war ich in Indien, und da war die WM Tagesgespräch. Aber damals war Ānand lange nicht so gut wie heute; und seine Weiterentwicklung habe ich halt nicht so richtig mitbekommen." Fidi schüttet sich Zucker in seinen Becher. "Du hast noch vieles andere nicht so richtig mitbekommen, Niko, äh... heißt du überhaupt noch so, oder hast du dich als Hindu umbenennen müssen?" Dikigoros lacht: "Wieso denn? Mein Name kann völlig unproblematisch als indisch durchgehen, mit so schönen kurzen Silben aus je einem Konsonanten und Vokal. Wenn ich den in Dewnagrī schreibe, käme niemand auf die Idee, daß der nicht indisch ist, und das ohne jedes Sonderzeichen. [Wie ein aufmerksamer Leser richtig vermutet hat, sagt Dikigoros Fidi hier nicht ganz die Wahrheit: Selbstverständlich hat er einen indischen Namen angenommen - und zwar in aller Unbescheidenheit den seines höchsten Gottes und zugleich des größten Muslimfressers der indischen Geschichte, eines Marathen -, mit amtlichtempelich besiegelter Urkunde und allem; aber er gebraucht ihn nur in Indien, zumal er im Ausland völlig anders ausgesprochen wird; und er wollte Fidi nicht völlig durcheinander bringen, indem er ihm das in allen Einzelheiten auseinander setzte.] Deinen dagegen... na ja, den Nachnamen könnte man mit einem kleinen Kunstgriff so ändern, daß er dem von Wishnus fünftem Avtar ähnelt - die Inder glauben ja eh, daß alle Westler, die konvertieren, Wishnuïten werden, Krishnas wegen." - "Du nicht?" - "Nein, aber für dich als Schachspieler käme es eh nicht drauf an, da glauben Wishnuïten und Shiwaïten gleichermaßen an Ganesh." - "Ganescha, den Elefanten mit dem Hakenkreuz?" fragt der Kiebitz." - "Nein, Ganesh ist kein Elefant, er hat nur einen Elefantenkopf; und er trägt auch kein Hakenkreuz, sondern einen Swastik." - "Wo ist denn da der Unterschied?" - "Ein Hakenkreuz, wie es die Nazis hatten, hat rechtsläufige Haken und liegt schräg; der indische Swastik hat linksläufige Haken und liegt waagerecht. Aber Fidi bleibt wohl besser bei Hammer und Sichel, mit seinem Vornamen ist nämlich für Hindūs überhaupt kein Staat zu machen - ein Vokal, den es im Indischen nicht gibt, und dazu lauter Konsonanten..." - "Keine Angst, ich will ja gar nicht konvertieren." - "Wie schreibst du dich eigentlich auf Russisch?" - "Ganz einfach." Fidi malt es ihm auf. Dikigoros muß wieder lachen: "Das ist doch Pfusch!" - "Aber sehr praktischer Pfusch." - "Ja, dann könnte man dich auf Indisch auch so schreiben: Fi. Di. - solche Abkürzungen sind üblich - plus Nachname. Allerdings sieht das etwas merkwürdig aus, weil es das 'f' nur als Sonderzeichen - 'ph' mit Punkt - gibt."
Fidi wird wieder ernst. "Um auf das zurück zu kommen, was du in den letzten 13 Jahren nicht mehr mitbekommen hast: Kramnik ist nicht die Lichtgestalt, für die du ihn hältst, und schon gar nicht das arme Opfer der bösen FIDE, ganz im Gegenteil." - "Wie meinen?" - "Na, vor zwei Jahren beim Wettkampf gegen Topalow, da hat er betrogen. Er ist nach jedem Zug aufs Klo gerannt und hat sich dort vom Computerprogramm den nächsten Zug ausrechnen lassen." - "Das hat Topalow damals behauptet; aber die FIDE hat seinen Protest doch abgeschmettert." - "Ja, um keinen Skandal zuzulassen, der den Wiedervereinigungskampf gefährdet hätte; aber sie haben nach dem Match tatsächlich Computerkabel auf Kramniks Toilette gefunden - deshalb hatte er ja auf einer eigenen Toilette ohne Videoüberwachung bestanden. Sie haben die Sache tot geschwiegen und Topalow schlicht geopfert - wohlgemerkt ihren eigenen Weltmeister dem von der Konkurrenz. Hauptsache, die unangefochtene Hoheit über den Titelkampf zurück bekommen, dafür war ihnen jeder Betrug recht, selbst wenn er von der Gegenseite ausging. Und es war eindeutig; ich habe die Partien nachgespielt; Kramnik hat immer genau das gezogen, was der Computer vorgeschlagen hat." - "Hm... hat man nicht auch Topalow vorgeworfen, daß sein Manager im Publikum mit dem Computer saß und ihm während der Parteien Zeichen gegeben hat?" - "Mein lieber Niko, das ist doch völlig aus der Luft gegriffen. Das geht vielleicht mal bei einem oder zwei Zügen in einer oder zwei Partien - hier übrigens nicht, die Glaswand zwischen Spieler und Publikum ist aus der Sicht der Spieler völlig verdunkelt - aber doch nicht bei einem Dutzend großer Turniere, wie sie Topalow gewonnen hat. So wird man nicht Nr. 1 der Weltrangliste mit der höchsten ELO-Zahl aller Zeiten. Da müßte der Manager ja immer wissen, wie die Partie gerade steht; und anders als bei einem WM-Duell stehen die Züge ja nicht für die Zuschauer groß an der Wand!" - "Hm... das zeigt doch alles nur, daß die Schachspielerei zwischen Menschen inzwischen witzlos geworden ist. Es kommt nur noch darauf an, wer die Computerzüge besser kennt, sei es weil er sie vorher brav auswendig gelernt hat oder weil er sich während der Partie Zugang zu ihnen verschafft; im Ergebnis ist es überwiegend keine eigene Denkarbeit mehr. Siehst du, und das war einer der Gründe, weshalb ich mich vom Schachspiel zurück gezogen habe; ich würde heute wahrscheinlich jede Partie gegen dich verlieren. Aber wenn das, was du da eben erzählt hast, stimmt, dann mußt du doch zugeben, daß die FIDE noch immer genauso verbrecherisch ist wie früher." - "Das habe ich ja nicht bestritten; aber halt auf ganz andere Weise als du dachtest. Deshalb das Schachspiel aufzugeben käme mir nie in den Sinn. Und glaub doch nicht, daß irgend ein anderer der großen Sportverbände besser wäre, etwa die FIFA, die FINA, die IAAF, die FEI, die FIE oder einer der so genannten Weltboxverbände!"
Drei Tage später. "Das ist ja nett, daß sie die mutmaßlich letzte Partie auf einen Mittwoch nachmittag gelegt haben," sagt Dikigoros, "da kann man sich auch als Freiberufler guten Gewissens frei machen." - "Freu dich nicht zu früh," meint Fidi, "du dachtest doch, daß schon Montag alles zu Ende wäre, und doch hat Kramnik gewonnen." - "Wahrscheinlich hat der Veranstalter Ānand gebeten, zu verlieren, damit er nicht so hohe finanzielle Einbußen hat; die 1,5 Mio Euro Preisgeld müssen schließlich wieder rein kommen, und wenn ich denke, was wir heute schon wieder an Eintritt bezahlt haben..." - "Du glaubst aber immer und überall nur an Manipulation," sagt der Kiebitz. "Was heißt hier Manipulation; es ist doch schon schlimm genug, daß die Spieler von dem Preisgeld jeweils 40% bekommen, wohlgemerkt vor Steuern; 20%, d.h. 300.000.- Euro oder 600.000.- DM seligen Angedenkens gehen steuerfrei an die gemeinnützige Institution FIDE, für nichts und wieder nichts, als daß sie sich gnädig mit dem Veranstaltungsort Bonn einverstanden erklärt hat. Anderswo nennt man das Bestechung." - "Das ist doch gar nichts im Vergleich zur Vergabe von Olympischen Spielen," meint Fidi. "Na, da wird ja wohl auch etwas mehr umgesetzt," gibt Dikigoros zurück. "Schau dir doch mal das bißchen jämmerliche Werbung hier an. Glaubst du, Gazprom und Evonik können sich etwas dafür kaufen, daß ihr Logo dort an der Wand hängt? Das erkennt doch eh niemand wieder!" - "Aber ich traue Anand einfach nicht zu, daß er absichtlich verliert, um die WM zu verlängern," sagt der Kiebitz. "Ich schon," versetzt Dikigoros, "alle anderen Partien waren sowas von eng, selbst Ānands Siege nur ganz knapp; und dann läßt er sich in weniger als 30 Zügen völlig von Kramnik überfahren, und dazu noch mit einer Variante, die nach herrschender Meinung schwerlich geeignet ist, mit Weiß auf Gewinn zu spielen." - "Das stimmt," meint Fidi nachdenklich, "die habe ich immer nur dann genommen, wenn ich gegen weit überlegene Gegner von Anfang an auf Remis spielen wollte, wie Spasskij oder Hübner." - "Du hast gegen Spasskij und Hübner gespielt?" fragt der Kiebitz. "Ja, und zwar als die noch richtig gut waren; damals haben ja beide noch in der deutschen Bundesliga gespielt; in späteren Jahren hätte ich sie wohl geschlagen, aber Hübner ist ja auf seine alten Tage in die Schweiz abgehauen, und Spasskij hat nach seinem Schlaganfall das Schachspielen eingestellt." - "Spielt der Hübner jetzt nicht für Remagen?" fragt der Kiebitz. "Auf dem Papier schon; aber er hat in dieser Saison noch keine einzige Partie für die am Brett gesessen," sagt Fidi. "Auf dem Papier spielt die gesamte Weltspitze - mit Ausnahme der Amis - in der Bundesliga, die Ukrainer in Remagen, die Holländer in Solingen, die Polen in Wattenscheid, die Russen in Mühlheim, die Rumänen in Trier, die Ungarn in Eppingen, die Kaukasier in Kreuzberg; für Hamburg spielt sogar ein Ägypter, für Tegernseee ein Chinese, für Mühlheim zwei Usbeken und für Baden-Baden zwei Inder. Einer davon ist Anand; in der Praxis hat allerdings auch er noch keine einzige Partie absolviert."
"Sicher kommt demnächst auch der Lebertran aus Usbekistan" zitiert Dikigoros mit Galgenhumor einen Schlagertext. "Das wäre ja nicht weiter schlimm," meint Fidi, "auf Lebertran kann ich gut verzichten. Aber diese Invasion hat mich meinen Platz in der Bundesliga gekostet. Du wirst keinen deutschen SBL-Verein mehr finden, bei dem auch nur ein einziger Deutscher an einem der ersten acht Bretter sitzt, geschweige denn einer, der nur FM ist - mit Ausnahme von Dresden, und die steigen sicher bald ab, wie schon Leipzig." - "Aber laut Statistik..." - "Glaub nur Statistiken, die du selber gefälscht hast," sagt Fidi, "das sind ausnahmslos aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Juden, denen man einen deutschen Paß gegeben hat. Na ja, dem einen oder anderen haben sie auch einen französischen oder belgischen Paß gegeben, aber das ändert nichts. Weißt du, Niko, du schimpfst immer auf die FIDE und wie die mit den Weltmeisterschaften umgehen; aber das betrifft doch nur das knappe Dutzend da oben an der Weltspitze; was hier im Kleinen auf Vereinsebene geschieht, ist der viel größere Skandal. Das ist fast schon wie im Fußball: Bayern München, Werder Bremen, der Hamburger SV und noch ein paar Krösusse kaufen auch im Schach die besten ausländischen Spieler zusammen - wobei Baden-Baden mit Hoffenheim vergleichbar ist - und beklagen dann scheinheilig, daß kein deutscher Nachwuchs mehr da ist. Als wir jung waren, als es noch Godesberg, Koblenz, Neuwied und Porz in der Bundesliga gab..."
Dikigoros schweigt - er erinnert sich nur noch dunkel, daß Porz schon seit Jahrzehnten mit emigrierten Dissidenten aus der Sowjetunion und der ČSSR bestückt war, Godesberg mit Esten, Letten und Litauern, und Neuwied und Koblenz... nun ja, dort hat Fidi gespielt, vielleicht war es da anders. Aber war der nicht selber Jahre lang mit einer in der Ex-DDR hängen gebliebenen Vietnamesin - einer entfernten Verwandten von Ho Chi Minh -, liiert, die keine Lust hatte, heim ins sozialistische Arbeiter- und Bauernparadies zu kehren, oder ist es vielleicht noch immer? Dikigoros verkneift sich auch diese Frage - die nimmt ja niemanden einen Platz am Schachbrett weg. Ja, die lieben ausländischen "Mitbürger"... Dikigoros denkt zurück an seinen alten Schachfreund David Cohen, mit dem er einst in L.A. sein erstes Schachturnier gespielt hat, und der bestimmt heute hier wäre, wenn er nicht vor Jahr und Tag bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre. Er hat ihn ein paar Mal in Deutschland besucht, und in den 1970er Jahren war er auch einmal mit ihm in Godesberg, der Stadt der ausländischen Diplomaten. David war ganz begeistert von den schönen Villenvierteln, aber auch von den urigen Kneipen, dem berühmten Rheinhotel Dreesen, wo sich einst Hitler von den Limeys leimen ließ, die dringend noch etwas Zeit zum Aufrüsten für ihren längst beschlossenen Krieg gegen Deutschland aushandeln wollten, und last not least von der Godesburg. "Sag mal, welcher Idiot ist bloß auf die Schnapsidee gekommen, diesen schönen Ort 'Schlecht Godesberg' zu nennen? Der müßte doch 'Gut Godesberg' heißen!" - "Das war der für Fremdenverkehr zuständige Referent im preußischen Innenministerium. Der glaubte anno 1926, daß mehr ausländische Valuta-Touristen kämen, wenn man Godesberg als 'Bad' bezeichnen würde." - "So ein Trottel," meinte David nur. 30 Jahre später waren sie wieder in Godesberg - Dikigoros konnte ihm den Wunsch, "Erinnerungen aufzufrischen", nicht ausreden. Es wurde zum Horror-trip, denn Godesberg war zwar immer noch eine Ausländer-Hochburg, aber inzwischen war Bonn ja keine Hauptstadt mehr, und die Diplomaten waren samt Gefolge nach Berlin gezogen; binnen weniger Jahre war Godesberg zu einem fast reinen Muslimviertel verkommen, aus Türken und Arabern. "Jetzt trägt es seinen Namen zu Recht," sagte David entgeistert, "bäd, bäd Godesberg." Dikigoros denkt an Prag zurück. Welch ein Unglück, ja Fluch war doch der relative Wohlstand West- und Mitteleuropas, der - in Verbindung mit der Bereitschaft, jeden daher gelaufenen Migranten großzügigst daran teilhaben zu lassen - Jahrzehnte lang diese Elemente aus aller Welt angezogen hat. Dagegen ist Osteuropa seine relative Armut zum Segen ausgeschlagen: Dort gibt es heute praktisch keine Muslime, und auch sonst kaum Afrikaner oder Asiaten, schon gar nicht unter den Schachspielern...
"Bin ich etwa kein Nachwuchs?" unterbricht der Kiebitz Dikigoros' triste Gedankengänge. "Das können wir nachher ja mal testen," sagt Fidi. "Gerne," sagt der Kiebitz, "wenn Nikos Theorie stimmt, dann müßte Anand heute ja wieder absichtlich verlieren, damit wir morgen noch eine Runde erleben, und das wird er dann wieder früh tun, und wir haben noch Zeit." - "Wenn sie heute wieder Slawische Verteidigung spielen..." setzt Fidi zu seinem Lieblingsthema an, da unterbricht ihn der Kiebitz: "Du kriegst die Motten, Anand hat 1. e2-e4 gezogen!" - "Schau schau, er macht genau das, was Kramnik auch hätte tun sollen: gleich nach seiner ersten Niederlage die Eröffnung wechseln." - "Was würdest du jetzt machen?" fragt der Kiebitz. "Ich habe immer Französisch gespielt," sagt Dikigoros, "aber für jemanden, der mit Schwarz gewinnen muß, ist das vielleicht nicht die optimale Lösung." - "Und ich Caro-Kann," sagt Fidi, "aber dafür gilt das gleiche, ebenso für Russisch, das Kramnik sonst bevorzugt; er wird wohl Sizilianisch spielen." Das tut er denn auch; aber Ānand hält scharf dagegen - durchaus nicht wie jemand, der nur den noch fehlenden halben Punkt einfahren oder gar absichtlich verlieren will. Das Spiel steht wieder lange Zeit auf Messers Schneide; aber am Ende steht Ānand sogar leicht besser, und Kramnik muß froh sein, ein Remis zu erreichen. Damit ist Ānand - nun auch in Dikigoros' Augen - unumstrittener Schachweltmeister.
Nachtrag Sommer 2011. Schach ist - jedenfalls in der BRDDR - völlig zur Randgruppen-Sportart verkommen. Und wenn schon eine Weltmeisterschaft so wenig Interesse - vor allem der Sponsoren und der Medien - auf sich zieht, was soll man dann bei einer eher untergeordneten Veranstaltung wie der Deutschen Meisterschaft der Frauen erwarten, die im Juni 2011 ebenfalls in Bonn stattfand? (Für Ortskundige: schräg gegenüber vom Frankenbad, im Hotel Ibis, das damit wirbt, nur 1 km vom Stadtkern entfernt gelegen zu sein. Wohl wahr, aber was für ein Kilometer: Er führt durch das Gegenstück zu "Bäd Godesberg", das aus unerfindlichen Gründen "Altstadt" genannt wird, obwohl es ein relativ junges, im Nordwesten der alten Bonner Stadtmauern gelegenes Viertel ist - die echte, am Rhein, also im Osten gelegene Altstadt, mit dem Judenviertel und der "Kuhl", ging 1944 im Bombenhagel der alliierten Terrorangriffe unter. Zunächst, vor ca. 100 Jahren, war es ein Handwerkerviertel, dann ein Studentenviertel, und heute ist es ein Türkenviertel, in dem es mehr Moscheen gibt - oft nur durch ein mehr oder weniger diskretes Schild "Cami" als solche zu erkennen, denn sie sind ohne Minare; wer eine "mit" sehen will, muß einstweilen noch ins benachbarte Königswinter gehen - als christliche Kirchen in ganz Bonn. Die Obrigkeit faselt in ihren offiziellen "Statements" - die seit Beginn des 21. Jahrhunderts alle einen dreisprachigen Briefkopf tragen, Deutsch ist nur noch eine Sprache unter vielen - etwas von "multikulturell"; aber wenn David das noch erlebt hätte, hätte er es wahrscheinlich "Bäd Bonn" genannt.) Ihr meint, das käme davon, wenn Frauen versuchen, sich in einer "typischen Männersportart" zu betätigen? Weit gefehlt: Als - unmittelbar im Anschluß an die DSM der Frauen - die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen statt fand, da stürzten sich alle Medien darauf, als sei es ein Ereignis von weltbewegender Bedeutung, das Fernsehen vorweg, das alle Spiele zur besten Sendezeit live übertrug. Ist das nicht ein trauriger Gegensatz? Und da Dikigoros gerade eine nostalgische Fase hat, will er an dieser Stelle noch etwas nachtragen, was Ihr sonst nirgends im www findet, und folglich bald auch nirgendwo anders mehr finden werdet, denn was nicht im Internet ist, hat es ja nie gegeben. Die Geschichte des Schachs in Bonn war lange Zeit die Geschichte des Bonner Schachklubs. In Dikigoros' Jugendzeit konnte es der BSK durchaus mit seinem großen Nachbarn Godesberger SK aufnehmen: Seine 1. Mannschaft spielte in der Bundesliga, und die Vereinsabende fanden im Restaurant "Hong Kong" am Brassert-Ufer statt, dem führenden China-Restaurant am Ort, mit Blick auf den Rhein, großem Biergarten und ebenso großem Autoparkplatz vor der Tür. (Damals schon genauso wichtig wie heute, vielleicht sogar noch wichtiger, denn die Tiefgarage unter dem häßlichen Betonklotz mit Fischschuppen-Verkleidung - von der Obrigkeit als "Opernhaus" bezeichnet, vom Volksmund nur "Blechbüchse" genannt - war noch nicht gebaut.) Jede Woche wurde ein Blitz-Turnier ausgetragen, zu dem bisweilen Spitzenspieler aus ganz Deutschland anreisten; und niemand hätte sich träumen lassen, daß dieser ruhmreiche Verein so schnell völlig aus dem Gedächtnis der Nachwelt gelöscht sein würde. Es begann damit, daß sich die Vereinsführung mit ihrem Turnierleiter, dem emsigen Oberamtsrat E., überwarf. Der, nicht faul, verließ den BSK und machte eine "Betriebssportgruppe Schach" bei seinem Arbeitgeber auf. Offiziell hatte es die zwar schon vorher gegeben, aber sie bestand längst nur noch auf dem Papier. Sie wurde formell von Ministerialrat Hilmar S. geleitet, einem feinen alten Herrn mit großen Schach-Meriten (deutscher Vizemeister 1950, und er wäre damals Meister geworden, wenn er nicht die entscheidende Partie gegen den späteren Großmeister Wolfgang U. - der übrigens auch Sizilianisch wählte, um mit Schwarz auf Gewinn zu spielen - verloren hätte). Aber inzwischen war S. schwer krank und dämmerte nur noch seiner Pensionierung entgegen (die er nur um drei Jahre überleben sollte). Kurzum, ab sofort fanden die von E. organisierten Blitzturniere nicht mehr beim Bonner SK, sondern im Casino des Ministeriums statt, in dem E. arbeitete, und der BSK zog um ins 100 m Luftlinie vom "Hong Kong" entfernte "Salzrümpchen", eine Kneipe am Belderberg, sehr gemütlich und liebenswert, aber als Schachlokal kaum geeignet. (Auch die ist inzwischen völlig in Vergessenheit geraten, wie so viele alte Bonner Lokale, die heute - wenn sie überhaupt noch existieren - spanische, griechische oder türkische Namen tragen. Aus "Im Salzrümpchen" wurde "Habanero", eine Cocktailbar - mal im Ernst, liebe Leser, wolltet Ihr dort Schach spielen?) Bald darauf ging der Bonner Schachklub ein. Die Betriebssportgruppe ging nach der so genannten "Wieder"-Vereinigung der BRD mit der DDR als Anhängsel des Ministeriums nach Berlin (aber das ist eine andere Geschichte), ohne E., der das Glück hatte, vorher pensioniert zu werden, wurde umbenannt in "Sportgemeinschaft im Bundes-(...)-Ministerium e.V." und bald wieder das, was sie vor E. gewesen war, nämlich ein Papiertiger. In Bonn gibt es heute nur noch den "Schachclub Bonn/Beuel, dessen 1. Mannschaft gerade mal in der Regionalliga spielt, und der vom BSK nicht wissen will. (Die offizielle Vereinschronik nennt vielmehr als Vorläuferin eine obskure "Bonner Schachgesellschaft" aus dem 19. Jahrhundert, von der niemand so genau weiß, ob es sie tatsächlich gab; sie wird nur in den Memoiren eines Durchreisenden einmal kurz erwähnt.) Das Vereinslokal befindet sich bezeichnender Weise im so genannten "Tenten-Haus", einem Altersheim, pardon, einer "Seniorenresidenz", nein, noch besser, einer "Seniorenwohnanlage" - so drückt man es heute politisch korrekt aus, aber das ändert nichts daran, daß das beste an dem Laden die Aussicht auf die alte "Wolfsburg" ist, die einst das weithin sichtbare Wahrzeichen von Beuel war (nein, liebe Besserwisser, die "Doppelkirche" St. Clemens gehörte vor der Eingemeindung nicht zu Beuel, sondern zu Schwarz-Rheindorf!), bevor sie durch diesen und andere Betonklötze zugebaut wurde.
Den Godesberger SK gibt es zwar noch, und dessen 1. Mannschaft spielt immerhin noch in der 2. Liga; aber es ist abzusehen, daß auch den bald das Schicksal des Bonner SK ereilen wird - bis zum 100-jährigen Gründungs-Jubiläum wird das letzte halbe Dutzend Urgesteine, die Dikigoros noch persönlich kennt, wohl ausgestorben sein. (Immerhin weiß man noch, wann der GSK gegründet wurde; vom BSK weiß man nicht mal mehr das; Dikigoros erinnert sich nur noch dunkel, daß Anfang der 1970er Jahre der Schachfreund R. für seine 50-jährige Vereinsmitgliedschaft eine Ehrennadel erhielt; der BSK muß also älter gewesen sein als der GSK.) Im Juli 2011 veranstaltete der GSK sein traditionelles, 9-tägiges Schachturnier - das Preisgeld für den Sieger betrug gerade mal 600.- Euro, davon kann man kaum Anreise, Unterkunft und Verpflegung bezahlen, wenn man von außerhalb kommt. Wie war das? Der König rief, und alle, alle kamen? Ach was: Der GSK - der keinen Köng, sondern nur einen Springer im Wappen führt - rief, und kein Schwein kam, jedenfalls keines, das in der Schachwelt Rang und Namen hätte. Es gewann ein Zweitligaspieler aus der Betriebssportgruppe eines rheinländischen Glasherstellers, und wenn Dikigoros mal den etwas resignierten Kommentar von der Homepage des Godesberger SK zitieren darf: "Die Zeiten, als Großmeister gegen gesponsertes Startgeld am Fuße der Godesburg antraten, sind längst vorbei..." Ja, auch dort ist jetzt das Beste die Aussicht auf die alte Burg, die man noch nicht ganz zugebaut hat, obwohl es auch in deren näherer und weiterer Umgebung inzwischen häßliche, modernistische Bausünden gibt; aber über solche - weit schlimmeren Ausmaßes - schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.
Ach so, um zum Ausgangspunkt dieser Reise zurück zu kehren: In Prag hat gleich nach dem Zusammenbruch des "Ostblocks" ein gewisser Jaroslav Pelikan begonnen, große internationale Schachturniere zu veranstalten - "International Chess Holiday" genannt -, an denen auch tatsächlich Spitzenspieler aus aller Welt teil nahmen und nehmen. Der gute Professor ist zwar inzwischen schon viele Jahre tot; aber seine Tochter Jindra führt das Unternehmen fort; und wenn Ihr Dikigoros fragt, dann wird es die Bonner Schachvereine bei weitem überleben.
*Sowohl Ānand als auch Kramnik äußern sich zwar regelmäßig bei Presse-Konferenzen auf Englisch - Ānand manchmal sogar auf Deutsch -; aber das allein besagt nicht viel: Selbst die dümmsten Fußballer und Boxer können in der Regel ein paar einstudierte Frasen über ihre Sportart auf Englisch dreschen - z.B. "es war ein schweres Match", "ich bin froh gewonnen zu haben" und "ich danke meinem Trainer und dem Publikum" -, aber ansonsten nicht mal die einfachste Unterhaltung führen. Doch bei Ānand ist das wohl anders, wie ein Schachfreund, der zur Weltmeisterschaft 2007 in
Mexiko
war - was Dikigoros unverzeihlicherweise versäumt hat - ihm versichert hat. Danach spricht Ānand Englisch nicht nur fließend, sondern geradezu wie ein Wasserfall - er redet, wie er Blitzschach spielt. Indisches Englisch zwar, das für westliche Ohren etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber grammatisch völlig korrekt. Außerdem spricht er überraschend gut Spanisch.
Nachtrag: Inzwischen hat Ānand seinen Wohnsitz in Spanien genommen - was ihm in Indien wenig Freunde gemacht hat. Auch Dikigoros fragt sich, wie ein anständiger Mensch freiwillig im heutigen Staat Spanien kann leben wollen; aber das war hier nicht der Punkt, sondern daß er überhaupt ins Ausland gezogen ist. Im August 2010 wollte die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Haidarābād Ānand zum Dr. h.c. machen. Warum auch nicht? Schwierige Frage, aber es gab offenbar Leute, die darauf eine Antwort parat hatten. Dazu muß man wissen, daß es im Regierungs-Kabinett der Republik Bhārat eine Reihe von Frühstücks-Direktoren gibt. Früher nannte man so etwas "Minister ohne Geschäftsbereich" - das war schon schlimm genug. Aber heute werden für diese Däumchendreher pro forma ganze Ministerien geschaffen mit untergeordneten Nichtstuern oder Unfugtreibern. Einer dieser Leute, die den lieben langen Tag nichts Gescheites zu tun haben als Tee zu trinken und Zeitung zu lesen, ist der Hanswurst Kapil Sibal, seines Zeichens "Minister für menschliche Entwicklung". Und als der erfuhr, daß Ānand Dr. h.c. werden sollte, intervenierte er sogleich bei der Universität: Man könne doch jemandem, der womöglich gar kein echter Inder sei, keinen akademischen Grad ehrenhalber verleihen! Die armen Uni-Professoren zogen sofort den Schwanz ein und suspendierten die Verleihung. Aber schau mal an: Ein Sturm der Entrüstung erhob sich über Indien; manche Leute verlangten nicht nur den Rücktritt des Hanswurstes, sondern gar die Auflösung seines ganzen Kasperle-Theaters von "Ministerium". Nun ruderte der schnell zurück: Er habe ja gar nicht gewußt, daß Ānand immer noch Staatsbürger von Bhārat sei und bloß in Spanien lebe; selbstverständlich habe er überhaupt nichts gegen die Verleihung des Doktorgrades einzuwenden... Und die Universität beeilte sich, gleich für die nächste Woche einen neuen Promotions-Termin anzusetzen. Was hättet Ihr an Ānands Stelle getan, liebe Leser? Na ja, Ihr seid ja keine Schach-Weltmeister oder habt vielleicht noch keinen "normalen" Doktorgrad. Ānand sagte jedenfalls "l.m.a.A." und lehnte die Verleihung ab - und das macht ihn Dikigoros am Ende doch ein wenig sympathischer.
2. Nachtrag: Wieder ist ein Jahrzehnt vergangen - das schlimmste der deutschen Geschichte. Und das schreibt Dikigoros nicht leichtfertig daher, denn er weiß um das bis dahin schlimmste Jahrzehnt, nämlich die Zeit unter den
alliierten Besatzern Befreiern 1945-1955. Doch nun hat
die größte Politverbrecherin der deutschen und jüdischen Geschichte unter dem
Vorwand einer - frei erfundenen -
Pandemie ein
Terror-Regime
errichtet, wie es die Welt noch nicht gesehen hat, das öffentliche und private
Leben
so gut wie zum Erliegen gebracht. Also auch das Schachspiel, denn das ist - anders als z.B. das Balltreten Fußballspiel nicht systemrelevant - zumal es ja nicht mehr in jüdischer Hand ist. "Präsenz"-Spielabende wurden also verboten. Aber oh Schreck, politisch unkorrekte [Un-]Menschen wollten auf dieses rücksichtslos-frivole Vergnügen nicht verzichten und gingen einfach online - und hockten womöglich auch noch ohne
Narrenkappe Corona-Schutzmaske
vor dem Bildschirm! Aber auch dagegen wurde eingeschritten, denn jemand stellte fest, daß Schach an und für sich ein politisch unkorrektes Spiel ist, das eigentlich ganz verboten gehörte, genauer gesagt ein
genderisch
unkorrektes Spiel. Nicht wahr, man kann "Schachspielerinnen" und "Schachspieler" umbenennen in "Schachspielende", Springer in "Springende", "Bauern" in "Bauende", "Läufer" in "Laufende" (was las Dikigoros kürzlich in einem Käseblatt: "zu Fuß gehende" statt "Fußgänger" :-) und "Türme" in "Türmende". Aber über eine Klippe kommt man nicht hinweg: Man könnte zwar - wie Frau Dikigoros spontan vorschlug - "König und Dame" durch "Herrschende" ersetzen; aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie in geschlechtsdiskriminierender Art und Weise unterschiedlich ziehen - wie überhaupt alle Steine außer den "Bauenden", und das vestößt doch gegen das Gleichheitsgebot! Bei Dame (umzubenennen in "Divers"), Mühle (umzubenennen in "Mahlende"), Halma und Go sind alle Steine gleich! Also, wann wird Schachspielen endlich ganz verboten? Wenn Ihr Dikigoros fragt: Lange kann es nicht mehr dauern...
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