SACRÉ-COEUR DE PARIS
VON MARTYRERN, ADVOKATEN & ANDEREN HELDEN
EIN KAPITEL AUS DIKIGORS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE
"Um als Held in die Geschichte einzugehen," sagt Jane, "muß man wohl zwei Voraussetzungen erfüllen: erstens eine erfolgreiche Revolution anzetteln und zweitens eines gewaltsamen Todes sterben. Nur ein toter Held ist ein guter Held. (Sie muß es wissen, denn sie studiert Geschichte.) "Wie Jesus und die christlichen Martyrer," sagt Tarzan. (Er muß es wissen, denn er ist lange genug auf eine katholische Schule gegangen und hat die Heiligen-Viten brav auswendig gelernt.) Sie stehen auf der Butte Montmartre, der Spitze des Martyrer-Bergs, und sehen hinab auf Paris. Hinter ihnen erhebt sich die weiße Zuckerbäcker-Fassade der Kirche zum Heiligen Herzen, die man in den Jahrzehnten nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 als Heldengedenkhalle konzipiert und erbaut hatte - eine Rolle, die dann dem Panthéon zufallen sollte -, aber erst nach dem gewonnenen Ersten Weltkrieg einweihte, als simple Kirche; und vor ihnen jagen uniformierte Polizisten mit Gummiknüppeln illegale Schwarze, die hier versuchen, amerikanischen, deutschen und zunehmend auch japanischen Touristen kitschige Souvenirs zu verkaufen. "Souvenirs" bedeutet Erinnerungen - kann man die (ver-)kaufen? Aber hier bedeuten sie natürlich Erinnerungsstücke, Andenken (etwas mehr über die ursprünglichen und späteren Bedeutungen dieses Wortes hat Dikigoros hier geschrieben), und so sind sie auf das Thema ihrer Unterhaltung (und dieser Seite) gekommen.
Damals sahen sie das mit den Helden, den Heiligen und den Martyrern noch etwas undifferenziert - etwa wie der Künstler, der die 13 Gesichter auf der Fotomontage im Untertitel zusammen gestellt hat, deren Trägern wir hier meistenteils nicht wieder begegnen werden. Oder wie der polnische Satiriker Stanislaw Jerzy Lec, der schrieb: "Erste Voraussetzung der Unsterblichkeit ist der Tod." Bei der Gelegenheit sei für alle, die es nicht wissen sollten, nachgetragen, woher die Zitate aus dem Untertitel stammen. Zeile 3-4: Brecht, Leben des Galilei, 13. Auftritt; Zeile 5-6: Jewgenij Jewtuschenko (wenn Ihr den zu Eurer Schande nicht kennen solltet, liebe Leser, dann könnt Ihr diesem Übelstand hier ein wenig abhelfen), in direkter Antwort auf Brecht; Zeile 7-9: Ephraim Kishon, Titel, Tod und Teufel. In letzterem taucht der gleiche Gedanke wie bei Lec auf, wenngleich etwas weniger pointiert: "Bekanntlich ehrt das Vaterland seine bedeutenden Männer immer erst, wenn sie tot sind." Wohl wahr, aber diese Erkenntnis ist doch ziemlich banal. Heute wissen wir, daß neben der erfolgreichen Revolution und dem gewaltsamen Tod noch eine dritte Voraussetzung erfüllt sein muß: Der Held muß aus der Fremde kommen, sonst wird er zum "Profeten im eigenen Lande", auf den niemand hört. Wir können also gleich zu Beginn unserer Reise einige "Helden" aussortieren, die es nie zu Nationalheiligen bringen werden. Zuerst all diejenigen, die nur das getan haben, was ohnehin von ihnen erwartet wurde: die Thronerben und gewählten Parteiführer, die ohne Gewalt an die Macht kamen und auch im Falle großer politischer Erfolge und/oder eines gewaltsamen Todes bestenfalls zu dem werden können, was die Römer "Pater Patriae [Vater des Vaterlands]" nannten, z.B. Friedrich der Große und Bismarck in Preußen, Washington und Lincoln (den Ihr in der Bildermontage als ersten von links seht) in den USA (über diese vier berichtet Dikigoros an anderer Stelle), Kennedy, Gustav Adolf und Karl X von Schweden oder Nehrús Tochter Indirá Gándhí und sein Enkel Rájíw Gándhí in Indien. Im weiteren Sinne gilt das auch für Revolutionäre wie Cromwell in England, Mussolini in Italien, Mao Tse Tung in China, Ho Chin Minh in Vietnam, Fidel Castro in Kuba und Nelson Mandela (in der Bildermontage fünfter von rechts), die sich zwar gewaltsam an die Macht kämpften, aber nicht von außen kamen, sondern vielmehr wohl etablierte Kinder ihrer Gesellschaften waren - ein Landedelmann, ein Redakteur, ein Lehrer, ein Mitglied der kaiserlichen Familie und ein Arzt. Solche Leute neigen nicht dazu, ihr Leben einzusetzen (auch wenn sie in markigen Reden oft vorgeben, dazu bereit zu sein - so fehlt es vier der fünf letztgenannten bezeichnenderweise auch an dieser Voraussetzung.) Aber selbst wenn sie es täten, würde das nicht viel helfen - es ist doch eine Selbstverständlichkeit, fürs eigene Vaterland zu sterben, oder?
[Exkurs. Vielleicht wird Mussolini eines Tages die erste Ausnahme von dieser Regel sein: Er stammt zwar aus Italien - aber vielleicht kann man ihm ja ein paar mexikanische Vorfahren andichten? Seine Eltern hatten ihn nachweislich nach dem damals nicht nur von ihnen so bewunderten Advokaten und Revolutionär Benito Juárez so genannt, er ist also gewissermaßen dessen geistiger Enkel. (Wenn sich Dikigoros nochmal die Bildermontage im Untertitel anschaut, dann scheinen ja heutzutage auch geistige Revolutionäre als solche anerkannt zu werden - warum dann nicht auch geistige Enkel?) Die beiden anderen Voraussetzungen erfüllt Mussolini ohne weiteres: Er gelangte gewaltsam an die Macht, und er starb eines gewaltsamen Todes, als ihn kommunistische Partisanen noch kurz vor Kriegsende grausam ermordeten. Einige Ereignisse in der italienischen Nachkriegsgeschichte scheinen diese Möglichkeit jedenfalls anzudeuten: Während in Deutschland nach 1945 jeder brave Bürger das Recht erhielt, seinen Vornamen - so er "Adolf" lautete" - zu ändern (und die meisten taten es; außerdem war es fortan ungeschriebenes Gesetz, daß niemand sein Kind mehr so nennen durfte; die Standesbeamten wurden angehalten, inoffiziell von dem Vornamen "abzuraten"), konnte in Italien eine Enkelin Mussolinis - die gar nicht mehr so hieß - den Nachnamen ihres Großvaters wieder annehmen, um damit in den Wahlkampf zu ziehen, und gewählt werden! Exkurs Ende.]
Erst derjenige, der eigentlich gar keine Veranlassung hat, für ein Land zu sterben, in das er nicht hinein geboren wurde, der aber dieses Land aus freien Stücken zu seiner Heimat wählt und für sie in den Tod geht, wird zu einem echten Martyrer der nationalen Sache. Und wenn er nicht aus dem Ausland kommt, der Irredenta (oder, wie die Katholiken auf Griechisch sagen - und es meist falsch betonen - in der Diasporá), dann muß es zumindest ein mehr oder weniger unsicherer Grenzkanton sein, oder er muß zu einer Minderheit gehören, nicht zum Staatsvolk. Diesen Typus des "Zugereisten" gibt es übrigens recht häufig in der Weltgeschichte, und oft hat er - wenigstens vorübergehend - bemerkenswerte Erfolge erzielt, die ihm so schnell kein "Eingeborener" nachgemacht hätte. Die bekanntesten Fälle sind der Korse Napoleon in Frankreich, der Georgier Stalin in der russischen Sowjetunion und der Ostmärker Hitler in Deutschland - aber die sind nur die Spitze vom Eisberg, die wir als Kinder des 20. Jahrhunderts am ehesten sehen. Es gibt ihn noch viel öfter, diesen Helden, der, wie Joachim Fernau einmal schrieb, immer über die Ebene kommt, oder, wie Dikigoros ergänzen möchte, übers Wasser (welches er, zumal im 20. Jahrhundert, nicht immer, aber immer öfter, nicht per Schiff, sondern im Flugzeug überquert hat): der Kreter Venizelos in Griechenland, der Usbeke Akbar und der Kashmiri Nehru in Indien, der Halb-Madurese und Halb-Balinese Soekarno im javanisch dominierten Indonesien, der halbe US-Kubaner Valera in Irland, der Halb-Kroate und Halb-Slowene Tito im serbisch dominierten Jugo-Slawien, der Halb-Litauer Pilsudski in Polen, der Galizier Franco in Spanien, der Slowake Dubcek in der tschechisch dominierten Tschecho-Slowakei, der Thraker Atatürk in der Türkei. [Dikigoros hat sie nach dem Alfabet "ihrer" Länder sortiert, weil er hier nicht über ihre Bedeutung oder Verdienste urteilen will - das tut er jeweils an anderer Stelle.] Sie alle haben sich ihren Platz in den Geschichtsbüchern erobert, vielleicht sogar als "Helden" - aber nicht unbedingt auch in den Herzen "ihrer" Völker als Heilige, jedenfalls nicht auf Dauer. (Bisweilen dauert dieser Kampf um das Königreich der Herzen noch an - z.B. in Frankreich, weshalb diese Reise nicht von ungefähr in Paris spielt.) Denn ihnen allen fehlt der gewaltsame Tod, genauer gesagt der Opfertod fürs Vaterland, kurz die Martyrerrolle. Es ist dies der schlimmste Faux-pas, den ein Aspirant auf den Status des Nationalheiligen begehen kann: Helden sterben nicht zuhause im eigenen Bett (geschweige denn im Altersheim oder Krankenhaus), sondern entweder auf dem Schlachtfeld von Feindes- oder wenigstens auf der Straße von Mörderhand.
[Exkurs: Gewaltsamer Selbstmord reicht nicht aus (jedenfalls nicht außerhalb Japans :-). Ein Held schleicht sich nicht aus der Verantwortung, indem er sich selber umbringt. Deshalb mag Fernau zwar Recht haben, wenn er in "Diesteln für Hagen" schreibt, daß Hitler es in Deutschland irgendwann einmal zum Helden bringen wird, aber höchstens zum "Pater Patriae", nie zum Nationalheiligen. Wer etwas anderes hofft oder fürchtet, ist blind für die Lehren der Geschichte. Wenn überhaupt mal jemand von den Nazis zum Nationalheiligen werden könnte - was Dikigoros bezweifelt -, dann allenfalls Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, der alle drei Voraussetzungen erfüllt: Er ist in Ägypten geboren, nahm am gescheiterten Marsch auf München teil, und seine alliierten Kerkermeister haben ihm aus unerfindlichen Gründen den Gefallen getan, ihn erst unter Verstoß gegen alle von ihnen selber proklamierten "Menschenrechte" Jahrzehnte lang in Isolationsfolterhaft zu halten und ihn dann noch als Greis zu ermorden, womit sie ihn sozusagen in letzter Minute zum Martyrer machten. Außerdem hat er den nicht zu unterschätzenden weiteren Vorteil, daß er mit seinem England-Flug 1941 seine Freiheit und sein Leben nicht nur für sein Vaterland, sondern auch für den Weltfrieden eingesetzt und geopfert hat - und daß er nicht mehr in Deutschland war, als der "Holocaust" anlief, man ihn also nicht nur zum Friedens-, sondern auch noch zum Unschuldsengel hoch stilisieren kann. (Der Treppenwitz der Geschichte ist, daß Heß, wäre seine Friedens-Mission 1941 erfolgreich gewesen, nie zum Helden hätte werden können; denn Leute, die einen vernünftigen Kompromiß-Frieden schließen, werden das nun mal nicht - geschweige denn solche, die eine Kapitulations-Urkunde unterzeichnen). Exkurs Ende.]
Deshalb müssen wir auch sie aussortieren, ebenso diejenigen, die es nie geschafft haben, mit ihrer Revolution an die Macht zu kommen, wie z.B. Garibaldi, Gándhí oder Martin Luther King - so populär sie vorübergehend gewesen sein mögen, zumal solange man an ihren Erfolg glaubte -, und schließlich noch diejenigen, die zwar aufgrund ihrer großen militärischen Erfolge bisweilen auch als "Helden" bezeichnet werden, aber die ihr Kommando über ein Heer oder eine Flotte ganz regulär übertragen bekommen haben, wie Wallenstein, Cromwell, Nelson, Bolivar (in der Bildermontage vierter von links), Custer, Hindenburg oder deGaulle. Dabei spielt es keine Rolle, was sie später mit diesem Kommando angefangen haben und wie sie endeten - als Berufssoldat eines gewaltsamen Todes zu sterben ist doch eine Selbstverständlichkeit, oder? (Umgekehrt bekommt ja auch ein Mitglied der DLRG keine Lebensrettungs-Medaille, wenn er jemandes Leben rettet, denn das ist doch nur seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit!) Nein, jemand, der nur seinen Job tut, ist kein Revolutionär, taugt also nicht zum Helden. Er muß vielmehr Amateur oder Dilettant sein - vorzugsweise aus einem fachfremden Beruf kommen, der ihm eigentlich das Gegenteil dessen vorschreibt, was er tut: Mediziner sollen Menschen heilen, nicht töten, Theologen für den Seelenfrieden beten, nicht kämpfen, und Juristen die bestehende Rechtsordnung verteidigen, nicht sie umzustürzen. Und nun schaut sie Euch an, die Herren Revolutionäre und ihre Berufe: Che Guevara war Arzt; Khomeini war Theologe; Robespierre und Danton, Juárez, Castro und Allende, Lenin, Trotski und Radek, Gándhí, Nehrú und Jinnah waren allesamt Advokaten - Schreibtischtäter und Schreibtisch-Revolutionäre, die sich selten persönlich die Finger schmutzig machen, geschweige denn ihr kostbares Leben aufs Spiel setzen wollten - obwohl es einige von ihnen dann doch erwischt hat, wenn die Revolution mal wieder ihre "Kinder" gefressen hat, wie es im Sprichwort heißt (richtig müßte es "Eltern" heißen), was diesen - auch wenn es nicht zum Helden, geschweige denn zum Nationalheiligen reicht - bei gewissen Zeitgenossen noch immer einige Popularität verleiht. Wie dem auch sei, für all diese Berufe muß man studiert haben, und deshalb kommt es wohl nicht von ungefähr, daß die Revolution der Geschichte immer wieder von Oberschülern und Studenten ausgehen (und nicht etwa von "Proletariern", wie sie uns immer wieder weiszumachen versuchen).
Die jungen Leute, die seit den späten 60er Jahren gegen die alten Leitbilder aufbegehren und nach neuen Helden suchen, sind durchweg Schüler und Studenten, und von der Universitätsstadt Paris, genauer gesagt von der Sorbonne, hat die Bewegung der so genannten "68er" in Europa ihren Ausgang genommen. Sie suchen ihre Helden in dieser wilden, revolutionären Zeit vor allem, ja fast ausschließlich im politisch linken Spektrum. Spartakus ist in aller Munde - an den deutschen Universitäten hat sich ein "Marxistischer Studentenbund" seines Namens gebildet. [Von seinem Zeitgenossen Caesar haben die meisten jungen Leute dagegen nur noch verschwommene Vorstellungen, obwohl auch der eines gewaltsamen Todes starb; aber er gilt halt nicht als Revolutionär (obwohl er auf seine Art durchaus revolutionär war :-), sondern nur ein "pater patriae".] Auch die Anhänger Trotskis bilden dort eine starke Fraktion. Dies ist allerdings nur möglich, weil keine bestimmte Nation die beiden für sich in Anspruch nimmt - man kann sie also für den "Internationalismus" in Beschlag nehmen. Man versucht das auch mit Mao Tse Tung, Ho Chi Minh und Nelson Mandela - man weiß noch nicht, daß der Chinese, der Vietnamese und der Neger ebenso unheldenhaft im Bett sterben werden wie der Kubaner Dr. Fidel Castro Ruz (für die vier wird es wohl langfristig nicht mal zum "pater patriae" reichen). Deshalb glaubt man auch noch, den Mitläufer, pardon Mitkämpfer des letzteren, den Argentinier Dr. Che Guevara, "internationalisieren" zu können - aber der erfüllt, wie wir gleich sehen werden, einfach zu viele Voraussetzungen für einen kubanischen Nationalheiligen, als daß man ihn jenem Land wegnehmen könnte, zumal er auch noch den Vorteil hat (ganz ähnlich wie Rudolf Hess in Sachen Holocaust), nicht mehr mit erlebt zu haben, wie der am Ende alles andere als fidele Castro die kubanische Revolution wirtschaftlich und politisch in den Sand setzte und das Land in Not und Elend stürzte (wie so viele National-Heilige, wenn man genau hin schaut sogar die meisten; aber das war unschädlich, solange ihr gewaltsamer Tod das gewissermaßen gesühnt hat - es gehört sich nicht, zu jammern, weil man selber hungert, wenn ein anderer sogar sein Leben geopfert hat.)
(Fortsetzungen folgen)
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