ALLE JAHRE WIEDER . . .
Reisen durch Deutschland

an Weihnachten, Ostern und anderen Feiertagen

Von grauen Tanten, grünen Witwen, rotem Wein und blauem Dunst
"Wenn sich Verwandtes zum Verwandten findet,
Da ist kein Widerstand und keine Wahl!"
(Schiller, Die Braut von Messina, II, 5)

Verwandte
sitzend vorne rechts: Dikigoros' Urgroßeltern väterlicherseits, Almut und Jens

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE:
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE

Warum besucht man Verwandte bevorzugt an Feiertagen? Ist doch klar: Für einen schönen Erholungsurlaub reicht ein Feiertag nicht aus; aber um lästige Verwandte aufzusuchen oder zu empfangen, kommt er gerade recht - dann hat man wenigstens einen Grund, am nächsten Tag wieder abzureisen bzw. sie hinaus zu komplimentieren - man muß ja wieder zur Arbeit. Aber was sind eigentlich Verwandte, und was sind Festtage? Fangen wir mit dem ersten Begriff an. Heutzutage verstehen wir darunter in der Regel nicht nur die Blutsverwandten - die früheren "Magen" -, sondern auch die (angeheiratete) Schwägerschaft - das was früher "Friunde" (gesprochen "Fründe" - wie auf Kölsch) hieß und heute für gute Bekannte steht, die man selber gewählt hat. Seine "echten" Verwandten kann man sich dagegen nicht aussuchen; die Schwäger theoretisch schon - aber wer achtet denn im Zeitalter der individuellen Partnerwahl noch auf die Familie, in die er oder sie hinein heiratet? Sind wir nicht ohnehin alle eine große Familie, Brüder und Schwestern in Christo? Ach, liebe Leser, wenn es denn so wäre! Aber die Christen haben Jahrhunderte lang ebenso erbitterte Kriege untereinander geführt (was uns wieder auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes 'reisen' bringt) wie die muslimischen Brüder es bis heute tun - von den ach so friedlichen Buddhisten in Fernost ganz zu schweigen. Wenn das bei uns heute weitgehend aufgehört hat, dann nicht, weil wir toleranter geworden wären, sondern weil wir nicht mehr so fest im Glauben sind wie unsere Vorfahren: Wer an nichts mehr glaubt außer an seine Fußballmannschaft (in Fußballstadien kommt es immer noch regelmäßig zu Kleinkriegen!) der schlägt sich dafür auch nicht mehr den Schädel ein... Nein, das Experiment einer großen christlichen Familie darf als gescheitert betrachtet werden. An seine Stelle hat man seit etwa zwei Jahrhunderten versucht, mehrere mittlere Familien zu setzen, die irgendwie genetisch miteinander verwandt waren, so genannte "Nationen". Aber auch das hat sich irgendwie nicht bewährt, und so versucht man es denn etwa seit einem halben Jahrhundert mit so genannten "Staaten", die wohlgemerkt keine "National"-Staaten mehr sind, sondern eine Art Solidargemeinschaft auf Gegenseitigkeit aller Inhaber des gleichen Passes oder der gleichen Sozialversicherungskarte. Auf die Frage, inwieweit sich dieses Konzept bewährt hat und in absehbarer Zeit noch bewähren wird oder nicht werden wir auf dieser Reise noch mehrfach zurück kommen.

Nun aber erstmal zu unserem zweiten Begriff, den Feiertagen, bei denen wir auf die gleichen Unterschiede stoßen: Es gibt das Konzept der kirchlichen Feiertage, die eigentlich für alle Christen (oder Muslime oder Juden oder sonstige Angehörige ein- und derselben Glaubensgemeinschaft) gleich sein sollten - denn Feiern verbindet bekanntlich, vor allem wenn gemeinsam gesungen, gegessen und getrunken wird; dann gibt es die "National"-Feiertage, die meist den Gründungstag eines Staates begeht, oder Kaisers bzw. Führers Geburtstag; und schließlich bleiben noch die individuellen Feiertage, also in der Regel die Geburtstage der Familienangehörigen. Hätte Dikigoros da nicht einfach schreiben können: "Reisen zu Geburtstagen"? Weihnachten ist doch bekanntlich der Geburtstag des lieben Jesuleins, und Ostern der des Osterhasen, und der 3. Oktober der der Groß-BRD, oder? Nein, ganz so einfach ist es denn doch nicht. Tatsächlich wurde das liebe Jesulein nicht am 24. Dezember, sondern am 6. Januar geboren - am 24. Dezember fand die germanische Sonnenwendfeier statt, von der haben die Christen das Datum geklaut, pardon übernommen. Und das mit dem 6. Januar wußten nur die drei Ayatollahs, nein Waisen, pardon Weisen aus dem Morgenland, die einen Vorwand suchten, um ihr Rauschgift nach Palästina zu schmuggeln - heute wissen es nur noch die Angehörigen der Orthodoxen Kirche, und Dikigoros ist ja bloß Katholik. Er ist mit dem Glauben groß geworden, daß nicht der Geburtstag, sondern der Namenstag der höchste individuelle Feiertag sei - bei den Katholiken lief das indes früher aufs gleiche hinaus: Das Kind pflegte als ersten Vornamen den des Heiligen zu erhalten, dem der Tag geweiht war, an dem es geboren wurde (hilfsweise an dem es getauft wurde); als zweiten und dritten Namen erhielt es die der Taufpaten oder die der Großeltern. Der höchste kollektive Feiertag bei den Katholiken aber ist das Osterfest. Den spezifisch christlichen Grund für diese Feier kennt Dikigoros selber nicht so genau. (War das nun der Tag, an dem einige Frechdachse die Leiche Jesu geklaut und haben verschwinden lassen; oder der, an dem seine zwölf Jünger zuviel Hasch geraucht hatten und im Drogenrausch ihren Ex-Chef wieder zu sehen glaubten?) Er weiß nur, daß die alten Germanen in der ersten Vollmondnacht nach Frühlings-Beginn das Fest ihrer Mond- und Fruchtbarkeits-Göttin Ostara feierten (deren Symbol die Eier waren und das ständig rammelnde Häschen - später auch der Storch, der die Kinder brachte; sie war so zu sagen die Vorläuferin der "Playmates des Jahres"); und daß am selben Tag - einem alten ägyptischen Feiertag - die alten Juden ihren Massenmord an den erstgeborenen Kindern ihres ersten Wirtsvolkes, der Ägypter begingen, den sie im "Exodus" verewigt und verherrlicht haben und zu dessen Gedenken sie bis heute das Paschah-Fest feiern, zum Wohlgefallen ihres blutrünstigen Gottes >Jahwe. [Welcher Glaube ist nun schlimmer, liebe Leser, der alte germanische oder der alte - und neue - jüdische? Nur eine Denk-Anregung am Rande!] Wie dem auch sei, diesbezügliche Unkenntnis schützt vor Strafe nicht; und diese besteht darin, alljährlich die lieben Verwandten besuchen oder sie selber auf Besuch einladen zu müssen - und man fragt sich, welche dieser beiden Strafe die schlimmere ist.

[Tannenbaum]

Heiligabend. Das Wetter ist mal wieder ganz unheilig, um nicht zu sagen obermies: hoher Schnee, spiegelglatte Eis- statt Autobahnen, deshalb haben die lieben Verwandten beschlossen, dieses Weihnachten Dikigoros und die zweitbeste Ehefrau von allen (die beste hat bekanntlich Fränzchen Hoffmann alias "Ephraim Kishon" geheiratet) nicht zu besuchen, sondern zu sich einzuladen. Praktischerweise hat die Schwägerin im Dezember Geburtstag; also kann man das gleich in einem Aufwasch mit erledigen. So beladen die beiden das Auto mit Geschenken, vertrauen Gutfriß, dem braven Kater, für 24 Stunden die Bewachung von Heim und Herd an (besonders des letzteren, in dem sich noch die Reste vom Weihnachts-Puter befinden - darin ist Gutfriß ganz groß, bloß der Puter wird dabei immer kleiner) und machen sich auf die Reise in den Ruhrpott. "Haben Sie sich verfahren?" fragt ein hilfsbereiter Passant, als sie anderthalb Stunden später vor dem schmutzig-roten Backsteinhaus der Schwägerin anhalten. (Frau Dikigoros hat wie immer etwas schief eingeparkt, es wirkt nicht unbedingt so, als wollte sie den Wagen längere Zeit so stehen lassen.) Die Ruhrpötter sind zwar viel belachte, aber eigentlich nette Leute, ein einfacher, aber herzensguter Menschenschlag, viele von ihnen Nachkommen der armen Teufel, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem aus Russisch- oder Preußisch-Polen eingewandert sind, um in den Bergwerken zu malochen, damals, als das "Ruhrgebiet" (zu dem bald nicht nur das Tal der Ruhr, sondern auch das der Emscher und der Lippe gezählt wurden) noch die eiserne Lunge Mitteleuropas war, nicht seine schwindsüchtige Konkursmasse - oder wie man den still gelegten Schrotthaufen sonst nennen soll. Damals, als Ruhrort noch so groß wie Duisburg war, Holten doppelt so groß wie Oberhausen und Wattenscheid von Essen nicht weiter weg als von Bochum (um nur mal ein paar inzwischen eingemeindete Orte in Erinnerung zu rufen). Bis vor wenigen Jahrzehnten war "der Pott" noch eine der reichsten Regionen Deutschlands, ja Europas; selbst einfache Bergarbeiter konnten es zu bescheidenem Wohlstand bringen; und die Fußballer brauchte man noch nicht im Ausland einzukaufen, sondern sie kamen direkt nach der Schicht aus der Pütt auf den Platz und spielten oft besser als ihre Epigonen, trotz all der ausgefeilten Trainingspläne, medizinischer und diätetischer Betreuung und taktischer Finessen. Wo sind sie geblieben? Egal, heute gibt es dort immerhin noch einen Kirchenchor und einen kleinen Schachclub (der freilich überregional keine Rolle spielt, da er sich keine Spitzenspieler aus der Ex-Sowjet-Union leisten kann wie die Bundesligisten) und einen verwaisten Fußballplatz (dto).

[Weihnachten]

Der zentralste Ort ist es nicht, den sich die Familie da für ihre Weihnachtsfeier ausgesucht hat; aber in dem Kaff, wo die Schwägerin wohnt, gibt es das einzige gute und doch erschwingliche Hotel in jenem todtraurigen Winkel zwischen Holten und Hühnerheide (jawohl, liebe Leser, so heißen die Käffer wirklich, Dikigoros hat sich das nicht einfach so ausgedacht!), und in dem müssen die vielen Gäste untergebracht werden, aus zwei unterschiedlichen Gründen: Die Onkeln und Tanten beanspruchen jeweils ein eigenes Schlafzimmer, und so groß ist das Häuschen der Schwägerin nicht. Und Dikigoros, sein Neffe Ulf oder ihr Vetter Edelhart, die auch mal auf der Couch oder notfalls sogar auf dem Teppich schlafen könnten, tun das nicht, weil... Tja, hier muß Dikigoros etwas weiter ausholen. Man kann "die" Menschen nach vielerlei Kriterien einteilen: in Alte und Junge, in Männlein und Weiblein, in Weiße und Farbige, in Gläubige und Ungläubige, Gläubiger und Schuldner, Kommunisten und Kapitalisten, Arme und Reiche. Dikigoros teilt sie nach anderen Gesichtspunkten ein: in musikalische und unmusikalische (damit meint er eigentlich: gut gelaunte und schlechte gelaunte), in sportliche und unsportliche (damit meint er eigentlich: dünne und dicke) und vor allem in nicht süchtige und süchtige Zeitgenossen. Mit letzterem meint er Raucher und Nichtraucher. Dikigoros' Schwipp-Schwager ist Kettenraucher - er hat es sich wieder angewöhnt, seit er arbeitslos geworden ist. (Das Trinken auch, aber das stört Dikigoros weniger: Wenn sich jemand partout seine Leber ruinieren will, soll er das in Gottes Namen tun; seine Lunge und seine Leber kratzt das wenig bzw. überhaupt nicht. Außerdem hat der Schwipp-Schwager aus den guten alten Tagen, als er noch viel Geld verdiente, einen vorzüglichen Weinkeller und sogar eine versilberte Jugendstil-Karaffe in die Arbeitslosigkeit hinüber gerettet; man kann also schon mal ein Gläschen mit trinken.)

Dikigoros dagegen ist militanter Nichtraucher. Ja, und nicht-toleranter noch dazu, denn "tollere" heißt ertragen, und er findet rauchen unerträglich, denn es schädigt auch und vor allem die Mitmenschen, erstens durch die Belastung der von allen - auch den Nichtrauchern - finanzierten Krankenversicherung, aus der die Behandlung von Lungenkrebsen und Raucherbeinen mit bezahlt wird, und zweitens durch das so genannte Passiv-Rauchen, das im Ergebnis ebenso ungesund ist. Nikotin hält er für die schlimmste Droge unserer Zeit, zumal sie auch noch als Einstiegsdroge für weit schlimmere Sachen dienst - er hat jedenfalls noch von keinem Nichtraucher gehört, der nach irgendwelchen anderen Drogen süchtig geworden wäre. Und besonders ekelhaft findet er es, wenn Leute bei Aktivitäten, die eigentlich der Gesundheit dienen sollten, zum Glimmstengel greifen, etwa auf dem Sportplatz, in der Küche oder im Restaurant. Auf dem Sportplatz ist das kein Problem; in der Regel weist er den erstbesten Nikotinisten (das ist ohnehin meist ein Zuschauer, der sich verbotenerweise im Innenraum des Stadions aufhält, wo er nichts verloren hat) erst einmal höflich, dann noch einmal weniger höflich darauf hin, daß er ihm die Zigarette in Schnauze schlagen wird, wenn sie nicht sofort ausgemacht wird, verbunden mit einer kurzen Belehrung, daß er kranke Augen habe, für die das Eingequalmtwerden eine gefährliche Körperverletzung darstelle und daß er diesen unmittelbaren Angriff auf seine Gesundheit unverzüglich in Notwehr abwehren müsse, und wenn auch das nichts hilft und etwa dumme Sprüche kommen der Art, was er denn dann auf dem Sportplatz mache, wenn er krank sei solle er doch nach Hause gehen und sich ins Bett legen, tut er was er angekündet hat - danach pflegen alle anderen Glimmstengel in Sichtweite unverzüglich zu verschwinden, meist mitsamt ihrer Träger, und das ist auch gut so. In seiner Küche wird ohnehin nicht geraucht, denn Frau Dikigoros ist ebenso militante Nichtraucherin wie alle ihre Freunde und Bekannten; und Restaurants, die, wenn schon nicht für Nikotinisten gesperrt, nicht zumindest Raucher- und Nichtraucher-Zonen haben, suchen sie nicht auf, da kochen sie lieber selber.

Dagegen hat die Schwägerin sich noch nicht so recht daran gewöhnt, wieder selber zu kochen; und da die lieben, verständnisvollen Tanten und Verwandten das wissen, haben sie allesamt großzügig die Reste ihres Weihnachts-Essens mitgebracht (außer Frau Dikigoros - das hätte Gutfriß nicht zugelassen) und in der Küche abgeladen. Der einzige Mann, der sich in diesen chaotischen Raum hinein wagt, ist Dikigoros, der Hobby-Koch. Er verachtet Frauen, die nicht kochen können und weiß, daß die Schwägerin zu dieser traurigen Species gehört. Er hat Cornelias letzten runden Geburtstag noch gut - vielmehr schlecht - in Erinnerung, der noch separat vom Weihnachtsfest gefeiert wurde, "in Saus und Braus". Darunter verstand sie die Einladung in ein teures Restaurant, dessen Küchenchef fast ebenso unfähig war wie sie selber, und fand es auch noch ganz famos... Der Schwippschwager brachte einen Toast nach dem anderen auf seine Frau und sich selber aus - das ist ihm gründlich vergangen. Zurück zur Küche. Was haben wir denn nun mehr oder weniger Schönes da: zwei kalte Pfannkuchen von Tante Schiefnase, fünf halbe Entenbrüste, von Schwiegermutter auf dem Weihnachtsmarkt im Dutzend billiger erstanden, einen Rest Rindfleisch (das ißt Dikigoros sowieso nicht - aber das ist eine andere Geschichte), eine Schüssel kalten Reis unbekannter Herkunft, ein paar Kirschen, zwei Orangen, eine Paprika-Schote, Tomaten, eine Dose Pilze und einen Berg Kartoffeln - den hat die Schwägerin selber beigesteuert. Wo stehen denn in diesem Haushalt die Gewürze? Dikigoros schaut sich fragend um. Auf dem Küchenschrank sieht es aus wie im Tal der Puppen: Die Schwägerin - ein kleines, hysterisches Nervenbündel mit notorischem Untergewicht - schluckt regelmäßig rote, blaue, grüne, gelbe und weiße Pillen, gegen Streß, Ärger, zu hohen Blutdruck, Kopfschmerzen, Schlaf- und Appetitlosigkeit. Gegen letzteres wüßte Dikigoros schon ein Mittel: besser kochen! Aber das wird die Schwägerin auf ihre alten Tage wohl nicht mehr lernen. Sie schüttet reichlich Gelbwurz (das ist jenes Gewürz, das die Deutschen "Curry" schreiben und für Karhi halten, dabei ist es bloß Curcuma - eine Art Ingwer 2. Klasse) über die Reste und ernennt sie großzügig zu einem "indischen" Gericht. Die Pfannkuchen werden aufgebacken, die Tomaten mit Mozzarella garniert (inzwischen ist auch Tante Julia angekommen und hat welchen mitgebracht), die Entenbrüste werden kalt serviert, die Kartoffeln sind zerkocht und der Reis leicht angebrannt, aber alles in allem ist es ein für die Verhältnisse der Schwägerin durchaus gelungenes Mahl.

Tante Schiefnase hat zwei Dackel mitgebracht, die draußen im Schneeregen Nachbars Huhn jagen, das mal wieder über die Hecke in den Garten geflattert ist, wo früher die kleine Segelyacht stand, auf dem Anhänger mit dem dicken Auto davor, mit der die ganze Sippschaft fast einmal ertrunken wäre, am Kap Bagur, an der Costa Brava Kataloniens. Das hindert sie nicht, ausgerechnet dorthin auswandern zu wollen, wo bereits eine Studienfreundin der Schwägerin wohnt, der es dort sooo gut gefällt. Zum Glück weiß außer Dikigoros und seiner Frau (die eine Zeit lang in Spanien gelebt und gearbeitet hat) niemand so genau, wo das liegt, geschweige denn mehr, daher stößt seine Frage, ob es dort noch so schöne Tapas gebe wie früher, nur auf Unverständnis und Unwissenheit - es gibt halt Leute, die in einem Land nicht auf diejenigen Dingen achten, die das Leben wirklich lebenswert machen, wie gutes Essen, sondern bloß auf die vermeintlich niedrigen Lebenshaltungskosten. Der Gedanke, daß auch die erst mal finanziert werden müssen, scheint ihnen noch nicht gekommen zu sein. Frau Dikigoros' Schwester und Schwager haben (genau wie Dikigoros' Schwester und Schwager) in den fetten Jahren nie daran gedacht, auch nur einen Pfennig beiseite zu legen, sondern das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus geworfen. Dikigoros fragt sich wofür - wahrscheinlich haben sie in all den Jahren kein einziges Mal auch nur ordentlich zu Mittag gegessen. Von der Welt gesehen haben sie auch nichts: Die Schwägerin ist Englisch-Lehrerin (oder, wie Dikigoros boshaft zu sagen pflegt, Lübke-Englisch-Lehrerin), war aber noch nie in England, geschweige denn sonst irgendwo, wo sie etwas anderes hätte sprechen oder verstehen müssen als Deutsch. Der Schwippschwager hat gerade ein lukratives Angebot sausen lassen müssen, weil der Arbeitgeber "fließend Spanisch" verlangte - und er kann gerade "buenos días", "vino tinto" (das hat er mal auf einem Etikett gelesen) und "hasta la vista" (und "quanta costa", aber das ist eigentlich kein Spanisch, sondern Lübke-Italienisch), seine Frau noch weniger. Und Katalanisch? Dikigoros fragt besser nicht, denn wahrscheinlich wissen die gar nicht, daß das etwas anderes ist als Kastilianisch - Spanisch ist Spanisch, so wie für die meisten Leute Chinesisch Chinesisch ist...

Exkurs. Nein, liebe Leser, das ist kein Einzelfall, das ist vielmehr die Regel. Es gibt tatsächlich Menschen, die einen Haufen Geld verdienen, aber noch keinen Tag Spaß an ihrem Job gehabt haben; viele haben schon ganz "abgeschaltet" und machen allenfalls noch "Dienst nach Vorschrift". (Nein, nicht nur Arbeiter, Angestellte oder Beamte, denen das so oft vorgeworfen wird; es gibt auch Selbständige, die nur noch auf ganz bestimmten Teil ihrer wertvollen Tätigkeit höchste Sorgfalt verwenden: das Schreiben der Rechnung!) Menschen, die noch nie im Leben wirklich gut, d.h. gesund, nahr- und schmackhaft, gegessen und getrunken haben, obwohl sie regelmäßig teure Restaurants besuchen, wo sie sich den Wanst voll schlagen und die Hucke voll saufen - oder aber Kurse, in denen sie eine qualvolle Hunger-Diät machen, nach der sie aussehen wie ein magersüchtiges Gerippe aus Haut und Knochen. (Zuhause übrigens auch nicht: Da essen sie zum Frühstück labberiges Weißbrot mit bunt gefärbter Marmelade aus der Chemiefabrik, mittags und abends aufgewärmter Fertig-Fraß aus der Blechdose (wie hieß früher der Werbe-Slogan für Hundefutter? "Ein Prachtkerl dank Chappy!" - so sind nun auch die Menschen auf den Hund gekommen) oder Formfleisch bzw. anderes Fast-food aus der Mikrowelle, zwischendurch fettige Pommes oder anderes Junk-food, und beim Fernsehen zuckerige "Snacks"; dazu trinken sie Instant-Kaffee, Teebeutel-Aufguß oder Schnaps aus Industrie-Alkohol mit künstlichen Aromastoffen; sie haben noch nie einen richtig guten, echten Tee getrunken oder auch nur eine Scheibe ordentliches Vollkornbrot oder sonst etwas Hochwertiges gegessen.) Menschen, die sich ob ihrer "Bildung" etwas ein-bilden, aber beim Anblick einer echten Kuh oder eines echten Fisches wundern, daß erstere nicht lila ist und der letztere nicht paniert und als rechteckiges Stäbchen im Meer schwimmt wie bei Käpt'n Iglu. Menschen, die um die halbe Welt gejettet sind und glauben, sie "gesehen" zu haben, die aber noch nie einen wirklich interessanten Urlaub an einem Ort verbracht haben, wo es mehr gibt als Wasser, Sand und Steine (oder Beton - früher pflegte Dikigoros hier "und Holz" zu schreiben, aber die Bäume sind ja meist abgeholzt), die in den "besten" Hotels übernachtet, aber noch nie eine Nacht wirklich gut geschlafen haben, trotz reichlich Tabletten. (Zuhause übrigens auch nicht: Obwohl wir ein Viertel bis ein Drittel unseres Lebens im Bett verbringen, gibt es Menschen, die sich zwar ein prunkvolles Bett leisten, aber keine ordentliche Matratze haben; die teure und modische, aber unpraktische und unbequeme Klamotten tragen - vor allem Schuhe, die zu vorne zu spitz, in der Mitte zu eng und hinten zu hochhackig sind; merke: nur grüne Abgeordnete und Proleten laufen in gesunden Turnschuhen herum! - und sich dann über eine kaputte Wirbelsäule wundern.) Menschen, die regelmäßig auf "Parties" u.ä. Veranstaltungen gehen, aber noch nie einen netten Abend mit wirklich guten Freunden verbracht haben, auf dem es nicht nur darum geht, sich zu besaufen, einander etwas vorzuprotzen oder über gemeinsame Bekannte herzuziehen. Menschen, die Viagra schlucken und sich im SM-Studio auspeitschen lassen, um noch einen hoch zu bekommen, aber noch nie richtig guten, normalen Sex hatten. (Aber was heißt schon heutzutage noch "normal"? Wenn man den Regierenden Bürgermeistern von Berlin und Hamburg glauben darf, dann ist es ganz "normal", schwul zu sein, "und das ist auch gut so" :-) Menschen, die sich von morgens bis abends von allerlei Geräusch- und [Des-]Informationsquellen berieseln lassen, aber noch nie ein gutes Buch gelesen - geschweige denn selber geschrieben - oder ein gutes Stück Musik gehört - geschweige denn selber musiziert - haben. Menschen, die im Fernsehen den hochgezüchteten und mit Dope voll gedröhnten "Sportlern" zuschauen, vielleicht auch selber in die Mucki-Bude gehen, um sich einen dicken Bizeps anzutrainieren, aber selber noch nie ein paar Kilometer auf dem Sportplatz - oder im Wald oder am Strand - gelaufen sind, sondern selbst zum nächsten Briefkasten um die Ecke mit dem Auto fahren. (Jawohl, Dikigoros sieht sie jeden Abend vorfahren, wenn er die Post weg bringt!) Menschen, die sich dann wundern, wenn sie früher oder später, mit Fettbauch, Säuferleber oder Raucherbein, geschlaucht und gefrustet, beim Arzt und/oder Psychoklempner landen und daß die Sozialkassen das allmählich nicht mehr verkraften können (aber dazu kommen wir gleich). Menschen, die unter ihrer Schminke abgrundtief häßlich sind, obwohl sie alle Schönheitswässerchen und Beauty-Farmen der Welt zur Verfügung haben (und notfalls auch die Schönheits-Chirurgen, die ihnen die Nase richten, das Fett absaugen, die Tränensäcke liften und den Busen mit Silikon füllen), weil sie das Lächeln völlig verlernt und nur noch den "bösen Blick" drauf haben, voll Unzufriedenheit, Neid und Mißgunst, mit der permanenten Bügel-, pardon Zornesfalte auf der Stirn und den mürrisch herabhängenden Mundwinkeln. Glaubt Ihr wirklich, liebe Bewohner der "zivilisierten" Länder, daß Ihr im Schnitt besser, gesünder und glücklicher lebt als die "Armen" in der Dritten Welt, die Ihr so herablassend bemitleidet? Habt Ihr Euch schon mal die Frage gestellt, was "Lebensqualität" ausmacht? Nein, der Grund dafür ist weder Zeit- noch Geldmangel; es ist Bequemlichkeit - und Dummheit. Exkurs Ende.

"Wovon wollt Ihr denn dort leben?" fragt eine der Tanten beiläufig. "Ich lasse mich berufsunfähig schreiben und gehe vorzeitig in Pension," meint Cornelia, "die Kinder sind ja aus'm Haus." Schön wär's, wenn die "aus'm Haus" wären. Tatsächlich kommen sie gerade nach Hause. (Warum hätten sie früher kommen sollen? Tante Bettina, die älteste Schwester ihres Vaters - eine unverheiratete alte Rechtsanwältin, mit anderen Worten: die Erbtante in spe - hat die Einladung nicht angenommen, sondern Arbeit vorgeschützt; bei den anderen ist eh nichts zu holen als ein paar Scheine zu Weihnachten, und die bekommen sie ja sowieso geschenkt.) Der Sohn, Michael, entschuldigt sich damit, daß die Bahn im Schnee stecken geblieben sei (er jobbt bei einer Computerfirma in Süddeutschland). Die Tochter, Michaela (nein, die beiden sind keine Zwillinge!), gibt sich nicht mal die Mühe einer Entschuldigung. Was gibt es da auch zu entschuldigen? "Sie hat die ganze Nacht hart gearbeitet," sagt ihre Mutter zur Rechtfertigung, "ihr Chef hat sie auf eigenen Wunsch auch über die Feiertage eingeteilt, da sind die Trinkgelder am höchsten." Cornelia ist die einzige in der Familie, die noch glaubt (oder wenigstens so tut als ob), daß ihre Tochter - die von Beruf offiziell Schülerin ist, aber das Abitur noch nicht gepackt hat - nachts in einer harmlosen Bierkneipe kellnert, daß sie davon ("die Stammkunden geben ihr für jedes Glas Bier 20 Mark Trinkgeld") das Auto, das Handy und die Klamotten finanziert, und daß die nächtlichen Verfolgungsjagden und Kämpfe zwischen türkischen Zuhälterbanden, in die sie verwickelt wird, reiner Zufall sind: "Es wird hier halt immer gefährlicher, abends auf die Straße zu gehen, besonders für hübsche, blonde Mädchen. Daran sind nur die Scheiß-Ausländer schuld!"

Michaela sieht leidlich aus; sie weiß, daß sie daraus Geld schlagen muß, solange sie jung ist; das Abi kann sie immer noch nachholen, wenn sie alt und häßlich ist... Überhaupt sind sie und ihr Bruder längst zu der Überzeugung gelangt, daß sich ein höherer Schulabschluß und ein Studium nicht auszahlen, weder bildungs- noch ausbildungsmäßig: Michael verdient mehr als sein arbeitsloser Vater, denn die am weitesten verbreiteten Software-Programme sind so schlecht, daß sie ständig abstürzen und neu installiert werden müssen, und das kann er auch ohne Studium, besser als jeder EDV-Ingenieur (denn so etwas lernt man nicht an der Uni), und wenn das schnell und zuverlässig gemacht werden muß, dann lassen sich die Auftraggeber das auch etwas mehr kosten. Michaela verdient in einer guten Nachtschicht - sie arbeitet im exclusivsten Etablissement des Ruhrpotts - mehr als ihre Mutter im ganzen Monat als Gymnasial-Lehrerin, auch wenn sie in Englisch und Mathe "mangelhaft" hat; sie kann nämlich ausgezeichnet Französisch, und um ihren Lohn zusammen zu zählen braucht sie keine höhere Algebra. Aber das kann sie natürlich den lieben Verwandten nicht auf die Nase binden - die müssen sich weiterhin treusorgend die Köpfe über ihre Zukunft zerbrechen. "Wie wäre es denn, wenn du heiratest?" fragt Onkel Otto. (Nein, auch den Namen hat Dikigoros nicht erfunden; in der Generation - es ist eigentlich der Großonkel - hießen die Leute noch so!) Onkel Otto ist ein guter Mensch (nein, kein Gutmensch - das ist etwas anderes!), und Frau Dikigoros deutet so etwas gegenüber ihrer Schwester an. "Es ist leicht, ein guter Mensch zu sein," gibt die bitter zurück, "wenn es einem selber gut geht. Wenn ich reich bin, kann ich auch großzügig sein; aber so wie es im Moment aussieht..."

Michaela steckt sich einen Glimmstengel ins Gesicht und lacht höhnisch: "Ha, ich werde mir doch nicht so einen Spasti ans Bein binden, dem ich die schmutzigen Unterhosen waschen und die löchrigen Socken stopfen muß." - "Onkel Otto meint natürlich einen reichen Mann," ergänzt Dikigoros, "bei dem du das nicht nötig hast." - "Dafür muß man doch nicht reich sein," wirft Frau Dikigoros ein, "ich kaufe Niko immer die billigsten Socken, ein Dutzend Paare für 10 Mark, und wenn er sie ein paar Tage getragen hat, werden sie weg geworfen, dafür kann ich sie doch nicht in die Waschmaschine stecken, bei den Strompreisen!" - "Am besten heiratet man überhaupt nicht, sondern bleibt alleine" sagt Michaelas Mutter mit einem bösen Blick auf den mittlerweile schon ziemlich angeheiterten Schwippschwager, der mit dem schwerhörigen Schwiegervater lautstark Soldatenwitze austauscht, "dann erspart man sich als Frau eine Menge Ärger." Dikigoros schaut seine Frau an, die einen richtigen Schrecken bekommen hat. Jahre, nein Jahrzehnte lang hat ihre Schwester ihr erfolgreich vorgespielt, wie perfekt und glücklich ihre Ehe sei - nun hat sie sich zum ersten Mal verplappert (der Wein ist wirklich gut, stellt Dikigoros fest). "Wie oft hast du mir gesagt, du hättest lieber deinen Schwager heiraten sollen, weil der handwerklich so geschickt ist und alles im Haushalt reparieren kann?" fragt er auf Französisch (seine Frau ist Französisch-Lehrerin, sonst versteht das niemand im Raum). "Das glaubst du doch selber nicht, ich kann den Kerl nicht ausstehen." Ja, so wankelmütig sind die Weiber... Dabei kann man dem Schwippschwager auf den ersten Blick ein gewisses handwerkliches Geschick durchaus nicht absprechen: Er kann Stühle leimen (aber hat nicht auch Dikigoros kürzlich den Schreibtisch-Sessel seiner Frau repariert?) und hat dem Schwiegervater gerade einen langen Vortrag darüber gehalten, wie man am besten und sparsamsten (schau mal an, denkt Dikigoros, Gert lernt auf seine alten Tage noch Fremdwörter!) den Kachelofen beheizt. Auf den zweiten Blick kommt indes heraus (allerdings erst bei den Abendnachrichten), daß er nicht mal die Fernseh-Antenne richtig einstellen kann...

Neffe Ulf (auch er ist kein "echter" Neffe, sondern nur der Sohn eines Vetters soundsovielten Grades) betrachtet den Haufen der alten Knacker und Tucken mit stummer Verachtung: Er raucht nicht und trinkt keinen Alkohol, studiert brav vor sich hin und hat im Gegensatz zu seiner Cousine die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß sich das irgendwann einmal auszahlen wird. Er trinkt tapfer Coca Cola - in diesem Scheiß-Haushalt gibt es ja nicht mal Milch! Er ist eigentlich ein netter junger Mann, schade, daß Dikigoros so gar keinen Draht zu ihm findet; er sieht ihn wohl zu selten, und auch der Altersunterschied ist etwas, das Dikigoros zu unterschätzen neigt. (Er könnte dem Neffen zwar seit ein, zwei Jahren auf dem Sportplatz nicht mehr davon laufen, aber er fühlt sich immer noch "jung im Herzen".) Doch die jungen Leute leben heutzutage in einer anderen Welt als die älteren; und die Orte, an denen sich ihre Lebenskreise überschneiden (von "Begegnung" zu sprechen, wäre schon gewagt) sind auch nicht unbedingt dazu angetan, gegenseitiges Verständnis zu fördern. "Ich hab's aufgegeben, Kinder erziehen zu wollen," seufzt die Schwägerin, "das klappt ja doch nicht, weder in der Schule noch zuhause." Dikigoros schaut hinüber zu seinem Schwiegervater, der Michaela Geschichten aus seinem Leben erzählt. Sie hört ihrem Großvater mit kühl-gelangweiltem, aber geschäftsmäßig-höflichem Blick zu. Wie eine routinierte Bardame einem lästigen alten Freier, der ihr die Ohren voll labert, denkt Dikigoros und sieht, wie sich die Augen seiner Frau mit Tränen füllen - sie denkt im Moment genau das gleiche (sie denken immer das gleiche, auch wenn sie es in diesem Fall nicht aussprechen). "Hör doch auf mit den ollen Kamellen, das interessiert doch niemanden mehr," sagt die Schwiegermutter zu ihrem Mann - auch die hat es also bemerkt. "Aber er merkt es nicht mehr," meint Frau Dikigoros später, "und das ist vielleicht auch gut so - wo er seine Enkelin doch so liebt."

Am nächsten Morgen frühstücken sie im Hotel, bedient von einer spindeldürren Küchenmamsell auf Streichholzbeinchen. Dabei ist das Buffet eher zu üppig als zu mager - aber wer will schon zum Frühstück rohes Tartar? Nicht mal Frau Dikigoros... "Wir könnten es vielleicht Gutfriß mitbringen," schlägt Dikigoros vor. "Nein, das wäre ganz ungesund für ihn, außerdem hat er noch genug Puter." Onkel Otto schafft es, den gläsernen Kerzenhalter zu zerbrechen; Tante Julia verbrennt sich die Finger am stählernen Rührei-Behälter (oder sagt man dazu jetzt auch schon auf Neudeutsch "Container"?), Tante Schiefnase ist bereits abgereist (angeblich erwartet sie am Abend ihre drei Kinder mit deren Familien zu Besuch - Dikigoros und Frau sind froh, nicht eingeladen zu sein und fragen lieber nicht nach), und Ulf labt sich an Milch und Brötchen mit Nutella. Nachdem sie alle satt sind, schauen sie noch einmal bei der Schwägerin herein, um sich zu verabschieden. Michael sitzt grummelnd am Tisch und muffelt das letzte Laugenbrötchen (wo mag das her gekommen sein?), Michaela scheint keine "Nachtschicht" gehabt zu haben (sicher ein empfindlicher Verdienstausfall) und ist entsprechend mißmutig. "Mehr habe ich nicht da, ich kann erst nachher einkaufen gehen," sagt Cornelia, schon wieder am Rande der Hysterie, während Gert gerade vom Sessel rollt - er hat seinen Rausch also glücklich ausgeschlafen. Dikigoros drängt auf Abreise - schließlich müssen sie sich noch ein wenig erholen, bevor es zum nächsten Besuch bei seiner eigenen Schwester geht - und will dem Schwippschwager durch die noch immer schneidend dicke Luft, genauer gesagt durch das Sauerstoff-Zigarettenqualm-Alkoholfahnen-Gemisch einen Abschiedsgruß zuwinken. Aber dem Schwiegervater ist aufgefallen, daß sich Dikigoros von allen anderen per Handschlag verabschiedet hat, nur von Gert nicht, und er drängt ihn, das nachzuholen, einmal, zweimal, dreimal, dann tut ihm Dikigoros schließlich den Gefallen. Nicht, daß es dem Schwippschwager groß aufgefallen wäre, wenn nicht - und wenn doch, wäre es ihm auch ziemlich schnuppe -, aber das schlimme ist, daß der Schwiegervater so etwas noch merkt. Er ist eben doch noch nicht ganz so vertattert, wie seine Tochter glaubt (und für ihn hofft), und wahrscheinlich hat er auch ganz genau mit bekommen, was mit seiner vermeintlich so braven, wohl behüteten Enkelin Michaela los ist. Aber Dikigoros sagt seiner Frau nichts davon - für sie war diese Reise auch so schon deprimierend genug.

Zweiter Weihnachtstag, etwas weiter rheinaufwärts. Duplizität der Ereignisse. Helli, Dikigoros' kleine Schwester, eine grüne Witwe (na ja, weniger grün als Witwe, aber alles ist bekanntlich relativ), sitzt auf gepackten Koffern. Für sie ist es zwar nicht zugleich eine Geburtstags-, aber eine Abschiedsparty. Auch sie will auswandern. Nicht nach Katalonien, sondern nach Barbados. Die Familie weiß es schon seit einigen Monaten, aber niemand hat es ernst genommen. Barbados? Ist das nicht so eine komische Neger-Insel in der Karibik? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein! Die Mutter ist aus allen Wolken und ihrem Sohn weinend um den Hals gefallen: "Wo ich doch immer alles für Euch getan habe, und nun, da ich alt und gebrechlich bin, verläßt sie mich!" Dikigoros' Mutter konnte es noch nie verwinden, wenn eines ihrer Kinder allzu lange allzu weit entfernt von ihr lebte, auch als sie längst erwachsen waren - er erinnert sich noch dunkel an seine erste Zeit in den USA. Und nun, da sie nicht mehr die jüngste und auch nicht mehr die gesündeste ist, würde ihr das den Rest geben. "Du mußt etwas tun," sagt Frau Dikigoros zu ihrem Mann, "schließlich ist sie deine Schwester." - "Könntest du nicht mal mit ihr reden, von Frau zu Frau?" - "Auf mich hört sie nicht, mich nimmt sie nicht ernst, ich war noch nie in Barbados." - "Ich auch nicht." Schöne Aussichten. "Und was sagt ihr neuer Freund dazu?" - "Der will mit gehen." - "Na, den komischen Vogel müssen wir uns mal ansehen. Kommt der auch?" - "Natürlich." So lernen sie Tom kennen, einen netten jungen Mann (einige Jahre jünger als Helli, aber das stört die gar nicht), der früher beim FC St. Pauli Fußball gespielt hat, in der schlechten alten Zeit, als man bis in die Regionalliga abgestiegen war; aber er und seine Mitspieler waren halt nicht besser, und für teure Neuverpflichtungen fehlte das Geld. Also suchte er sich einen anderen Job; aber nun steht sein Arbeitgeber kurz vor der Pleite, wie er freimütig einräumt, und er würde gerne als Hausmann mit auf die Antillen gehen - dort soll doch das Wetter immer so schön sein (er selber war auch noch nie dort); und wer weiß, vielleicht kann er ja dort noch einmal die Fußballstiefel schnüren und seinen Lebenstraum verwirklichen - in Deutschland ist der Zug für ihn mit Mitte 30 endgültig abgefahren. "Und den Typen willste dir wirklich ans Bein binden?" fragt Dikigoros seine Schwester in einer stillen Minute. "Na und? Ich mache einen Ehevertrag, der alles ausschließt (Helli ist wie ihr Bruder Anwalt), und wenn er mir lästig wird, lasse ich mich eben wieder scheiden."

Dikigoros sagt nichts, vor allem nicht, daß sie als Hauptinhaberin eines Einwanderungs-Visums vom Sozialamt des Aufnahmestaates für jeden in Regreß genommen werden kann, der als Familien-Angehöriger auf diesem Visum mit einreist, ungeachtet etwaiger Abmachungen zwischen den Parteien selber - das müßte sie als Juristin selber wissen, es sei denn, sie wollte es nicht wissen, und dann ist ihr eh nicht zu helfen. "Wie ist sie überhaupt an das Einwanderungs-Visum gekommen?" fragt Dikigoros seine Mutter. "So genau weiß ich das selber nicht, sie hat da wohl so eine zwielichtige Type kennen gelernt..." - "Doch wohl keinen Frauenhändler, über das Alter dürfte sie hinaus sein." - "Nein, einen verkrachten Anwalt, der ihr seine Kanzlei verkaufen will und dem sie dann die Altersversorgung zahlen soll." - "Die bekommt doch dort gar keine Zulassung, da gilt englisches Recht, von dem sie überhaupt keine Ahnung hat, wie will sie denn die Kanzlei führen?" - "Er hat ihr eingeredet, sie könnte dort einen Kraschkurs machen und damit das Examen schaffen." (Dikigoros' Mutter spricht Fremdwörter immer ungeniert so aus, wie sie sich schreiben, sie sagt auch nicht "Ímäjl", sondern "Emáil" und "Tee-Móbile" - das Mobile wurde anno 1932 erfunden, als sie selber noch ein Kind war, und warum sollte es nicht aus ein paar Teekannen oder -tassen aus Papierschnipseln bestehen? "Wieso Timo Beil? Das ist doch der Michel Häckienen!") "Die wird nicht mal zur Prüfung zugelassen," unkt Dikigoros, "die Zeiten sind längst vorbei, daß da jeder kommen konnte." - "Jedenfalls hat er ihr das Visum besorgt und die Arbeitserlaubnis, und das ist für sie die Eintrittskarte ins Paradies." - "Schönes Paradies," meint Dikigoros, "und was kostet diese Eintrittskarte?" - "Ja, was riskiert sie eigentlich?" fragt Frau Dikigoros. "Sie meint nichts," sagt die Mutter, "aber..." - "Eine Sozietät mit einem Pleitegeier und Übernahme von dessen Schulden?" mutmaßt Dikigoros. "Selbst wenn nicht," fährt die Mutter fort, "sie verliert ja hier in Deutschland einiges. Sie muß ihre Kanzlei dicht machen..." - "Die läuft doch eh nicht mehr," unterbricht sie Dikigoros erneut, "seit Dr. Schnitzel, äh, Schinzel das Zeitliche gesegnet hat..." - "Aber zusammen mit der Witwenrente hätte es gereicht um zu leben," sagt die Mutter, "und die verliert sie auch, wenn sie wieder heiratet, und der Junge hat doch nichts und wird dort auch nichts verdienen. Oder soll er etwa Kokosnüsse pflücken?" - "Nichtmal dafür bekäme er eine Arbeitserlaubnis," meint Dikigoros trocken, geschweige denn als Profi-Fußballer.

Die anderen Gäste kommen, all die alten Jungfern und sonstigen übrig Gebliebenen, die das Weihnachtsfest nicht bei einer eigenen Familie feiern können und sich deshalb hier zusammen finden: Moni, Hellis Freundin seit Kindergarten-Zeiten, Pony Hütchen (Dikigoros nennt sie so, weil sie ihn so an die gleichnamige Figur von Erich Kästner erinnert, ihren richtigen Namen kann er sich nicht merken), Redakteurin einer Frauen-Zeitschrift und Junggesellin, Ilse, verkrachte Jura-Studentin und geschiedene Arztgattin a.D., und - last but not least - Tante Inge aus dem fernen Wien, die das ewige Leben gepachtet zu haben scheint. Sie, die selber ihren ersten Mann im Krieg verloren hat und vom zweiten geschieden ist, weiß um das Haupt-Problem der Wiederverheiratung: den Verlust der Witwenrente aus erster Ehe und die Schwierigkeit, sie nach der Scheidung wieder aufleben zu lassen, und bringt das Gespräch ungeniert auf diesen Punkt: "Du bist doch bald 45, dann bekämst du die große Witwenrente." - "Gibt's auch die kleine?" fragt Pony kichernd. "Natürlich," meint Helli süß-sauer, "aber von der kannste nicht leben und nicht sterben, weil sie nicht mal die Beerdigungskosten deckt." Das mag schon sein, denkt Dikigoros, aber eigentlich dürfte es die so genannte "kleine Witwenrente" überhaupt nicht geben, und auch die "große" nur im Falle der Bedürftigkeit. (Die ja ohnehin mehr als großzügig definiert wird in diesem unserem Lande - kein Wunder, daß Sozialschmarotzer aus aller Welt Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um unter Vorspiegelung politischer Verfolgung oder anderer dreister Lügen ins Schlaraffenland BRD zu kommen und ihre zurück gebliebenen Verwandten von den unverbrauchten Überschüssen der überhöhten Sozialhilfeleistungen in bar, die sie erschlichen haben, und diverser anderer krimineller Aktivitäten, deren Erträge sie in die Heimat überweisen, für dortige Begriffe zu Millionären machen - und ihre hoch bezahlten Schlepper natürlich auch.) Wofür war die Witwenrente denn ursprünglich mal gedacht? Eine Frau, die von Beruf Hausfrau und Mutter war und der der Mann weg starb, sollte nicht an den Bettelstab gebracht werden, sie sollte auch nicht gezwungen werden, gleich wieder einen anderen Mann zu heiraten, das war gut und richtig so. Aber in Hellis Fall... Sie ist weder Hausfrau noch Mutter, sondern voll berufstätig als selbständige Rechtsanwältin - wenn sie damit auf keinen grünen Zweig kommt und "bedürftig" im Sinne des Gesetzes ist, dann soll sie gefälligst zum Sozialamt gehen, aber nicht die Rentenkasse belasten. Und warum soll sie mit 45 gar die "große" Witwenrente bekommen, auch wenn sie keine Kinder hat? Weil die Heiratschancen einer Frau in diesem Alter für gewöhnlich rapide sinken? Das kann man doch so allgemein gar nicht sagen - Helli ist selber das beste Gegenbeispiel: Groß und vollbusig, voller Saft und Kraft hat sie ja sogar noch einen jüngeren Mann gefunden für die Wiederheirat.

Und sie hat auch einen Weg gefunden, wie sie die Sozialkassen ein letztes Mal plündern kann: "Anspruch auf die große Witwenrente habe ich nur, wenn ich bedürftig bin. Das nimmt mir die BfA aber nicht so ohne weiteres ab, die schicken mir in ihrem Mißtrauen nur noch die Steuerfahndung auf den Hals. Bevor ich mich da also lange herum streite, habe ich einen Vergleich geschlossen: Die zahlen mir eine Abfindung, fünfstellig, und ich verzichte dafür auf jegliche Ansprüche. Und anschließend heirate ich wieder." Tom grinst - ist das nicht genial, was seine künftige Frau da ausbaldowert hat? "Und was ist," fragt Frau Dikigoros leise ihren Mann, "wenn die Ehe scheitert, sie aus Barbados zurück kommt und hier wirklich beruflich und einkommensmäßig vor dem Nichts steht? Lebt der Rentenanspruch dann nach der Scheidung wieder auf?" - "Das ist ja gerade das Problem," knurrt der, "nach dem Vergleich natürlich nicht, das hat der Sachbearbeiter bei der BfA auch ganz richtig gesehen; aber uns kanns egal sein, wir sind ihr ja nicht zum Unterhalt verpflichtet."

[Silvesterparty]

Silvester, 31. Dezember, neben dem Karneval (der ja nicht überall gefeiert wird) der legitime Erbe der alten römischen Saturnalien. Aber der wesentliche Unterschied liegt darin, daß man am Ende des alten Jahres gute Vorsätze für das neue Jahr faßt - so auch Frau Dikigoros. Sie hat sich vorgenommen, die letzten aus ihrem Bekanntenkreis, die noch - oder wieder - solo sind, miteinander zu verkuppeln: "Das ganz Jahr haben wir mit Pärchen und Familien gefeiert, mir langt's," sagt sie. Ihrem Mann langt es auch; aber er bezweifelt, daß dieses Unternehmen Erfolg haben wird: "Die sind doch alle mehr oder weniger in unserem Alter und überhaupt nicht mehr fähig, zu heiraten." - "Im Gegenteil, jetzt haben sie lange genug gesehen, welche Nachteile es hat, alleine zu sein, die Kinde sind aus dem Haus, neue werden sie nicht mehr bekommen, es gibt also viel weniger Reibungspunkte..." Also laden sie Hans und Herta, Reiner und Renate ein. Tja, was soll man zu denen sagen? Hans hatte mal ein eigenes Restaurant; aber dann bot man ihm die Stelle des Chef de Cuisine in einem großen Bonner Hotel an - damals, als es noch Hauptstadt war, als es den teuren Hotels richtig gut ging und jeder davon ausging, daß das immer so bleiben würde. Dann lief Hans die Frau davon - und er hatte das Pech, daß er Dikigoros damals noch nicht kannte. Der hätte ihm nämlich geraten, mit Zähnen und Klauen darum zu kämpfen, wenigstens eines der beiden Kinder - die ohnehin viel mehr an ihm als an der Mutter hingen - zu behalten; dann hätte die Frau sehen können, wie sie sich selber alimentierte. So aber bekam sie beide Kinder, und sein Anwalt riet ihm, die Notbremse zu ziehen, um nicht den Rest seines Lebens für andere zu schuften: Er ließ sich kündigen - die Mauer war inzwischen gefallen, und in Bonn gingen langsam aber sicher die Lichter aus, allen voran im Gaststättengewerbe -, ging stempeln und beschränkte seine beruflichen Aktivitäten künftig darauf, schwarz ein paar Mark hinzu zu verdienen. Seine geschiedene Frau tat ein gleiches, und so waren einmal mehr aus einem Steuern zahlenden Normalbürger mit Familie vier Sozialhilfeempfänger geworden, die der Allgemeinheit auf der Tasche lagen und liegen. "Wenn das jeder täte," meint Frau Dikigoros, "wo kämen wir da hin?" - "Schuld sind die Scheiß-Gesetze," sagt ihr Mann, "die es den Frauen ermöglichen, sich jederzeit ohne Begründung scheiden zu lassen und sich dann für den Rest ihres Lebens auf die faule Haut zu legen. Wenn ein Mann dann aussteigt, ist das schlicht Notwehr." - "Aber jetzt sind die Kinder doch erwachsen, warum fängt er nicht wieder an?" - "Die Zeiten haben sich geändert; heute bekäme er nicht mal mehr einen Job als Tellerwäscher, geschweige denn als Koch, zumal nach so vielen Jahren, die er raus ist aus dem Beruf; und einen Kredit, um sich wieder selbständig zu machen, gibt ihm die Bank erst recht nicht."

Aber ob Herta da die richtige für ihn ist? Gewiß, sie ist ein lieber, verträglicher Mensch (das ist Hans auch), und sie stellt keine hohen Ansprüche. Woher auch - ihr Vater ist früh gestorben; die Mutter hat sie ins Internat gesteckt, wo sie immerhin Abitur gemacht hat; später hat sie sogar einen Universitätsabschluß geschafft, der freilich so schlecht war, daß sie keinen entsprechenden Job bekam. Also flüchtete sie in die Ehe, bekam ein Kind - und dann starb der Mann, unter Hinterlassung der Schulden für ein gerade gekauftes (und gleich anschließend mit hohem Verlust wieder verkauftes) Haus (sie hatten den Kredit nicht mit einer Lebensversicherung abgedeckt, wie das heute üblich ist), und Herta tat genau das Gegenteil von dem, was Hans tat: Sie ging nicht zum Sozialamt und hielt die Hand auf, sondern ins Büro als Tippse und arbeitete die Schulden ab. Jetzt ist ihr Sohn bei der Bundeswehr, und wenn sie ihn behalten, will er Berufssoldat werden - dann liegt er niemandem mehr auf der Tasche (außer dem Steuerzahler :-).

Reiner hatte es da viel leichter: Auch er hat studiert - sogar mehr als alle anderen zusammen, jedenfalls auf dem Papier, denn er ist immer eingeschrieben geblieben - wegen der billigen Krankenversicherung. Irgendwann so nach zehn Semestern hat er es zwar aufgegeben, Vorlesungen zu besuchen und angefangen zu jobben - erst bei einem Immobilienmakler, dann bei einer Versicherung -, aber auch dabei entwickelte er keinen krankhaften Ehrgeiz. Als seine Eltern - alt eingesessene Bonner - bei einem Bergurlaub in den Pyrenäen tödlich verunglückten und ihm zwei Häuser hinterließen, hängte er seinen Job sofort an den Nagel, vermietete das größere der beiden Häuser, richtete sich in dem anderen gemütlich ein und lebte - bescheiden, aber bequem - von den "Einkünften aus Vermietung und Verpachtung", wie das Finanzamt das nennt. Sehr zu seinem Ärger wurde er kurz vor Erreichung des 50. Semesters zwangsexmatrikuliert und so um dieses schöne Jubiläum gebracht, weil irgend so einem Armleuchter aufgefallen war, daß er schon seit über 20 Jahren keinen einzigen Schein mehr gemacht hatte und er es versäumt hatte, öfters mal pro forma das Studienfach zu wechseln. Zähneknirschend ging er zur AOK und versicherte sich dort - für mehr als das doppelte, wie er empört berichtete. Und vor Ärger wuchsen ihm richtig graue Haare, was wiederum dazu führte, daß man ihm in der Mensa kein Essen zum Studentenpreis mehr servieren wollte - und als Professor oder Assistent konnte er sich auch nicht ausweisen. Und das schlimmste von allem: Er verlor auch sein schönes Studententicket für Bus und Bahn, mit dem er Jahre lang jeden Tag kostenlos in der näheren und ferneren Umgebung spazieren gefahren war - es war im Semesterbeitrag enthalten und sparte ihm ein kostspieliges Auto. Seitdem kocht er grummelnd selber und könnte schon dafür gut eine Frau gebrauchen; und wenn die noch ein Auto und einen Führerschein mit in die Ehe brächte...

Renate hat zwar einen Führerschein, aber auch kein Auto. Ihre Eltern - sie wohnt mit Ende 40 immer noch bei Mammi und Pappi - finden nämlich, daß das viel zu gefährlich sei für ihr Töchterchen. Sie ist gleich an der Universität geblieben, nahtlos vom Hörsaal (einen Studienabschluß hat sie nie geschafft, genauer gesagt hat sie es nie versucht; denn sie hat Examensangst und sich nie zur Prüfung gemeldet) zur Uni-Bibliothek, wo sie als Hilfskraft jobbt, halbtags, an der Buchausgabe. Die Nachmittage verbringt sie Kaffee trinkend und fernsehend zusammen mit ihren Eltern. "Ist es nicht bezeichnend, daß alle lieben, netten Menschen, die wir kennen, beruflich und privat völlig gescheitert sind?" fragt Frau Dikigoros, "nur Ellbogenmenschen wie du bringen es zu etwas." - "Da mußt du mal fragen, was Ursache und was Wirkung ist; wenn ein Mann nicht einen Haufen Geld verdient, ist er offenbar für Frauen uninteressant; dabei könnte die Frau, die Reiner heiratet, ein wirklich schönes Leben haben." - "Na, aber Hans ist doch nur deshalb beruflich gescheitert, weil seine Ehe in die Brüche gegangen ist." - "Tja, offenbar gibt es beide Varianten. Wie bekommen wir die nun hier zusammen unter einen Hut, pardon, zwei Hauben?"

Das erste Problem löst sich von selber: Gerade als Dikigoros Herta eine Einladung mailen will, ruft sie an: "Hört mal, meine Mutter hat mich eingeladen, mit ihr im neuen Jahr Weihnachtsgeschenkeumtauschbummel zu machen; kann ich bei Euch übernachten?" - "Na klar, am besten kommste schon zwei Tage früher, dann können wir zusammen Silvester feiern." Das zweite Problem ist gar keines: Reiner war schon immer beleidigt, wenn man ihn nicht zu Silvester eingeladen hat - er stand meist als Mauerblümchen herum, zwischen all den Paaren, und war denkbar überflüssig; und so lechzt er danach, sich mal so richtig durchzufuttern, ohne selber kochen zu müssen. "Ich komme schon nachmittags, dann können wir ja noch etwas im Internet surfen." (Reiner ist vom Internet fasziniert, besonders wenn er auf Dikigoros' Kosten surfen kann; er selber besitzt nicht mal einen Computer. Aber er hat immer eine Liste mit interessanten Webseiten dabei, also läßt Dikigoros ihn gewähren; er hat Reiner sogar eine eigene Seite ins Internet gestellt, mit Heiratsannonce, was der noch nie bemerkt hat - die Heiratskandidatinnen freilich auch nicht.) Auch das Problem mit Hans löst sich von selber: Seine Kinder haben ihn schon zu Weihnachten besucht; Silvester feiern die lieber zusammen mit anderen jungen Leuten; also hat er eh nichts vor; er bietet sogar an, ihnen beim Kochen zu helfen; und da auch Frau Dikigoros nicht gerade eine begeisterte Köchin ist (wofür hat sie einen Mann? Damit der mit Reiner, diesem Nichtsnutz, im Internet herum surft?), ist ihr diese Hilfe sehr willkommen. Aber wie bekommen sie nun Renate von ihren Eltern los geeist?

(...)

Streit um die Kranken- und Rentenversicherung. Mit welchem Recht bekommen Arbeiter und Angestellte ihre Familienangehörigen in den AOKs und Ersatzkassen kostenlos mit versichert und die armen Beamten und privat Versicherten nicht? Und müßten die Kinderlosen nicht weniger Rente bekommen? Fragt Cousine Rita, die vier Kinder hat. "Aber nein," sagt Cousine Dora, die tragen doch nichts zum Volkseinkommen bei. Die so genannten Kinderlosen sind es doch, die diesen Staat über Wasser halten! Jens und ich gehen beide arbeiten, zahlen beide voll Steuern und Sozialabgaben, Versicherungen usw. - und dafür sollen wir auch noch bestraft werden? Wir leisten viel mehr, volkswirtschaftlich gesehen..." - "Volkswirtschaftlich gesehen," sagt Dikigoros gedehnt, "leistet Ihr überhaupt nichts Sinnvolles, denn das Bruttosozialprodukt, das Ihr erwirtschaftet, steht doch bloß auf dem Papier. Schaut mal, was Ihr konkret treibt. Ihr produziert Güter und Dienstleistungen, die objektiv betrachtet überflüssig sind und nur den Konsum anheizen. Welchen Sinn macht es, mit der Produktion von überflüssigem Schnickschnack mehr Geld zu verdienen und es genau für diesen Schnickschnack wieder auszugeben? Urlaub, Autos, Klamotten... Man kann Hemden und Hosen, Blusen und Jacken, Anzüge und Mäntel auch zwei Jahre lang tragen, nicht nur eine Saison, bloß weil es einem die Konsum-Terroristen jedes Jahr eine neue Modefarbe aufschwätzen wollen. Man kann ein Auto auch zehn Jahre fahren, wenn man es pfleglich behandelt, und braucht nicht alle fünf Jahre ein neues, schon gar nicht für jede Familie zwei oder mehr - es ist eh viel gesünder, auch mal zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Und man braucht nicht jedes Jahr zwei teure Luxus-Reisen mit dem Luxus-Flieger ins Luxus-Hotel..." - "Das mußt du gerade sagen." - "Meine Reisen sind keine Luxusreisen; ich lerne Länder und Leute kennen, und das relativ preiswert, ohne massenhaft Devisen ins Ausland zu exportierten; solche Reisen dienen der Völkerverständigung, von denen kann man gar nicht genug machen; ich spreche von Pauschal-Reisen ins Touristen-Ghetto, wo die Leute nur unter sich bleiben, hübsch isoliert von den Einheimischen, und von Würstchen mit Sauerkraut bis zum letzten alkoholischen Getränk alles von zuhause einfliegen lassen. A propos: Man muß auch nicht jede Woche zweimal auswärts Essen gehen, schon gar nicht jeden Tag Junkfood von der Imbißkette oder aus der Mikrowelle essen. Dieser ganze gestiegene Konsum führt doch in keiner Weise zu einer Verbesserung der Lebensqualität, im Gegenteil. Schaut Euch doch mal um: Die Leute sind fysisch und psychisch krank, ständig mißgelaunt, übermüdet, leiden an Fettbäuchen, Säuferlebern und Raucherbeinen; alles nur, weil sie von morgens bis abends auf Achse sind, vor allem die Frauen, die plötzlich Krankheiten entdecken, die früher nur gestreßte Männer bekommen haben. Und wofür das alles? Damit die Autos doppelt so schnell auf die Blechfriedhöfe wandern und die Möbel auf den Sperrmüll und die Klamotten in die Altkleidersammlung. Das soll volkswirtschaftlich sinnvoll sein? Volkswirtschaftlich sinnvoll sind Langzeitinvestitionen, und zwar nicht nur in Produktionsanlagen, sondern auch in Kinder, nicht in Wegwerfartikel, die nach ein paar Jahren ebenso sinnlos verbraucht worden sind wie man sie produziert hat. Wir sind ein armes Land - und allmählich werden wir das alle zu spüren bekommen."

[Marienkirche][Lübeck 1976]

Anfang Februar; das Wetter ist immer noch nicht besser geworden; also reisen Dikigoros und seine Frau im Zug statt im Auto (wofür hätte man die teure Bahncard gekauft, wenn man sie nicht benutzen würde?) nach Norddeutschland, genauer gesagt nach Lübeck, zu Tante Brigitte, der ältesten Tochter des jüngsten Bruders seiner Großmutter väterlicherseits. (Ist das nicht umständlich? In den meisten asiatischen Sprachen, deren Sprecher auf Verwandschafts-Verhältnisse mehr Wert legen als wir Westler, gäbe es dafür ein bestimmtes Wort, nicht einfach "Tante"!) Als Dikigoros noch ein Kind war und die Sommerferien regelmäßig bei seiner Oma an der Ostsee verbrachte, hatte seine Familie immer rundum die zahlreiche, nicht allzu weit verstreute Verwandtschaft abgeklappert; seit der letzte Angehörige der Großeltern-Generation gestorben ist - eben jener jüngste Bruder - hat es sich irgendwie eingebürgert, daß statt dessen die älteste Überlebende der Eltern-Generation die Treffen ausrichtet - eben Tante Brigitte. Warum weiß eigentlich niemand so recht: Sie wohnt strategisch ungünstig (Onkel Knut in Hannover wäre viel besser zu erreichen), außerdem ist sie eine alte, verbitterte Frau, die keine eigene Familie mehr hat - aber vielleicht hängt sie gerade deshalb so an diesen Geburtstagsfeiern. Sie ist am 1. Februar geboren, den die Heiden "Imbole" nannten und die Christen "Maria Lichtmeß" nennen; aber für beide ist es der Tag der (heiligen) Brigitte - jedenfalls für die Katholiken. Es ist die alte keltische Göttin Brigid, die sich die Kirche - wie so viele andere "Götzen" - unter den Nagel gerissen und zur "Heiligen" umfunktioniert hat. Eigentlich eine gute Idee, findet Dikigoros, der gar nicht versteht, was die Protestanten gegen diese Heiligen haben. (Gewiß, er ist voreingenommen, da er selber - jedenfalls formell - Katholik ist; aber diese humor- und freudlose Bilderstürmerei der Protestanten, dieser Bierernst, mit dem besonders einige ihrer amerikanischen Sekten glauben, Gott zu dienen, erinnert ihn immer ein wenig an die fanatischen Muslime.) Die Christen führen das Fest auf die jüdische Tradition zurück, wonach Maria 40 Tage nach der Niederkunft mit dem lieben Jesulein - wie jede andere Mutter auch - festlich "gereinigt" wurde (mit anderen Worten: nach dieser Frist konnte/durfte/sollte/mußte der Mann wieder ran). Aber da ist Dikigoros skeptisch: Erstens wurde Jesus wie gesagt gar nicht am 24. Dezember geboren, und zweitens feierten schon die Römer am 1. Februar das Fest der "Juno Februata" (daher der Name des Monats!) als jungfräulicher Mutter des Kriegsgottes Mars (und jetzt wißt Ihr auch, liebe Leser, woher die Christen das Motiv der jungfräulichen Empfängnis Mariens haben); war wohl nichts mit der nahöstlichen Tradition.


Wir nähern uns dem höchsten Feiertag im Rheinland, genauer gesagt den höchsten Feiertagen, denn es sind ihrer mehrere: Eigentlich beginnen sie schon mit "Weiberfastnacht", dann kommt Karnevalssamstag, Karnevalssonntag, Rosenmontag und Faschingsdienstag - und am Aschermittwoch ist noch längst nicht alles vorbei, denn da fliegen echte Karneval-Fans nach Brasilien, dort dauert das ganze nämlich noch eine Woche länger. Woraus wir schließen dürfen, daß das ganze keine deutsche Erfindung ist. Nein, auch keine italienische, wenngleich der Name von den alten Römern kommt - übrigens nicht von "carne vale", wie es in manchen Lexika steht, (die Römer haben nicht im Traum daran gedacht, 40 Tage vor Ostern dem Fleisch ade zu sagen oder sonstwie zu fasten!), sondern von "carro navale [Schiffskarren]". Schon bei den alten Babyloniern und Ägyptern wurden Narrenschiffe auf Räder gesetzt und durch die Straßen gezogen; von dort haben es die Römer wohl übernommen. In Italien ist die Tradition ungebrochen erhalten geblieben, vor allem in Venedig, dessen Karneval bis heute weltberühmt ist. In Deutschland hat er dagegen erst relativ spät Einzug gehalten, und nicht umsonst vor allem im Rheinland, das ja lange von Napoleons Franzosen besetzt war. Zwar versuchte die französische Propaganda schon damals, den tumpen Germanen - ähnlich wie nach 1945 - einzureden, daß das gar keine Besatzung, sondern vielmehr eine "Befreiung" gewesen sei; aber die "Befreiten" sahen das ganz anders, warfen ihre "Befreier" undankbarerweise wieder hinaus und führten zu deren Verarschung den Karneval ein, bei dem sie in französischen Uniformen durch die Straßen paradierten - seit 1824 führten sie auch die berühmten Schiffskarren mit. Auch in der Schweiz, genauer gesagt in Basel, gibt es eine "Fassenacht" - aber zum Glück zeitversetzt, so daß Dikigoros und Frau als Karnevals-Muffel während der närrischen Tage im Rheinland zu Albert und Klara fahren können, ihren Trauzeugen, die in einem kleinen Schweizer Kaff hinter Basel wohnen.

Albert ist ein an sich nicht untüchtiger Ingenieur, der jedoch in Deutschland für seine Fachrichtung keine Stelle gefunden hat, die ihm zugesagt hätte - er will nicht für einen der "Multis" arbeiten, diese "internationalen Ausbeuterkonzerne", wie er sie nennt. Lieber in der Schweiz für schlechtes Gehalt - bei hohen Lebenshaltungskosten, die umso schwerer zu finanzieren sind, als seine Frau anfangs keine Arbeitsgenehmigung bekommen hat. (Inzwischen - sie sind über zehn Jahre im Lande, ohne silberne Löffel geklaut oder sich sonst irgendetwas zuschulden kommen lassen zu haben, wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit - hat sie eine, aber natürlich findet sie keinen Job.) Sie sind das Gegenteil des "Normalverbrauchers", den Dikigoros oben skizziert hat, leben ganz umweltbewußt am Waldesrand, mit ihrer Tochter - die ebenso fließend Switzerdütsch wie Hochdeutsch spricht - und ihrer Katze, aber ohne Fernseher und Auto, backen nicht nur ihren Kuchen, sondern sogar ihr Brot selber, holen das Wasser aus einem nahen Bach, sammeln Pilze, Beeren und Kräuter im Wald, Klara näht ihre eigenen Kleider und schreibt in ihren Mußestunden Gedichte, die sie in der lokalen Zeitung veröffentlicht. Niemand aus ihrem Bekanntenkreis hätte geglaubt, daß sie sich Albert angeln würde, der während seines Studiums in einer Wohngemeinschaft mit vier Kommilitoninnen lebte - allseits nur "der Harem" genannt -, von denen jede einzelne attraktiver war als Klara; und niemand hätte dieser Ehe auch nur von zwölf bis mittags gegeben, und nun sind sie das einzige Ehepaar aus Dikigoros' Freundeskreis (außer ihm selber natürlich :-), das noch nicht geschieden oder getrennt ist...

Dikigoros lobt das, was er von der Schweiz gesehen hat, fragt sich aber doch, wie ausgerechnet Albert es bei seiner Einstellung hier aushalten kann: "Die schmarotzen doch auch nur von internationalen Wirtschaftskriminellen, die hier ihre Gelder bunkern, waschen oder zwischenlagern. Und wenn du hier arbeitslos wirst, schieben die dich als Ausländer knallhart ab, dann kannste dir deine Sozialhilfe bei uns abholen." - "Ja, aber gerade weil sie da so hart sind, halten die Sozialsysteme noch; bei Euch in Deutschland wird doch jeder kriminelle Asylant im Land geduldet und mit Sozialhilfe gepampert, die du mit deinen Steuergeldern finanzierst. Wie lange wird das noch gehen, bis ihr pleite seid?" - "Nicht mehr lange, vermute ich, jedenfalls nicht in dieser Höhe. Aber bevor sie an die Sozialhilfe für Ausländer gehen, kürzen sie eher den Deutschen die Rente." - "Na, Glückwunsch. Jeder hat eben die Regierung, die er verdient." - "Wir haben sie nicht gewählt." - "Wir unsere auch nicht, aber mir liegt nichts an dem Recht, ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel zu machen. Hier in der Schweiz habe ich die Gewißheit, daß alle Parteien eine vernünftige Politik machen. Was habe ich vom Wahlrecht, wenn ich weiß, daß eh alle Parteien den gleichen Scheiß machen, wie bei euch in Deutschland?!" Dikigoros sagt nichts - wie sollte er auch? Albert hat ja Recht...

"Bei uns sind auch die Arbeitsbedingungen viel flexibler," fährt Albert fort, "weil die Gewerkschaften nicht so stark sind und die Arbeitnehmer nicht so uneinsichtig. Wenn in meinem Betrieb die Auftragslage gut ist, werden Überstunden gemacht, auch am Wochenende, ohne zu murren und ohne gleich 50% Lohnaufschlag zu verlangen; und wenn die Auftragslage schlecht ist, nehmen wir auch Gehaltskürzungen hin." - "Und wie ist die Auftragslage im Moment?" - "Schlecht, ich habe gerade auf 5% meines Gehalts verzichtet, wie alle meine Kollegen auch, deshalb wird unser Betrieb auch so schnell nicht pleite machen." - "Mag ja sein," sagt Erika, "aber das mit den Überstunden ist keine Lösung. Langfristig führt das dazu, daß immer weniger Leute immer mehr Arbeit machen, und immer mehr andere Leute arbeitslos zuhause sitzen und Däumchen drehen, weil die Arbeitgeber niemanden mehr einzustellen brauchen. Das heißt also, die Überstundenmacher rackern sich ab, um das Arbeitslosengeld für die anderen zu erwirtschaften, das ist weder gesund noch sozial gerecht. Insofern sind die hohen Lohnaufschläge für Überstunden eine heilsame Abschreckung." - "Es kommt noch etwas dazu," ergänzt Dikigoros, "die Arbeit, die jemand in den Überstunden leistet, wird zwar besser bezahlt, aber sie ist meist qualitativ schlechter. Ich merke das doch an mir selber: Wenn ich 8 Stunden am Tag pausenlos Verhandlungen geführt oder Schriftsätze gelesen und beantwortet habe, kann ich einfach nichts Gescheites mehr zu Papier bringen, dann schreibe ich nur noch Unsinn, den ich am nächsten Tag doch wieder neu schreiben muß; da lese ich dann zu Entspannung lieber ein schönes Buch; und wenn ich hinterher nicht mehr weiß, was drin steht, ist das nicht weiter schlimm. Und das gilt ja nicht nur für Geistesarbeiter; auch am Fließband läßt die Konzentration irgendwann nach, und es kommt nur noch Montagsarbeit raus." - "Ich kenne ja diese Argumente von den Gewerkschaften," entgegnet Alfons, "die glauben, wenn man die Arbeit gerecht - damit meinen die gleichmäßig mit dem Rechenschieber - auf alle verteilte, gäbe es am Ende keine Arbeitslosen mehr. Aber das ist doch eine Milchmädchenrechnung: Es gibt einfach Jobs, für die nicht genug ausgebildete Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, dann müssen die Mehrarbeit halt diejenigen machen, die dafür ausgebildet sind. Diejenigen, die arbeitslos zuhause sitzen, haben nämlich meist nichts gelernt oder eben das falsche, am Arbeitsmarkt vorbei; und mit einer Umschulung von ein paar Wochen an irgend einer Klippschule, wie sie die Arbeitsämter als Lösung anbieten, kannste keine ordentliche Ausbildung ersetzen, weder eine Lehre noch ein Studium, das wißt ihr auch." - "Dann müssen die Leute eben von Anfang an richtig ausgebildet werden," meint Dikigoros, "Statistiken, um den Bedarf für die nächsten Jahre abzuschätzen gibt es genug, und wenn die Arbeitgeber den Statistikern ihre Bedarfszahlen nicht oder nicht rechtzeitig melden, sind sie selber schuld." - "Wohin so eine staatlich geplante und gelenkte Ausbildung nach staatlichen Statistiken und Prognosen führt, haben wir doch in der staatlichen Planwirtschaft der DDR und anderer sozialistischer Staaten gesehen," bemerkt Erika, "direkt in die Pleite. Außerdem gibt es inzwischen auch Leute, die gut ausgebildet, berufserfahren und trotzdem arbeitslos sind. Mein Schwager zum Beispiel..." Aber Dikigoros will seinen Bericht an dieser Stelle abbrechen, da er über das Thema "Ausbildung" an anderer Stelle ausführlicher schreibt. Ihr wollt seine persönliche Meinung erfahren, liebe Leser? Bittesehr: Das Problem sind die Arbeitsverhinderungsgesetze, die fälschlich "Arbeitsschutzgesetze" genannt werden. Sie verhindern nämlich, daß in Stoßzeiten kurzfristig Leute eingestellt und hinterher, wenn die Auftragslage nicht mehr so toll ist, ebenso kurzfristig wieder entlassen werden, ohne große Kündigungsschutzprozesse und Abfindungszahlungen. Deshalb beschäftigt Dikigoros selber nur freie Mitarbeiter, um flexibel zu bleiben, und er kennt viele Kollegen, die es ebenso halten. Noch beschränkt sich dieses Fänomen weitgehend auf Freiberufler; aber früher oder später wird es überall Schule machen, d.h. die überstrapazierten Sozialsysteme werden sang- und klanglos eingehen, weil niemand mehr einzahlen muß, und freiwillig wird niemand so blöde sein, den milliardenschweren Verwaltungsaufwand der Sozialversicherungsträger zu finanzieren, d.h. all die Marmorpaläste der AOK auf Mallorca und anderswo zu bezahlen und all die Gehälter der sesselpupsenden Angestellten, die kaum einen Arbeitslosen vermitteln, kaum noch Krankheitskosten erstatten und das Renteneintrittsalter immer weiter hinausschieben, bis Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen...

[Ostara einst][Osterhäsin heute]

Nein, es ist noch nicht ganz Ostern; aber über jenes Fest hat Dikigoros ja schon einleitend etwas geschrieben, so daß er hier nur die Bildern nachzuliefern braucht. Aber bereits einige Tage zuvor hat Tante Schiefnase Geburtstag, und da es der 75. ist will sie ihn diesmal ganz groß feiern, auf Schloß Hustenkrupp, pardon Husterknupp, das sie zu diesem Zweck für einen großen Empfang angemietet hat. Seit die Einladung vor ein paar Wochen eingetrudelt ist, suchen Dikigoros und seine Frau krampfhaft nach einer Ausrede, um nicht hin fahren zu müssen, aber sie finden einfach nichts. Erst einen Tag, nachdem sie verbindlich zugesagt haben, kommt eine andere Einladung, die zwar einen offiziellen Charakter hat und ganz ideal geeignet wäre - aber so ist das halt... Tante Schiefnase hat alles eingeladen, was sich im Notizbuch hat finden lassen, vom ersten Sohn aus der ersten Ehe ihres ersten Mannes bis zum letzten Vetter allerletzten Grades, alle nebst Anhang (was dazu führt, daß die meisten Gäste einander noch nie gesehen haben und sich mit geradezu peinlicher Auffälligkeit siezen). Mit einer einzigen Ausnahme: Dikigiros' Schwägerin und Schwippschwager haben keine Einladung erhalten (die Glücklichen!), denn "mit solchen Alkoholikern gebe ich mich nicht ab", soll die Tante hinter vorgehaltener Hand gesagt haben. (Als der Schwippschwager noch hoch dotierter Manager war, hatte sie das nie gestört, obwohl er schon immer einen schönen Stiefel vertrug; aber einen Dauerarbeitslosen als Geburtstagsgast... igittigitt! Und solange Dikigoros beruflich nicht so erfolgreich war, ist auch er nie zu einem Geburtstag von Tante Schiefnase eingeladen worden - es ist das erste Mal.) Eigentlich sind Dikigoros und Frau mit ihr gar nicht verwandt und kaum verschwägert; sie ist die zweite Frau von Erikas kürzlich verstorbenem Onkel mütterlicherseits. Mit ihm hatte sich Dikigoros immer gut verstanden - obwohl er Arzt war -; sie haben irgendwie auf der gleichen Wellenlänge gesendet; aber die Schwiegertante mag er gar nicht. Sie ist - wie alle in ihrer Familie - Apothekerin, und damit ist das Thema der Tischgespräche auch bereits vorgegeben.

Nun, liebe Leser, die Ihr Dikigoros von anderen "Reisen durch die Vergangenheit" kennt und wißt, daß er nichts ohne Hintergedanken schreibt, denkt Euch wahrscheinlich schon, daß er diese Reise nicht unternommen hat, um irgendwelche Familiengeschichten vor Euch auszubreiten. Richtig gedacht, denn was jetzt folgt geht Euch alle an, jedenfalls so Ihr in der BRD lebt und arbeitet. Denn alsbald kommt die Rede auf die schwindende Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland durch die irrsinnig hohen Sozialabgaben, die vor allem durch die lawinenartig anwachsenden Kosten des Gesundheits[un]wesens verursacht werden; aber nicht das regt die Runde auf, sondern vielmehr die den armen Ärzten und den noch ärmeren Apothekern drohenden Einkommensverluste durch die böse, böse Gesundheitsreform - die ja zum Glück noch nicht durch ist, da alle Anläufe dazu immer wieder verwässert, umgangen und sabotiert werden. "Was meinen Sie denn, Herr Doktor?" fragt ein entfernt verschwägerter Cousin über der Dosen-, pardon Vorsuppe. Dikigoros mustert denn Mann von oben bis unten - der sieht nicht aus wie jemand, der wüßte, wie man gesund lebt, sich richtig ernährt und ein lebendes Reklameschild für seine Apotheke ist; deshalb krebst er auch schon seit Jahren kurz vor der Pleite herum, wie man hört, will er sich eigentlich zur Ruhe setzen, findet aber ob seiner traumtänzerischen Preisvorstellungen keinen Käufer. (Überhaupt, denkt Dikigoros mit Genugtuung, sehen seine Frau und er von allen Anwesenden noch immer am besten aus, obwohl sie durchaus nicht die jüngsten sind.) Er zögert etwas mit der Antwort und verkneift sich erstmal seine einleitenden Gedanken: Früher, bis ins 19. Jahrhundert, als es noch keine farmazeutische Industrie gab, war Apotheker ein verantwortungs- und prestigeträchtiger Beruf, der ein langes Studium und hohe Fachkenntnis erforderte: Die Güte der Arzneimittel und damit die Heilung der meisten Krankheiten hing damals in viel höherem Maße von der Kunst der Apotheker als der Ärzte ab; es war ein im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendiger Beruf. Aber heutzutage... Was unterscheidet ihn denn noch von einer Verkäuferin im Drogeriemarkt, außer dem Einkommen?

"Tja, wissen Sie, als Apotheker der guten alten Schule könnten Sie mir doch sicher noch von eigener Hand einen schönen Hustentee zusammen mixen, nicht wahr?" - "Äh... ich verstehe nicht..." - "Also, ich verstünde das schon selber; aber ich komme nicht an alle Zutaten, die sind nämlich teilweise verschreibungspflichtig." Dikigoros macht eine Kunstpause. "Wenn ich einen Husten habe, nein, fangen wir mal umgekehrt an; wenn Sie von einem Ihrer Kunden 100 Mark zu bekommen haben (Dikigoros rechnet noch in DM, nicht in Teuro) und der will nicht zahlen, was machen Sie dann? Gehen Sie zum Anwalt?" - "Brauchen Sie ein Mandat?" - "Nein, ich gebe zur Zeit alle Mandate mit weniger als sechsstelligem Streitwert ab; aber würden Sie grundsätzlich einen Anwalt brauchen?" - "Eigentlich nicht, wenn der Fall eindeutig liegt." - "Eben, das könnten Sie alleine. Aber nun stellen Sie sich mal vor, Sie hätten von demselben Kunden nicht 100, sondern 10.000 DM zu bekommen, dann herrscht vor deutschen Gerichten Anwaltszwang." - "Das ist doch schön für Sie." - "Ja. Aber nun nehmen wir mal weiter an, es würde ein Gesetz gemacht, daß künftig jeder Bundesbürger gezwungen würde, 15% seines Bruttoeinkommens in eine gesetzliche Rechtsschutzversicherung einzuzahlen." - "Das wäre ja ein volkswirtschaftlicher Irrsinn; außerdem würden dann alle glauben, sie müßten auch eine Gegenleistung bekommen für ihr Geld und anfangen, jeder gegen jeden zu prozessieren." - "Tja. Und nun nehmen Sie mal an, jemand hat einen Schnupfen und will sich einen Hustensaft mischen. Die Zutaten bekommt er nur auf Rezept; das Rezept bekommt er wiederum nur vom Arzt. Also nimmt er sich einen Tag frei - sein Arbeitgeber muß ja Lohnfortzahlung leisten - und setzt sich erstmal einen Vormittag mit einem Dutzend anderer Hustenkranker ins Sprechzimmer seines Hausarztes. Warum auch nicht? Schließlich zahlen er und sein Arbeitgeber zusammen rund 15% seines Bruttogehalts in die gesetzliche Krankenversicherung ein, dafür muß er doch eine Gegenleistung bekommen, nicht wahr?" Der Arzt diagnostiziert richtig einen Husten, verordnet ihm den Hustensaft und schreibt ihn noch ein paar Tage krank, und nach der Mittagspause kommt er zu Ihnen und kauft ein Fläschchen Hustensaft für 9,99 DM, wovon er rund die Hälfte aus eigener Tasche qua "Rezeptgebühr" zahlt. Sie verdienen daran ungefähr 3,33 DM, der Farma-Produzent das gleiche, und der Rest verkrümelt sich irgendwo. Nun hat dieser Husten die Volkswirtschaft aber insgesamt nicht 9,99 DM gekostet, sondern schätzungsweise das hundertfache. Haben Sie eine Idee, wie man das ändern könnte?"

"Sie wollen sicher darauf hinaus, daß man ein baugleiches Medikament als No-Name-Produkt auch für die Hälfte verkaufen könnte, wie unsere Politiker. Aber..." - "Ach was. Für solche Mittelchen ist die Hälfte noch immer viel zu viel; aber darauf komme ich gleich zurück. Nein, ich will darauf hinaus, daß Sie doch nicht umsonst Farmazie studiert haben, oder? Und wann haben Sie zum letzten Mal selber ein Medikament zubereitet? Haben Sie nicht irgendwie das Gefühl, daß die Farma-Industrie Sie und Ihre Kollegen zu Fachverkäufern degradiert hat, und daß Sie nur noch die Apothekenpflichtigkeit einiger Medikamente davor bewahrt, von den Drogerie-Märkten geschluckt zu werden?" - "Ja, aber wie wollen Sie das verhindern? Indem Sie den Drogerien verbieten, bestimmte Substanzen zu verkaufen?" - "Im Gegenteil. Ich würde alle Mittel, die bisher nur apothekenpflichtig sind, freigeben für den Verkauf in Drogerien und Supermärkten, nicht anders als jetzt schon Magnesium, Calcium oder Vitamine usw." Der Apotheker schluckt mühsam: "Das wäre unser endgültiger Ruin." - "Warum? Weil Sie dieses Zeug zwei- bis dreimal so teuer verkaufen?" - "Ja, aber wir verdienen nicht mehr daran als die Supermärkte. Die Hersteller sind die gleichen, aber wir können nicht so große Mengen abnehmen und deshalb nicht so hohe Rabatte aushandeln wie Aldi." - "Geschieht Ihnen Recht. Die Dienstleistung, die Sie noch erbringen, ist nicht größer als die einer Verkäuferin im Supermarkt; dafür ist Ihr Gewinn noch viel zu hoch. Aber wie wäre es denn, wenn der Gesetzgeber Sie aus einem Stempelheini für Rezepte, der sich von den Ärzten und der Farma-Industrie vorschreiben läßt, was er seinen Kunden verkauft, wieder zu einem echten Apotheker machen würde? So wie ein Optiker ein echter Optiker ist?" - "Verstehe ich nicht." - "Na, dann passen Sie mal auf: Wenn ich eine neue Brille brauche, gehe ich doch nicht zum Augenarzt, setze mich 5 Stunden ins Wartezimmer und lasse mich anschließend von einer Arzthelferin in 5 Minuten abfertigen, sondern ich gehe zu meinem Optiker, der hat die gleichen Geräte zur Ermittlung der Sehschärfe, und er nimmt sich Zeit für mich. Da brauche ich kein Rezept und nichts. Wenn nun der Kranke, statt seine Zeit und das Geld seiner Versicherung oder Kasse beim Arzt zu verplempern, bei weniger schwierigen Erkrankungen, gleich zu Ihnen kommt, sich von Ihnen beraten und ein individuell auf ihn abgestimmtes Mittelchen fertigen läßt, ohne Rezeptpflicht?" - "Das wäre eine große zeitliche Zusatzbelastung für mich." - "Nun, vergessen Sie nicht, ich habe Ihnen die bisher nur apothekenpflichtigen Mittelchen vom Hals geschafft - die kauft der Kunde künftig in der Drogerie. Schadet Ihnen nicht, denn an denen haben Sie ja eh nicht viel verdient, wie Sie selber sagen. Dafür sollen Sie jetzt diejenigen Medikamente herstellen, die bisher rezeptpflichtig waren, und bei denen wären Sie nicht mehr auf die Gewinnspanne angewiesen zwischen dem Preis, den Sie bisher der Farma-Industrie für das fertige Produkt zahlen und dem Verkaufspreis, den Sie vom Kunden bekommen, sondern Sie kaufen die Rohstoffe billig ein und behalten den Gewinn ganz für sich."

"Das klingt ja in der Theorie schön und gut. Sie übersehen nur zweierlei." - "Nämlich?" - "Erstens sind fast alle Medikamente, an denen ein Apotheker gut verdienen könnte, von der Farma-Industrie patentiert." - "Sie irren; ich kenne mich ein wenig im Patentrecht aus. Die meisten Farma-Patente sind nur so genannte Processing Patents, d.h. die Verfahren zur Massenherstellung sind geschützt - oder glauben Sie, die Grundstoffe, die doch zumeist in der Natur vorkommen, könnten patentiert werden?" - "Das wußte ich nicht." - "Jetzt wissen Sie's. Und was habe ich noch übersehen?" - "Ihr Vergleich mit dem Optiker hinkt. Die Brille, die Sie sich bei dem machen lassen ohne ärztliche Verschreibung bekommen Sie nicht von Ihrer Versicherung oder Kasse bezahlt." - "Für die paar Mark Zuschuß verplempere ich doch nicht mehrere Stunden meiner wertvollen Arbeitszeit im ärztlichen Wartezimmer!" - "Das sehen Sie so, als Selbständiger. Aber die große Masse der Leute sind Angestellte und Arbeiter." - "Ganz recht, deshalb müssen die Gesetze auch da geändert werden, und zwar von Grund auf. Radikalkur." - "Da bin ich aber gespannt." Erstens: Allerweltsmittelchen aus dem Supermarkt oder der Drogerie werden, mit oder ohne Verschreibung, nicht mehr ersetzt. Die sind billig genug, daß sie jeder Kranke selber zahlen kann; manchmal kosten sie insgesamt weniger als die Rezeptgebühr, die er jetzt zu zahlt. Und wenn Sie mal den Verwaltungsaufwand bedenken, den diese Rezeptgebühr verursacht... Mit welchem Recht verplempern die Krankenversicherungen jedes Jahr Milliarden an Gehältern für ihre Sesselpupser, teure Büros, in denen die sich den Hintern platt sitzen, und anderen Verwaltungsaufwand? Kurzum, damit könnten Sie schon mal 10% der Beiträge zur Krankenversicherung einsparen, einverstanden?" - "Ja, aber die muß der Kranke dann aus eigener Tasche zahlen." - "Soll er auch. Wie kommt eigentlich die Allgemeinheit dazu, Leuten, die ungesund und unvorsichtig leben, ihre Krankheiten und deren Heilung zu subventionieren? Wer auf seine Gesundheit achtet, kann sich nie eine Grippe holen, nie ein Raucherbein, nie einen Lungenkrebs und nie eine Säuferleber. Daraus folgt schon zweitens: Selbstverschuldete Krankheiten gehen auf jedermanns eigene Kappe. Wer sich Zigaretten leisten kann, soll sich dann auch die Behandlung des Lungenkrebses aus eigener Tasche leisten. Genauso, wer sich AIDS im Puff holt, weil er zu geizig oder zu faul ist, für ein paar Groschen Präservative zu kaufen. Einverstanden?" - "Aber..." - "Ja was, Geld genug, um nach Bangkok oder Manila in den Puff zu jetten, und sich die Folgen dann von der Allgemeinheit finanzieren lassen? Zum Teufel mit diesen leichtsinnigen Alkoholikern, Nikotinisten und Hurenböcken! Wieder 10% Beiträge eingespart."

Dem Apotheker bleibt das Weinglas vor dem Halse stecken, und er schielt zu seiner Frau, einer Kettenraucherin, die sich unter Dikigoros' mißbilligenden Blicken in eine andere Ecke des Saales verzogen hat. "Was haben Sie denn sonst noch Übles vor?" - "Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall streichen. Wer sich gegen Verdienstausfall versichern will, soll das tun, aber auf eigene Rechnung, ohne Zuschüsse des Arbeitgebers. Wie kommt der dazu, seine Arbeitnehmer für Nichtstun weiter zu bezahlen? Und wie kommen dessen Kollegen dazu, dessen Arbeit für ihn mit zu machen? Was glauben Sie, welch eine Gesundung breiter Bevölkerungsschichten urplötzlich einsetzen würde! Kein blauer Montag, kein Wochen langes Krankschreiben; die Leute würden wieder anfangen, auf ihre Gesundheit zu achten, weniger rauchen, saufen und fressen, dafür mehr Sport treiben... Etwas besseres könnte uns allen gar nicht passieren! Ich würde mal sagen, das spart weitere 20% Versicherungsbeiträge ein." - "Damit machen Sie 'zig tausende Ärzte und Apotheker arbeitslos." - "Oh ja, und weitere 'zigtausende Arbeiter und Angestellte in der Tabakindustrie und in der Alkoholindustrie... Wissen Sie, wie viele Taschendiebe dadurch arbeitslos geworden sind, daß man das unter Strafe gestellt hat? Und Autodiebe? Und Mörder und Totschläger? Warum schaffen wir nicht das Strafgesetzbuch ab, um neue Arbeitsplätze im kriminellen Gewerbe zu schaffen?" - "Machen Sie keine Witze, genau das hatten wir doch schon mal: Als die Amis nach dem Ersten Weltkrieg die Prohibition eingeführt haben, nahm sofort die Kriminalität zu. Und als sie sie wieder abgeschafft haben, haben die Alkoholschmuggler sich auf Schwerkriminalität verlegt." - "Ganz recht, aber in Ihrer Argumentation steckt ein Denkfehler: Daß ein paar kleine Ganoven Alkohol geschmuggelt haben war doch weiter gar nicht schlimm. Das Zeug war noch immer so teuer, daß der Preis automatisch prohibitiv wirkte. Der Fehler war bloß, die Prohibition später wieder aufzuheben und so die Bootleggers arbeitslos zu machen. Das habe ich nicht vor."

Der Ober unterbricht das Gespräch, indem er das so genannte Hauptgericht serviert. Dikigoros traut seinen Augen kaum: Eine halbe Hühnerbrust, dazu drei bunte Bandnüdelchen, eine halbe Karotte und ein zwei Finger dickes Röschen Blumenkohl - das kann doch wohl nicht wahr sein! (Dikigoros, der Wert darauf legt, gut und viel zu essen, macht es selten unter einem ganzen Huhn - Gutfriß vertilgt die Reste, einschließlich des Skeletts -, einem Pfund Nudeln und einem ganzen Blumenkohl pro Mahlzeit. Ein Glück, daß er in weiser Voraussicht schon zu Hause den Eisschrank geplündert und einen kleinen Imbiß zu sich genommen hat.) Happ happ, weg war es, und Dikigoros macht sich auf den Weg zur Schloßküche (nein, Verdauungs-Spaziergang kann man das nicht nennen - was gibt es da schon zu verdauen?), um die Speisekarte nebst Preisen zu inspizieren und den Köchen auf die Finger zu schauen. (Damit hat er sich schon oft bei so genannten Spitzen-Köchen in so genannten Spitzen-Küchen unbeliebt gemacht - diese Pfuscher haben fast immer reichlich zu verbergen.) Wenn Tante Schiefnase nicht einen Super-Rabatt ausgehandelt hat (was er ihr eigentlich nicht zutraut - sie ist nicht besonders geschäftstüchtig, aber er kann ja schlecht nachfragen) kostet sie dieser Abend in etwa den Preis eines Kleinwagens. Nein, das Essen ist nicht wirklich schlecht, wenn man mal von der undefinierbaren Pampe, pardon "Création Irgendwas" zum Nachtisch absieht, und die Geschmäcker sind halt verschieden. Im Vorübergehen hört Dikigoros jemanden allen Ernstes (?) sagen: "Das Essen ist sooo reichlich, das kann man ja gar nicht alles aufbekommen." Denen hat es also nicht geschmeckt; aber daß ihnen kein besserer Vorwand eingefallen ist, um auch das Bißchen noch stehen zu lassen...

"Sie tun ja gerade so, als ob die Sozialabgaben nur wegen der Krankenversicherung so hoch wären," nimmt der Apotheker über dem Mokka den Gesprächsfaden wieder auf. "Nein, mir ist schon klar, daß auch die Arbeitslosen- und Rentenversicherung Klötze am Bein unserer Wirtschaft sind. Was wollen Sie zuerst hören?" - "Schauen Sie mich an." - "Sind Sie arbeitslos?" - "Nein, aber ich würde mich gerne irgendwann mal zur Ruhe setzen." - "Und? Kein Versorgungswerk?" - "Gab es noch nicht, als ich angefangen habe; und als es eingeführt wurde, haben sie mich nicht mehr genommen, weil ich schon zu alt war." - "Nichts zur Seite gelegt?" - "Wovon denn? Der Umsatz wird immer geringer, die Angestellten immer teurer, von dem bißchen Gewinn, der mir noch bleibt, knapst mir das Finanzamt immer mehr ab; und von irgendwas mußte ich ja auch leben. Bei uns am Ort gibt es fast an jeder Ecke eine Apotheke, was glauben Sie, was das für ein Konkurrenzkampf ist." - "Tja, wissen Sie, die Beiträge der Rentenversicherung sind vor allem deshalb so hoch, weil sie in einen riesigen Topf wandern, aus dem erstmal jede Menge versicherungsfremder Leistungen bezahlt werden, von all den Ossis, die nie einen Pfennig eingezahlt haben, bis zur Entwicklungshilfe in aller Welt. Außerdem ist der Apparat zu teuer. Wenn man die Sesselpupser von der BfA einsparen könnte, wäre die Rendite wesentlich höher. Im Moment liegt sie doch selbst unter den allerlausigsten Bankzinsen." [Da war Niko noch viel zu optimistisch. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Ausschüttungsquote inzwischen sogar schon im Minusbereich - bei ca. 90% der eingezahlten Beiträge, Anm. Erika. Das Bundessozialgericht weiß das offenbar auch, denn es hat jetzt entschieden, daß jemand, der Sozialhilfe beziehen will, zuvor neben seinen anderen Vermögenswerten auch seine private Rentenversicherung auflösen und verbrauchen muß, so dies mit einem Verlust von nicht mehr als 10% möglich ist.] "Was würden Sie also vorschlagen?" - "Weg mit der Pflichtversicherung." - "Dafür sind die Leute nicht reif. Wissen Sie, was die tun würden? Die würden keinen Pfennig freiwillig zurück legen, sondern sich darauf verlassen, daß später die Sozialhilfe für sie da ist." - "Kaum, wenn Sie es richtig anstellen." - "Nämlich, wie?" - "Durch flankierende Maßnahmen der Steuergesetzgebung. Sie müssen die Altersvorsorge doppelt steuerfrei stellen." - "Doppelt ?" - "Ja, das heißt erstens: Die zurück gelegten Beiträge müssen voll von der Steuer absetzbar sein, und zweitens dürfen die Erträge bei der Auszahlung nicht besteuert werden, auch nicht der Gewinnanteil. Damit würde die Altersvorsorge automatisch zur lukrativsten Geldanlage überhaupt. Was meinen Sie, wie die Leute alle los laufen würden, um freiwillig Geld einzuzahlen! Sie müßten eine Beitragshöchstgrenze festlegen... Und den Arbeitgeberanteil wandeln Sie in eine Betriebsrente um, meinetwegen durch Anteilsscheine, auch bei Arbeitgebern, die keine Aktiengesellschaften sind, was meinen Sie, wie das die Arbeitsmoral der Mitarbeiter heben würde! Natürlich müssen sie die auch voll von der Steuer absetzen können - auch die Arbeitgeber würden sich darum reißen, solchermaßen zur Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter beizutragen!" - "Hm... ich weiß nicht, ob Sie das nicht alles etwas zu optimistisch sehen." - "Ich sehe nur, was Sache ist. Unser derzeitiges Sozialversicherungsmodell steht kurz vor dem Zusammenbruch. Angesichts der Alterspyramide ist es keine Frage von Jahrzehnten, sondern nur noch von Jahren, bis es so weit ist. Wollen Sie auch noch hören, was ich in Sachen Arbeitslosenversicherung vorzuschlagen habe?" - "Bitte," sagt der Apotheker gequält.

[Altersversorgung]

"Die Bundesanstalt für Arbeit ist längst eine Bundesanstalt für die Verwaltung von Arbeitslosen geworden. Dort wird nur noch Geld verplempert, nicht mehr vermittelt." - "Aber die Statistiken..." - "Sind samt und sonders getürkt. Wenn jemand einen Schwindel-, pardon Fortbildungs- oder Umschulungskurs besucht hat, wird er anschließend unter "vermittelt" geführt, auch wenn er keinen neuen Arbeitgeber findet - und da die inzwischen auch wissen, daß dort nichts Gescheites gelernt wird, ist die Chance, danach etwas zu finden, gleich null." - "Aber warum werden solche Kurse dann überhaupt noch angeboten?" - "Soll das eine rhetorische Frage sein, oder wissen Sie es wirklich nicht?" - "Was meinen Sie?" - "Ich verrate Ihnen etwas. Das ganze Schulungsunwesen ist eine groß angelegtes Korruptions-System. Halbseidene Typen machen Umschulungsanstalten auf, die niemand freiwillig besuchen würde, geschweige denn gegen die horrenden Gebühren, die das Arbeitsamt dafür entrichtet. Die Betreiber stellen unfähiges Lehrpersonal ein, das sie irgendwo für ein paar Mark fünfzig pro Stunde von der Straße holen. Dann gehen die Millionen vom Arbeitsamt ein, und die Gauner machen mit korrupten Beamten und Angestellten vom Arbeitsamt, die über die Genehmigung solcher Kurse entscheiden, Halbe-Halbe. Und der Gesetzgeber schaut weg." - "Das kann doch nicht Ihr Ernst sein." - "Doch. Und die Sache mit den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ist fast noch skandalöser." - "Sie meinen ABM?" - "Ja. Da wird Arbeitgebern, die zu den immer härter werdenden Bedingungen des Marktes produzieren und dienstleisten müssen, staatlich subventionierte Konkurrenz zu Dumping-Preisen gemacht. Dadurch werden immer mehr echte Arbeitsplätze vernichtet, denn die Arbeitgeber vom freien Markt müssen diesen Irrsinn ja auch noch durch ihre immer höheren Steuern und Sozialabgaben finanzieren. Keine ABM-Stelle könnte sich am freien Markt halten, wenn sie nicht außer Konkurrenz von Staatsknete bezahlt würde. Und die Zuschüsse sind um nichts besser. Ich kenne einen Kollegen, der läßt sich auf ein- und dieselbe Stelle jedes Jahr einen neuen Mitarbeiter oder eine neue Mitarbeiterin mit 90% Lohnzuschuß vom Arbeitsamt schicken. Und da er das korrupte Schwein vom Arbeitsamt kennt, drückt das beide Augen zu und macht alle Jahre wieder mit, obwohl der noch nie jemanden übernommen und fest angestellt hat. Und das ist sicher kein Einzelfall."

"Und was wollen Sie dagegen machen?" - "Abschaffung der staatlichen Arbeitslosenversicherung. Das Arbeitslosengeld läuft eh nur ein Jahr; die Arbeitslosenhilfe danach ist nicht mehr viel höher als die Sozialhilfe; soll man die Arbeitslosen also gleich zum Sozialamt schicken, das kommt den Staat billiger - abgesehen davon, daß viel weniger Leute arbeitslos werden, wenn die Sozialabgaben sinken; und wenn man die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung streicht, ist das wieder ein schöner Batzen, der eingespart werden kann und der Wirtschaft zugute kommt. Und was die Arbeitsvermittlung anbelangt, die sollte man private Unternehmen machen lassen, aber nur auf Erfolgshonorarbasis. Was meinen Sie, wie die sich ins Zeug legen, wenn sie nur für eine echte, erfolgreiche Vermittlung bezahlt werden... Die Sesselpupser vom Arbeitsamt bekommen ihr Gehalt doch auch, wenn sie den ganzen Tag herum sitzen und Däumchen drehen, ohne einen einzigen Arbeitslosen vermittelt zu haben. Der Fehler liegt im System." - "Und Sie glauben wirklich, damit bekommen Sie einen einzigen Arbeitslosen mehr vermittelt?" mischt sie eine Tischnachbarin ein, "wo nichts ist, ist nichts; und Arbeitsplätze..." - "Arbeit gibt es genug," versetzt Dikigoros, "sie kann nur nicht bezahlt werden, weil sie zu teuer ist. Was glauben Sie denn, warum unsere Konzerne ihre Produktion zunehmend in Hunger- und Billiglohnländer verlagern, wie z.B. Adidas, das seine Turnschuhe, die es hier für 200.- DM das Paar als "made in Germany" verkloppt, für 50 Pf die Stunde in Indonesien herstellen läßt, oder warum man Ausländer, die sich illegal in Deutschland aufhalten, nicht abschiebt, sondern für fünf Mark die Stunde schwarz auf die Hand malochen läßt und die es auch noch gerne tun, weil sie dafür keine Steuern und Sozialabgaben zahlen müssen?" - "Aber das liegt doch nicht nur an den Sozialabgaben." - "Natürlich nicht allein. Die Arbeitsgesetze müssen von Grund auf geändert werden, vor allem die so genannten Arbeits-Schutzgesetze, die in Wirklichkeit Arbeits-Verhinderungsgesetze sind." - "Wieso?" - "Weil Sie heute niemanden mehr einstellen können, ohne gleich einen sechsstelligen Betrag in den Sand gesetzt zu haben, wenn sie ihn morgen wieder entlassen wollen, weil er silberne Löffel geklaut und sich hat erwischen lassen. Streichen Sie den Kündigungsschutz ersatzlos, ebenso die Vorschriften über Mindestlohn und Mindesturlaub, und Sie haben über nacht Millionen neuer Arbeitsplätze." - "Im Billiglohnsektor." - "Nein. Gerade die am höchsten qualifizierten und bezahlten Arbeitsplätze basieren heute auf kurzfristigen Einsätzen, die nach Stundenlohn abgerechnet werden. Glauben Sie im Ernst, ein hochqualifizierter EDV-Mensch würde sich langfristig an irgendein marodes Unternehmen binden, das morgen oder übermorgen Pleite machen kann?" - "Sie wollen also das gesamte Sozialsystem demontieren?" - "Demontage ist ein schlechter Vergleich. Der Bau ist so marode, daß er bald von alleine zusammen brechen wird; ich versuche nur zu zeigen, daß es auch ohne ihn geht, und zwar besser und billiger. Überlegen Sie mal, was Sie mit dem eingesparten Geld am Arbeitsmarkt alles bewirken könnten!"

"Wenn Sie die Schwarzarbeit der Illegalen verbieten," mischt sich seine Tischnachbarin ein, "dann kommen einige Wirtschaftszweige ganz zum Erliegen, zum Beispiel der private Baumarkt; ein Haus zu bauen ist jetzt schon so teuer, daß es kaum noch jemand bezahlen kann, wenn er sich nicht ein Leben lang verschuldet. Selbst mit den Schwarzarbeitern sterben die Bauunternehmen wie die Fliegen, und nicht nur die kleinen. Und es ist ja nicht nur der Bausektor. Meine alte Mutter könnte sich nicht mal eine Putzfrau leisten, wenn sie die nach Tarif bezahlen wollte oder mit dieser dämlichen Sozialversicherungskarte statt schwarz auf die Hand. Selber putzen kann sie nicht mehr, also müßte sie ins Heim, für ein Schweinegeld. Glauben Sie etwa, das wäre volkswirtschaftlich sinnvoll? Übrigens zahlt sie ihrer Putzfrau nicht 5, sondern 15.- DM pro Stunde; ich finde, das ist mehr als genug." Dikigoros denkt an einen seiner laufenden Fälle: Da hat die alte Mutter ihr gesamtes - nicht unbeträchtliches - Vermögen ihren Kindern überschrieben, sich anschließend im Altersheim angemeldet und die Kosten beim Sozialamt geltend gemacht. Das ist in Vorlage getreten und nimmt nun die Kinder - seine Mandanten - eiskalt in Regreß; und wenn er ehrlich ist, müßte er ein schlechtes Gewissen haben, wenn er diesen Prozeß gewinnen würde. Aber er erzählt nichts davon (schließlich unterliegt das der anwaltlichen Schweigepflicht), sondern fragt nur: "Und woher kommt diese tüchtige Putzfrau?" - "Aus Rumänien, spricht sich kaum ein Wort Deutsch, ist sich von deutschem Mann geschieden, bekommt Unterhalt und ist offiziell arbeitslos gemeldet; auch die hat also nicht das geringste Interesse daran, anders als schwarz zu arbeiten." Dikigoros bohrt ein wenig nach und erfährt, daß es die Frau war, die ihrem alternden Ehemann davon gelaufen ist und sich einen jüngeren [Lands-]Mann als Freund gesucht hat - auch das ist ja kein Einzelfall: Ausländerinnen suchen ein "Visaschwein", d.h. einen Blödmann, der sie heiratet und nach Deutschland holt, wo sie aller Segnungen des Sozialsystems teilhaftig werden - oft in betrügerischer Manier, wie hier -, und die Deutschen im allgemeinen und der gehörnte Ehemann im besonderen sind die Dummen. Wieviele Fälle dieser Art hat er schon in seiner Praxis erlebt - nicht nur aus Rumänien oder sonst aus dem ehemaligen Ostblock, sondern auch aus Afrika, Asien und Lateinamerika...

(...)

* * * * *

Über kaum einen anderen Feiertag werdet Ihr so viel Unsinn gehört haben, liebe Leser, wie über den 1. Mai. Und obwohl er theoretisch kein religiöser Feiertag (mehr) ist, haben sich doch vor allem die beiden großen Ersatz-Religionen des 20. Jahrhunderts, der Kommunismus und der National-Sozialismus, erbittert um ihn gestritten. Wo sonst fänden sich ihre Symbole - Hakenkreuz, Hammer und Sichel - so eng nebeneinander auf einem Feld?

Wenn Ihr Ossis seid, liebe Leser, dann habt Ihr sicher gelernt, daß der 1. Mai von den Sozialisten seit 1890 als "Tag der Arbeit" gefeiert wurde, also eine "Errungenschaft des Sozialismus" sei. Anderswo geht man sogar noch ein paar Jahre weiter zurück und behauptet, den "Tag der Arbeit" gebe es bereits seit 1886. Daran ist zunächst einmal falsch, daß es sich ja nicht um einen Tag der Arbeit, sondern um einen Tag des Nichtstuns bzw. des Streiks handelte, also bestenfalls um einen Tag der Arbeiter, die um ihre "Rechte" kämpften. In jenem denkwürdigen Jahr hatten einige von ihnen in den USA für höhere Löne und kürzere Arbeitszeiten gestreikt - wohlgemerkt nur einen Tag lang. Die Arbeitgeber sperrten sie dafür aus und stellten kurzfristig noch billigere Immigranten ein - mit denen konnte man es ja machen. (Aber das ist eine andere Geschichte.) Als dann auch ein paar der Streikenden wieder eingestellt wurden, feierten einige das als großartigen "Sieg der Arbeiterbewegung"; aber die Rädelsführer blieben selbstverständlich ausgesperrt und fanden auch sonst nirgendwo mehr einen Job (außer als Gewerkschafts-Bonzen :-); und in den USA ist der 1. Mai bis heute nicht als "Tag der Arbeit" anerkannt. (Der "Labor Day" wird vielmehr im September gefeiert.) Zweitens wurde er erst viel später zum gesetzlichen Feiertag gemacht, zuerst in Deutschland von den bösen Nazis - die sich ja in erster Linie als Arbeiterpartei verstanden und es wohl auch waren, allen Behauptungen der heutigen "Historiker" zum Trotz, daß es sich bei der NSDAP um eine "Partei der Kleinbürger" gehandelt habe. Und drittens hatten die Arbeiter weder bei den Nazis noch bei den Kommunisten wirklich etwas von diesem Tag; er war vielmehr mit allerlei Pflichtveranstaltungen wie dem Mitlatschen auf Umzügen - pardon, Demonstrationen heißt das ja heute auf Neudeutsch -, dem Anhören langweiliger Reden usw. verbunden, die incl. der Vorbereitungen (für die es kein Arbeitsfrei gab!) mehr Zeit und Arbeit kosteten als wenn man am 1. Mai ordentlich, d.h. wie sonst an einem normalen Werktag, gearbeitet hätte.

Ursprünglich war der 1. Mai ein "heidnischer" Festtag, an dem der Jahresbeginn gefeiert wurde; und nachdem die Kirche zunächst versucht hatte, ihn zu verteufeln bzw. zu verhexen, erfand sie schließlich die heilige Walpurga und übernahm den "Tanz in den Mai" als "Walpurgisnacht".

Und viele, die das mit den Hexen heute nicht mehr so ernst nehmen, machen da inzwischen gar keinen Unterschied mehr, sondern feiern einfach in den großzügig gewährten Feiertag hinein. Und während in "heidnischen" Zeiten in der Regel nur ein einziger Baum pro Dorf gefällt, an einem zentralen Platz aufgestellt und umtanzt wurde, werden heute alljährlich hunderttausende junger Bäume - zumeist Birken - ermordet, um sie irgendwelchen dummen Gänschen vor die Tür oder vors Fenster zu stellen, wo ihre Leichen dann einen Monat lang traurig vor sich hin welken. Und das ist ja in vielen Fällen - jedenfalls in der Stadt - längst kein individueller Liebesbeweis mehr, sondern vielmehr eine von darauf spezialisierten Unternehmen en gros vorgenommene Dienstleistung, mit anderen Worten: ein Massenmord, der längst nicht mehr durch "Brauchtum" zu rechtfertigen ist.

[Tanz in den Mai] [Maibaum]

Für Dikigoros war der 1. Mai dagegen lange Zeit der erste Wettkampftag der Freiluftsaison, denn da veranstaltete der Nachbarverein sein traditionelles Seniorensportfest. Aber dieses Jahr haben sie das Startgeld auf einen Schlag um knapp 100% erhöht, und da ist bei seinem Vereinsvorstand die Klappe runter gegangen, wie man so schön sagt: "Wie stellen regelmäßig die meisten Teilnehmer," sagt der Leiter der Leichtathletik-Abteilung, "wie kommen wir eigentlich dazu, deren Betrieb praktisch im Alleingang zu finanzieren? Wir können natürlich niemanden zu einem Boykott zwingen; wer aus eigener Tasche mitmachen will, kann das gerne tun; aber der Verein zahlt ab sofort das Startgeld nicht mehr; wir sind nicht dazu verpflichtet, es ist schließlich keine offizielle Meisterschaft." Und so gibt Dikigoros dem Quengeln seiner Frau nach, statt dessen mit ihr, nein, nicht auf den Brokken oder zum Bloksberg zu fahren, sondern... nach Heidelberg. "Die haben schon fast alles, was vor dem Krieg gefeiert wurde, abgeschafft," argumentiert sie, "wer weiß, wie lange die das noch dulden dort unten; außerdem war ich noch nie in Heidelberg."

Dikigoros versteht zwar nicht, warum man verbieten sollte, etwas zu feiern, bloß weil es die Nazis auch schon gefeiert haben; aber was soll's, fahren sie also zur alten Thingstätte. Die haben die guten Demokraten, die das Land heute regieren, tatsächlich lange Zeit bewußt verfallen lassen; aber da sich ihre Untertanen partout nicht eines besseren belehren lassen wollten, tolerieren sie es immerhin, wenn dort die traditionellen Maifeiern abgehalten werden, wenngleich nicht mehr in dem Umfang wie früher - aber es ist halt einer der wenigen Orte, an denen sie nicht zu "Feiern der Arbeiterbewegung" verhunzt werden. "Eigentlich wäre es ja doch gescheiter gewesen, zum Sportfest zu fahren, "grummelt Dikigoros vor sich hin, "wer weiß, wie lange ich das noch machen kann." - "Du kannst noch genug Sportfeste mitmachen," sagt seine Frau, "dafür komme ich auch dieses Jahr mit zur DM nach Hamm. Außerdem tut es deinen Achillessehnen ganz gut, wenn sie noch etwas geschont werden." - "Ja, künftig werde ich wohl die Wintersaison ausfallen lassen; je älter ich werde, desto mehr Probleme habe ich beim Laufen mit dieser verdammten Kälte."

"Das müssen Sie nicht so eng sehen," mischt sich ein Zeitgenosse mit Sonnenbrille, der neben ihnen steht und ihre Unterhaltung offenbar verfolgt hat, ein, "ein großer Schauspieler hat mal gesagt: 'Wenn ein Mann über 50 ist, sollte er nicht mehr laufen müssen.' Ich war auch mal aktiver Sportler; aber als ich 50 war, habe ich mir gesagt: Jetzt läßt du andere für dich laufen, und habe mir einen Fußballverein gekauft, den, für den ich früher aktiv war." - "Ja," sagt Dikigoros, "und ein paar Wochen später ist der große Schauspieler gestorben, ungefähr in Ihrem Alter, an Lungenkrebs oder Säuferleber, oder an beidem zusammen, jedenfalls nicht daran, daß er zu viel gelaufen wäre." - "Oh, Sie kennen sich im Filmgeschäft aus?" - "Nein, das ist das Spezialgebiet meiner Frau; aber ein paar Sportfilme kenne ich schon. Ich hatte das übrigens so in Erinnerung, daß er 'über 40' gesagt hat, aber vielleicht verwechsele ich das mit dem Roman, das Drehbuch hat den ja ziemlich verändert, und Humphrey Bogart war ja schon deutlich über 50, als er in 'Schmutziger Lorbeer' gespielt hat. Ich glaube nur, daß das ursprünglich anders gemeint war, nicht sportlich, sondern im Sinne von 'finanziell ausgesorgt haben', oder?" - "Keine Sorge, ich habe finanziell ausgesorgt; jetzt kann ich meinen Ehrgeiz ganz auf mein Hobby konzentrieren." - "Wo spielt Ihr Verein denn?" - "In einem kleinen Ort etwa 20 km von hier, der Name würde Ihnen nichts sagen." - "Nein, ich meine: in welcher Liga?" - "Als ich ihn vor 10 Jahren übernahm, spielte er noch in der Kreisklasse, jetzt spielt er schon in der Verbandsliga." - "Ah ja, das ist, Moment mal... fünftklassig, richtig?" [Anm. für jüngere Leser: Damals gab es noch keine 3. Bundesliga] - "Und wo läuft Ihr Verein?" - "Seit ich dabei bin, hat er noch jedes Jahr die Endrunde um die deutsche Meisterschaft erreicht." - "Und wie oft sind Sie deutscher Meister geworden?" - "Noch nie. An mir hat es nicht gelegen; aber irgendwer hat es immer verpatzt: mal die Kugelstoßer, mal die Diskuswerfer, mal die Langstreckenläufer..." - "Warum übernehmen Sie dann nicht diese Disziplinen?" - "Weil jeder Athlet nur in drei Disziplinen plus Staffel antreten darf; und ehrlich gesagt wäre mehr auch unvernünftig; für gewönlich sind wir froh, wenn wir am Wettkampfabend noch vier unverletzte Leute für die Staffel zusammen bekommen." - "Wenn Ihnen Athleten fehlen, warum kaufen Sie keine dazu?" - "Bei den Senioren wird nicht mehr gekauft, wir sind echte Amateure, nicht wie im Fußball, wo offenbar schon in der Verbandsliga Geld eine Rolle spielt." - "Ich gedenke nicht lange in der Verbandsliga zu bleiben; wir sind Tabellenführer und werden dieses Jahr sicher aufsteigen; und in 10 Jahren spielen wir in der Bundesliga." Dikigoros lächelt: "In 20 Jahren von der Kreisklasse bis in die 1. Liga? Das hat noch niemand geschafft." - "Ich werde der erste sein, wollen wir wetten?" - "Nein, das wäre doch glatter Raub; ich will Sie nicht arm machen." - "Ich habe mehr Geld als Sie im Leben ausgeben können." - "Mag sein, ich bin ja ein sparsamer Mensch; aber das haben schon andere geglaubt; und als sie gestorben sind, haben sie mehr Schulden hinterlassen als Sie im Leben einnehmen können. Sagen Ihnen die Namen Neckermann, Mast und Löring etwas?" - "Die habe ich alle persönlich gekannt; aber die verstanden doch nichts von Sport." - "Neckermann verstand nichts von Sport?" - "Nein. Sich auf einen Gaul setzen und ihm irgendwelche Pirouetten beibringen, ist kein Sport, sondern Tierquälerei. Und es kostet einen bloß Geld, ohne daß man damit irgendwelche Einnahmen erzielen könnte. Beim Fußball muß man nur eine vernünftige Ein- und Verkaufs-Politik betreiben, wie in jedem anderen Wirtschaftsunternehmen auch, dann kann er sogar Gewinn abwerfen." - "Das mag ja in der Verbandsliga klappen, und vielleicht auch noch in der Oberliga. Aber in der 1. Bundesliga kostet ein guter Spieler mehr als eine ganze Mannschaft in der Regionalliga; und die Preise steigen weiter; in 10 Jahren können Sie vielleicht schon 'ne Null dranhängen, wie wollen Sie das stemmen?" - "Ich sagte doch schon: wer gut wirtschaftet, kann mit einem Fußballverein Gewinn machen. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir auch deutscher Meister werden." - "Sie werden nicht nur finanzielle und sportliche Probleme haben, sondern man wird Ihnen auch juristische Knüppel zwischen die Beine werfen. Wenn Sie da mal Hilfe brauchen sollten..." und überreicht ihm seine Karte. "Ach, Sie sind Anwalt? Na, da müßte ich lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich mit denen immer gute Erfahrungen gemacht habe." - "Wahrscheinlich haben Sie sich die falschen Anwälte ausgesucht," sagt Frau Dikigoros und nimmt die Karte, die ihr Mann im Gegenzug überreicht bekommt, an sich, dann verabschieden sie sich.

"War das ein Spinner," sagt Dikigoros, als sie wieder zuhause sind, "noch nie ist ein Fußballverein so auf die Schnelle von ganz unten nach ganz oben gekommen; aber es gibt eine Menge Gegenbeispiele für Vereine, die mal in der 1. Liga gespielt haben, sogar Meister oder Pokalsieger waren, aber sehr schnell entweder bis in die Amateurklasse abgestiegen oder ganz verschwunden sind, wenn die Sponsoren abgesprungen sind, und wenn nicht, dann haben sie die mit in die Pleite gerissen. Eintracht Braunschweig, Bayer Uerdingen, Fortuna Köln..." - "Du, das ist kein Spinner," sagt Erika, die inzwischen im Internet nachgeschaut hat," der ist Milliardär und einer der reichsten Männer Deutschlands." - "Worin besteht denn sein Reichtum?" - "In Aktien einer Firma, die er selber gegründet hat; sie stellt Computer-Software her." - "Ach, noch so ein Computerfritze. Wie war das gleich mit Nixdorf? Ende der 1980er Jahre noch Milliarden-Umsätze, 1990 pleite und froh, daß Siemens die Konkursmasse übernommen hat. Escom vor ein paar Jahren dto, nach nur einem einzigen schlechten Weihnachtsgeschäft mit den falschen Prozessoren, und Vobis, den so genannten Marktführer, haben sie erst vor ein paar Wochen zerschlagen. Dabei hatten die wenigstens noch etwas Solides hergestellt, nämlich die Kisten; aber der da bastelt doch nur etwas Software zusammen. Wenn morgen eine bessere auf den Markt kommt, kann er seinen Laden dicht machen, und seine Aktiengesellschaft ist keinen Pfifferling mehr wert." - "Und Bill Gates?" - "Der ist halt die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Außerdem hat er sein Geld gut angelegt - der verplempert keine Millionen für einen fünftklassigen Fußballverein."

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