DER WEG DES TEES . . .
VON CHINA NACH CHINATOWN
EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE
Wenn von fernher Gleichgesinnte kommen - ist das nicht auch ein Grund zur Freude? Diese Frage mag der berühmte Konfuzius (so verballhornen die Westler "Kung Fu-tse") nur retorisch gemeint haben; aber wer sie gedankenlos einfach mit "ja" beantwortet, übersieht zweierlei: Erstens das "auch" - in erster Linie galt und gilt den Chinesen alles Fremde als bedrohlich, also als Grund zu Ablehnung, Furcht und Mißtrauen. Zweitens das "Gleichgesinnte". Konfuzius fragt ja nicht: "Wenn von fernher Fremde kommen..." Was aber bedeutet "Gleichgesinnte"? Heute scheinen viele politische korrekte Gutmenschen in China, Deutschland und anderswo auf der Welt zu glauben, es bedeute eine gleich geschaltete ideologische Gesinnung; aber so meinte Konfuzius das sicher nicht. Ge-sinnung ist ursprünglich der alte germanische Plural von "Sinn", und es sind die Sinne, die zusammen genommen über unsere "Gesinnung" entscheiden und darüber, ob Menschen im allgemeinen und Völker im besonderen Freunde werden können - egal wie fern und fremd sie einander räumlich sind (merke: auch Gegensätze können einander anziehen!) - oder nicht. Wir leben heute in einer Welt, die hauptsächlich durch Sehen und Hören geprägt ist - wir können uns vor der Überflutung durch künstliche optische und akustische Reize rund um die Uhr kaum noch retten. Aber wie ließ schon Shakespeare seinen Hamlet sagen: "Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt, liebe Filosofen." (Heute hätte er das sicher um die Politologen, Psychologen und Soziologen ergänzt :-) Und dazu zählt auch der im Zeitalter der Tiefkühltruhe und der Mikrowelle so arg vernachlässigte Geruchs- und Geschmackssinn. Es mag sein, daß Menschen einander schon ablehnen, weil ihnen die Hautfarbe oder die Nasenspitze des anderen nicht gefällt - vor allem Chinesen, aber auch andere Ost-Asiaten, pflegen z.B. einen ausgeprägten Widerwillen gegen "Langnasen" und "Neger" zu haben -, aber das sind letztlich Vorurteile, die sich überwinden lassen. Wenn man dagegen jemanden nicht riechen kann, dann ist das mit der "Freude" schon viel prekärer. Wohlgemerkt: Die Geschmäcker sind verschieden, und Dikigoros glaubt nicht, daß man in jedem Sinn (und in jedem Unsinn :-) überein stimmen muß, um gut mit einander auszukommen oder sogar gut Freund zu sein - das wäre ja jene "Gleichschaltung", von der er eben schrieb -; aber zumindest in zwei Dingen sollte man den gleichen Geschmack haben: erstens in Sachen Teetrinken (denn der Mensch ist nicht nur was er ißt, sondern auch was er trinkt :-) und zweitens in Sachen Reisen, denn bei keiner anderen Gelegenheit werden die Sinne so erprobt und geschärft wie auf Reisen in ferne Länder: Man sieht Menschen, die anders ausschauen, man ißt und trinkt Dinge, die anders riechen und schmecken, und man hört Musik und Sprachen, die anders klingen als man das von zuhause gewohnt ist. Vordergründig haben Deutsche und Chinesen in Sachen Reisen etwas gemeinsam: Noch bis ins 20. Jahrhundert galt es bei ihnen (jedenfalls in jeweils einem ihrer Staaten) als todeswürdiges Verbrechen, ins Ausland - auch und gerade wenn es gar nicht so fern und eigentlich auch gar nicht so fremd war - reisen zu wollen. Und vielleicht werden wir eines Tages wieder dorthin kommen - hat nicht kürzlich ein Politbonze die Deutschen aufgerufen, weniger Urlaubsreisen ins Ausland zu machen, um die Zahlungsbilanz der BRD nicht zu gefährden? Wozu auch selber ins Ausland reisen? Die Tagesschau und andere staatliche Rundfunk- und Fernseh-Sedungen erklären uns doch die Welt, wie wir sie sehen sollen; und ein Untertan, der sich nicht an diese verbindlichen, da politisch-korrekten Vorgaben hält, weil er es etwa im Ausland anders gesehen oder gehört hat, der ist ohnehin ein Gedankenverbrecher und gehört [mund]tot gemacht!
Aber solche negativen Gemeinsamkeiten sind wohl kaum geeignet, Freundschaften zu begründen - allenfalls ähnliche ideologische Gesinnungen, und die meint Dikigoros hier nicht. Er will vielmehr auf einen grundlegenden Unterschied in den Welt-Anschauungen hinaus, den er Euch am besten an einem praktischen Beispiel erläutert: Der deutsche Dichter Christian Morgenstern schrieb einmal: "Wer das Ziel nicht kennt, wird den Weg nicht finden." Der chinesische Volksmund hält es dagegen mit dem Satz: "Der Weg ist das Ziel". In den 1920er Jahren reiste die Volksdeutsche Alma Karlín nach Japan und brachte von dort folgende hübsche Sage über die Herkunft des Tees mit: "Dharma war ein buddhistischer Weiser, der sieben Jahre mit dem Gesicht der Mauer zugekehrt saß, um besser über die Welträtsel nachdenken zu können. Im Anfang fiel ihm das Wachen schwer, und als der Schlaf sich seiner immer wieder bemächtigen wollte, riß er sich Augenwimpern und Augenlider aus und warf sie erzürnt auf die Erde. Daraus entsprang die Teestaude, damit Leute, die wachen wollten, sich nicht länger die Lider auszuzupfen brauchen." An dieser Sage war zwar so ziemlich alles verkehrt, was nur verkehrt sein konnte, denn Dharm(a) war ein indischer (Schicksals-)Gott; und wenngleich Indien zur Zeit Karlíns bereits das größte Tee-Anbaugebiet der Welt war, so stammte der Tee doch ursprünglich nicht dorther, sondern aus China. Aber das weiß Tarzan noch nicht, als er Karlíns Buch liest. Er weiß auch noch nicht, daß der Satz aus dem chinesischen Volksmund - im Westen allgemein Konfuzius zugeschrieben - auf einem Übersetzungs- und Verständnisfehler beruht. Er soll gesagt haben: "zhi yu dao [ich konzentriere mich auf Dao]". Nun mag zwar Zentrum mit "Ziel" gleich zu setzen sein - jedenfalls bei der ältesten chinesischen Sportart, dem Bogenschießen -, und "Dao" ist, wörtlich übersetzt, der Weg (wenn Ihr Euch für fernöstliche Kampfsportarten interessiert, liebe Leser, kennt Ihr den Begriff in seiner japanischen Form "Do" aus Ju-Do, Taek-Won-Do oder Aiki-Do). Aber der alte Meister hat das Wort in einem ganz anderen Zusammenhang und in einer ganz anderen Bedeutung gebraucht, nämlich einer religiös-filosofischen - Ihr kennt diese andere Bedeutung vielleicht aus dem "Taoïsmus". Der hat sich wiederum nur in China durchgesetzt, im alten China, dem Land der Reisenden - und Tee-Trinker, und damit sind wir beim Thema.
Tarzans Elternhaus hat ihn nicht gerade zum Tee-Trinker prädestiniert: Sein Vater kam aus einfachen Verhältnissen und träumte als Kind davon, sich irgendwann regelmäßig "ordentlich satt essen und trinken" zu können: unter der Woche Bratkartoffeln mit Speck (womöglich mit einem Spiegelei als Krönung - zweimal die Woche gab es auf dem Markt verbilligte "Knickeier", das kam damals, als die Hühner noch nicht in der Legebatterie hockten, noch vor; die konnte man zwar nicht zum Frühstück kochen, aber um sie in die Pfanne zu hauen, waren sie gut genug, wenn man sie sofort verbrauchte), am Wochenende Rinderrouladen (Rindfleisch war knapp und teuer - dafür gab es noch kein BSE -, deshalb wurde es 1:1 mit fettem Schweinespeck eingerollt - der war billig) mit Salzkartoffeln (was übrig blieb wurde zu Kartoffelmus gestampft und kam am nächsten Tag wieder auf den Tisch) und frischem Gemüse, zu Weihnachten Würstchen mit Kartoffelsalat (Tarzans Vater war ein großer Kartoffel-Freund, wie viele, die mit Graupen-Suppe aufwuchsen und aus den Erzählungen ihrer Eltern noch die "Steckrüben-Winter" des Ersten Weltkriegs kannten), dazu exotische Früchte wie Apfelsinen und Bananen (von Pampelmusen oder Ananas wagte man nicht einmal zu träumen, von Kiwis oder Avocados hatte man noch nie gehört), zu Silvester Heringssalat mit Pellkartoffeln; und der Gipfel seiner Fantasie war es, sich einst - womöglich täglich - "Luxus-Güter" wie Butter auf schönem, hellem Weißbrot und echten Bohnen-Kaffee leisten zu können. Als kleiner Junge bekam er bestenfalls Margarine aus Walfisch-Tran aufs "Butter"-Brot geschmiert, höchstens zum Geburtstag "Muckefuck" genannten Malz-Kaffee, und sah sehnsüchtig zu, wie die großen Übersee-Dampfer im Hamburger Hafen einliefen, aus denen die geheimnisvollen Kaffee-Säcke entladen wurden. (Auf Menschen, zumal auf junge, üben ja bekanntlich diejenigen Dinge den größten Sinnes-Reiz aus, die sie nicht haben.) Seine Eltern hatten ihm erzählt, daß im fernen Brasilien Spekulanten die reichen Kaffee-Ernten billig aufkauften und tonnenweise verbrannten, um zu verhindern, daß der Export-Preis auf ein für alle erschwingliches Niveau fiel...
Tarzans Mutter stammte zwar aus weniger ärmlichen Verhältnissen (ihr Großvater hatte sogar ein eigenes Café betrieben, bevor er Ofen verlassen mußte, das jetzt Buda-Pescht heißt), aber ihre Eltern hatten im Ersten Weltkrieg und in der Inflation danach alles verloren, und für sie war es eigentlich noch schlimmer als für jemanden, der Armut und Hunger von klein auf gewohnt ist. Als junges Mädchen schaute sie nicht weniger sehnsüchtig den reichen Gästen der großen Wiener Cafés zu, wie sie an ihrem teuren Getränk in den kostbaren Porzellan-Tassen nippten, das sie selber sich nie hätte leisten können, und dazu Sacher Torte, Linzer Torte und Mohn-Kuchen schlemmten, während sie selber zeitlebens dem Brauch ihrer Mutter folgte, einem frischen Brotlaib vor dem Anschneiden auf der Unterseite Kreuze einzuritzen, als symbolisches Gebet um das tägliche Brot - was damals, als viele Menschen Hunger litten, ganz wörtlich gemeint war. Im Krieg gab es dann erst recht Kanonen statt Butter und Ersatz-"Kaffee" aus Zichorie-Pulver - was die Sehnsucht nach diesen unerreichbaren Mangelwaren noch verstärkte; Tarzans Vater haßte die Brasilianer, diese Kaffee-Vernichter, gegen die er in Italien kämpften mußte, aus vollem Herzen und aus halb-leerem Magen.
Nach der Währungs-Reform von 1948 kostete ein Pfund Kaffee - nicht zuletzt wegen des hohen Zolls - 40.- harte DM (entsprechend einer Kaufkraft von ca. 400.- Teuro nach der Währungs-Reform von 2002). [Und das waren die Preise in Hamburg, wo die Ware ankam; wie Dikigoros später in den Memoiren einer heute vergessenen Schauspielerin las, lagen sie im Landesinneren noch höher, z.B. in Berlin bei 55.- DM!] Wer sollte sich das jemals leisten können? Niemand, denn der hohe Zoll sollte gar nicht den Staats-Säckel füllen, sondern prohibitiv wirken: die Bevölkerung eines verarmten Landes, in dem es noch nicht genug zu heizen, geschweige denn zu essen gab, sollte ihre knappen Ressourcen nicht für überflüssige Luxus-Genußmittel verplempern. (Die Einfuhr von noch überflüssigeren Dingen, wie Kakao und Schokolade, war zunächst ganz verboten.) Die Schmuggler hatten Hochkonjunktur, und Tarzans Vater als Zöllner mußte sie jagen. Aber langsam ging es bergauf (später sagte man "Wirtschaftswunder" dazu, obwohl es gar kein Wunder war, sondern nur das Ergebnis harter Arbeit), die Löhne und Gehälter begannen allmählich zu steigen, der Zoll auf Kaffee wurde ermäßigt, von 48.- auf "nur" noch 14.- DM pro Kilo. Die Gebrüder Albrecht eröffneten ihren Kaffee-Discounter und begannen die Preise zu senken; später machten es ihnen die großen Kaffee-Röstereien aus Bremen und Hamburg nach. Tarzans Vater kaufte eine hölzerne Kaffee-Mühle und malte die braunen Bohnen jeden Sonnabend, wenn er von der Arbeit kam - später, als er sich allmählich höher gedient hatte und etwas mehr Gehalt bekam, sogar täglich - von Hand (sie im Laden malen zu lassen, hätte damals noch einen Aufpreis gekostet), und Tarzans Mutter kochte den Kaffee dann, wie es der Türkei-Reisende Kolschitzky anno 1683 in Wien eingeführt hatte: so stark, daß der Löffel beim Umrühren beinahe darin stehen blieb. Sobald sie sich die Zutaten leisten konnte, besorgte sich die Mutter auch die Rezepte der Wiener Kuchen und Torten und lernte, sie selber zu backen. "Mehr als gut essen und trinken können die Reichen auch nicht," pflegte sie zu sagen, "was man gegessen und getrunken hat, kann einem kein Krieg wieder wegnehmen. 1945 hätte ich mir nicht träumen lassen, daß es uns einmal so gut gehen würde." Und setzte noch einmal Kaffee-Wasser auf. Mit so bescheidenen Dingen konnten Menschen damals, als es noch keine Anspruchs-Gesellschaft und keinen Konsum-Terror gab, glücklich und zufrieden sein! Teure Klamotten? Wozu? Tarzans Vater trug im Dienst Uniform, zuhause am liebsten seinen alten blauen Torwart-Pullover aus Jugendzeiten (zu seinem ursprünglichen Zweck brauchte er ihn nicht mehr, denn seit seiner Kriegsverwundung konnte er nicht mehr Fußball spielen), Tarzans Mutter kaufte sich eine elektrische Nähmaschine und schneiderte ihre Kleider selber (früher gab es noch Frauen-Zeitschriften, die nicht Klatsch und Tratsch zum Thema hatten und bei welchem Mode-Chirurgen frau sich am besten Silikon in die Titten spritzen lassen konnte, sondern solche mit Schnittmustern für Hobby-Schneiderinnen und Rezepten für Hobby-Köchinnen - wenngleich der Beruf der Hausfrau eigentlich kein "Hobby" war in einer Zeit, als es noch keine Wasch- und Geschirrspül-Maschinen, elektrischen Herde, Staubsauger und Bügeleisen, geschweige denn Tiefkühltruhen und Mikrowellen gab), und die Kinder bekamen Sachen von Geschwistern, Freunden und Bekannten zum Auftragen, fertig.
[Exkurs. Tarzans Elternhaus war übrigens kein Einzelfall. Damals gaben die Leute im statistischen Durchschnitt fast 50% ihres Einkommens für Essen und Trinken aus. Heute, nach Jahrzehnten "gesellschaftlichen Fortschritts", von dem wir in den Medien lesen können, sind es nur noch 10-15%; dafür gehen im Schnitt 50% für Steuern und Sozial-Abgaben drauf. Ob das wirklich besser ist? Macht es Sinn, die Frauen und Mütter arbeiten zu schicken, bei Steuerklasse V und doppelten Sozial-Abgaben? Damit sie der Familie statt ordentlichem Essen Junk-food vorsetzen und auch sonst kaum noch Zeit haben für Mann und Kinder? Ist das etwa ein Gewinn an Lebensqualität? Für wen? Und da wir eben beim Schneidern waren und gleich noch aufs Fotografieren und Musizieren und die dafür notwendigen Gerätschaften kommen werden: Die Nähmaschine aus dem Hause
Pfaff,
die Tarzans Mutter in den 1950er Jahren kaufte, hat über 40 Jahre lang ihren Dienst getan (ebenso die mechanische Schreibmaschine aus dem Hause Olympia, die Tarzans Vater damals kaufte und die ihre Herstellerfirma um Jahrzehnte überlebt hat - nur der Name lebt weiter, nach Rotchina verkauft; was dort allerdings heute unter demselben produziert wird, ist ein solcher Schrott, daß er nur im Inland abgesetzt werden kann :-) und sie hätte das sicher noch länger getan, wenn Grete nicht im Alter Probleme mit den Augen bekommen hätte und sowohl ihre Tochter als auch ihre Schwiegertochter zu faul zum Selbernähen gewesen wären. Das war noch echte deutsche Wertarbeit. (Ganz zu schweigen von der alten, mechanischen Nähmaschine von Tarzans Oma, die mit einem Fußpedal angetrieben wurde statt mit Strom; die war noch full funktionstüchtig, als sie nach fast 70 Jahren Einsatz ins Heimatmuseum wanderte.) Wie überhaupt die meisten deutschen Produkte der 1950er Jahre. (Könnt Ihr Euch das überhaupt vorstellen, liebe junge Leser, die Ihr den Wegwerf-Schrott aus Rotchina gewohnt seid, der kaum einen Tag länger hält als die gesetzliche Mindestgarantie, oder nicht mal so lange? Oder haltet Ihr das für Ammenmärchen? Aber es ist die Wahrheit!) Tarzan und seine Frau haben im Laufe der Jahrzehnte so manches neue Haushaltsgerät angeschafft und längst wieder auf den Müll geworfen. Aber er benutzt bis heute das alte Geschirr seiner Tante - das ist geschirrspülmaschinenfest, einschließlich des falschen Goldrands! -, das alte Besteck seiner Mutter - einschließlich der hölzernen Kochlöffel - und die alten Kochtöpfe seiner Schwiegermutter - unverwüstliches Material mit ordentlichen Henkeln, an denen man sich auch ohne Topflappen nicht die Finger verbrennt. Und selbst einige der alten Kochrezepte seiner Mutter verwendet er noch, vor allem wenn es um Mehlspeisen geht. (Na ja, wenn man davon absieht, daß er den Zucker durch Süßstoff ersetzt und die tierischen Fette durch pflanzliche; aber das tut dem Geschmack keinen Abbruch.) Er bedauert nur, daß es für den schönen alten Gasherd, auf dem er Kochen gelernt hat, keinen Anschluß mehr gibt; zwar beherrscht er die Elektroplatten inzwischen virtuos; aber so richtig hat er sich nie mit ihnen angefreundet. Und das älteste Küchenutensil reicht sogar noch vor die 1950er Jahre zurück: eine numerierte
Junghans-Uhr,
die Tarzans Vater aus dem Krieg mitgebracht hat, und die nicht nur den Absturz des Flugzeugs überlebt hat, in das sie mal eingebaut war, sondern auch ein knappes Dutzend neuerer Küchenuhren, die längst ihren Geist aufgegeben haben. Gewiß, sie hat einige schwer wiegende Nachteile: Das schlichte Gehäuse genügt keinen modischen Ansprüchen - nicht mal die amerikanischen BesatzerBefreier, die sonst so scharf auf deutsche "Nazi-Uhren" waren, hatten Interesse an ihr -; es ist keine Batterie drin, d.h. man muß sie jeden Tag mühsam aufziehen - eine anstrende Arbeit, die sage und schreibe 5-10 Sekunden kostet; und sie ist auch nicht funkgesteuert, d.h. sie geht jeden Tag mehrere Sekunden nach, man muß sie also von Zeit zu Zeit nachstellen. Nicht auszudenken, wenn jeder so unverantwortlich wäre, etwas Derartiges zu benutzen: Was würde aus den Herstellern und Importeuren billiger Ramschuhren in bzw. aus Rotchina, was aus den Produzenten hochgiftiger Batterien und ihren Entsorgern, und was aus den Ärzten, die von Patienten mit Strahlungsschäden leben? Exkurs Ende.]
Aber die Geschmäcker sind wie gesagt verschieden. Tarzan kann die Begeisterung seiner Eltern nicht so recht nachvollziehen, mangels einschlägiger Erfahrungen - er hat nie gehungert und auch nie empfunden, daß er irgendwelche Speisen hätte entbehren müssen. Man kann sich auch ohne teures Essen gut und vor allem gesund ernähren - wiewohl es damals noch keine Diät-Pläne und anderen Firlefanz gab; man machte einfach aus der Not eine Tugend. Der Metzger bot kein bezahlbares Fleisch an? Na wenn schon: Milchreis mit Zimt und Zucker, Nudeln mit Tomatensauce oder Krautfleckerln taten es auch. Spätestens am Wochenende mußte er ja mit den Preisen runter gehen, dann reichte es jedenfalls für Kohlrüben mit Hammelbauch (bevor die türkischen Gastarbeiter nach Mitteleuropa kamen war es noch nicht verpönt, das zu essen, ebenso wenig, Kopftücher zu tragen, wenn frau sich keinen Hut leisten konnte und keine Dauerwelle, die davon hätte Schaden nehmen können) oder für einen Schweinebraten (marmorierter Nacken am Knochen - billiger und viel besser als so ein trockener Schinkenbraten von heute) mit Rotkohl und Knödeln (natürlich selbst gemacht, nicht aus der Dose oder dem Kochbeutel). Und was der Metzger bis Sonnabend nicht los wurde, drehte er durch den Fleischwolf und verkaufte es am Montag billiger; zusammen mit den altbackenen "Rundstücken" (für Wessis: Brötchen, für Ossis: Schrippen, für Südis: Semmeln), auf denen der Bäcker sitzen geblieben war, und ein paar Zwiebeln, die beim Gemüsehändler übers Wochenende zu keimen begonnen hatten, konnte man daraus prima Bouletten machen. (Niemand in Deutschland wäre damals auf die Idee gekommen, die "Hamburger" zu nennen - auch und erst recht nicht in Hamburg! "Frankfurter" und "Wiener" [Würstchen], ja, die kannte man, auch "Berliner" [schlaffe Rundstücke mit Zucker und Marmelade] und vielleicht noch "Kieler" [Sprotten] und "Königsberger" [Klopse mit Kapern-Sauce], aber das wars dann auch.) Und wenn der Metzger keine Reste für Hackfleisch über hatte, dann bestimmt der Fischhändler, dann gab es halt Fisch-Frikadellen. So weit, so gut. Aber warum sollte man zu irgend einem dieser Gerichte Kaffee trinken (zumal ungesüßt, also bitter, und "schwarz" - Zucker und Kondensmilch waren knapp und teuer)? Tarzan ist dieses Gesöff sein Lebtag ein Greuel gewesen, ebenso wie er nie Rindfleisch gemocht hat, keine Butter und kein labberiges Weißbrot, sondern lieber Pflanzen-Margarine auf Schwarzbrot gegessen hat, und statt Kartoffeln lieber Nudeln. Doch was sollte die Alternative zum Kaffee sein? Tee? Bah pfui, dieses komische, bröselige Zeug aus dem Zellofan-Beutel mit der falschen Herkunftsbezeichnung "englisch", "friesisch" oder "ostfriesisch" - was nur besagte, daß es dort zusammen gepanscht und der undefinierbare Geschmack mit Bergamotte-Öl oder anderen fragwürdigen Geruchsstoffen überdeckt wurde. Das gab es nur, wenn Besuch kam, für den einem der (immer noch vergleichsweise teure) Kaffee zu schade war...
Tarzans Elternhaus hat ihn auch nicht zum Reisenden prädestiniert. Der Pauschal-Tourismus für die breiten Massen war noch nicht erfunden (zumal man noch nicht so viel Urlaub hatte wie heutzutage), und der Individual-Tourismus war zu teuer, selbst in deutschen Landen, vom Ausland ganz zu schweigen - Devisen waren knapp in den Gründerjahren der Bundesrepublik. Die wenigsten Deutschen hatten ein eigenes Privat-Auto - Tarzans Vater auch nicht. (Im Dienst fuhr er einen alten grauen VW Käfer, Ausführung "Standard", mit dem kleinen Heckfenster, durch das man kaum etwas sah, mit so wenig PS, daß überzählige Mitfahrer an etwas schärferen Steigungen aussteigen und schieben helfen mußten; mehr hatte der Staat für kleine Zollbeamte nicht übrig - kein Wunder, daß der Schmuggel blühte und sich vor allem die Kaffeehändler eine goldene Nase verdienten.) Und Tarzans Mutter hatte nicht mal den Führerschein. Ohnehin hatten die meisten Deutschen nach sechs Jahren "Reisen auf Staatskosten" die Nase voll von fremden Ländern - auch Tarzans Eltern: Sein Vater war in der Ukraïne, in Italien (nein, nicht an der Adria und nicht zum Baden!) und in Kurland, seine Mutter in Serbien und in Norwegen - ihr Bedarf war langfristig gedeckt. Und Fremde aus der Ferne waren genug im Lande, allerdings nicht als "Gleichgesinnte", sondern als Besatzer, pardon Befreier und Beschützer. Da Hamburg zur britischen Besatzungszone gehörte, erkannte man die freilich nur an den Uniformen und der Sprache - der einzige Neger, den Tarzan kannte, war der Sarotti-Mohr auf der Verpackung der gleichnamigen Schokolade, und Schlitzaugen kannte er nur aus dem Märchen. Bis zu seinem 17. Lebensjahr hat Tarzan nie woanders Urlaub gemacht als bei seiner Großmutter an der Ostsee, in einem kleinen Fischerdorf mit Marine-Hafen, das seit dem 13. Jahrhundert, als es die "Stadt"-Rechte erhalten hatte, nicht mehr nennenswert gewachsen war, wo noch bis in die 60er Jahre Pferdefuhrwerke durch die "Straßen" zogen, der "Strand" eine dürftige Mischung aus Sand, Seetang und Treibholz war (ja, liebe Neustädter, die Ihr das verdrängt habt, der weiße Sandstrand an der "Promenade" wurde erst in den 70er Jahren künstlich aufgeschüttet!) und das Wasser immer dreckig (die Abwässer wurden mehr oder weniger ungefiltert hinein geleitet, die Abflußrohre lagen bei Ebbe offen zutage), meist kalt (ab 14° ging man baden, mehr als 18° wurde es auch in den Sommerferien nur selten) und oft voller Quallen - deshalb schwimmt Dikigoros bis heute zwar gut, aber nicht gerne. Direkt am Hafen wohnte Tarzans Großonkel Erich, da gab es wenigstens Dosenmilch zum Kaffee, denn er arbeitete bei Glücksklee - einer Tochter der amerikanischen "Carnation Inc." (die inzwischen - ebenso wie Sarotti - vom Schweizer Megakonzern Nestlé geschluckt worden ist, dessen "Bärenmarke" sie mit ihren "Glücklichen Kühen" einst ernsthafte Konkurrenz gemacht hatte; damals waren Kühe noch nicht lila, sondern grün, und Bären - und Politiker - noch kein Problem :-).
Und einmal im Jahr sammelten sich die Vertriebenen-Verbände aus ganz Mittel- und Osteuropa und feierten eine "Europäische Trachtenwoche", die sich heute auf Neudeutsch "Folklore-festival" nennt und nur noch von einem traurigen "Volkstanzkreis" beschickt wird - während der verfemte "Heimatbund" zu einem Naturschutzverband umfunktioniert worden ist, wie alles, was mit jener Veranstaltung ursprünglich verbunden war, aus "Gesinnungs-Gründen" offiziell verdrängt worden ist. (Über das, was in Neustadt sonst noch verdrängt wird schreibt Dikigoros, da es vor seiner Zeit war, an anderer Stelle.)
Auch andere Freizeitvergnügungen waren dünn gesät, jedenfalls in Tarzans Elternhaus: Fernsehen gab es noch nicht; Radio, Grammofon (das, liebe jüngere Leser, war der Vorläufer des Plattenspielers, oder wenn Ihr auch den nicht mehr kennt, des CD-Players) und Telefon brauchten sie nicht, denn die hatte ja der mittlere Bankangestellte, bei dem sie zur Untermiete wohnten - in ihren Augen ein wahrer Krösus, denn er konnte sich im ausgebombten Hamburg, dessen Wiederaufbau nur langsam voran ging, eine richtige Wohnung leisten. (Und den Luxus, gleich nach dem Krieg amerikanische Zigaretten - die doch eigentlich als Währungsersatz gedacht waren - zu rauchen! Sehr zur Freude des Lungenkrebses, dem er mit Mitte fünfzig erliegen sollte.) Kino? Tarzan kann sich nicht erinnern, als Kind jemals im Kino gewesen zu sein. Theater, Konzert? Das Geld hätte nicht mal für's Ohnsorg-Theater gereicht, und musiziert wurde zuhause, auf der Mundharmonika. Wenn mal ein interessantes Fußball-Oberliga-Spiel statt fand (die Bundesliga war noch nicht gegründet), ging Tarzans Vater hin, aber ohne Familie. Nein, nicht ins Volkspark-Stadion (das damals noch nicht "AOL-Arena" hieß) - im Volkspark ging er allenfalls spazieren, mit Familie, das kostete nichts, nicht mal die Straßenbahn, denn sie wohnten ganz in der Nähe. Auch nicht zum Rothenbaum, wo der HSV damals spielte, denn dort waren die Eintrittspreise zu hoch. Erst recht nicht zum Heiligengeistfeld, wo der FC Sankt Pauli spielte, denn dort stand noch der alte Luftschutz-Bunker, den die Alliierten trotz mehrerer Versuche auch nach 1945 (beim nächsten Krieg sollten die Hamburger ihrem Bombenterror noch schutzloser ausgeliefert sein als sie es im vorigen schon waren) nicht gesprengt bekommen hatten, der weckte unschöne Erinnerungen. (Das Stadion hieß noch nicht nach Kalli Miller, dem Metzgermeister, der in den 1940er Jahren die Spieler des FC über die Lebensmittelmarken hinaus mit Fleisch versorgte und so zeitweise Balltreter aus ganz Mitteleuropa anzog, vor allem aus Ossiland - die besten kamen aus Dresden und überlebten so das Bomben-Inferno vom Februar 1945. Auch Tarzans Patentante hatte es so von der Ober- an die Unterelbe verschlagen.) Aber Altona 93 war vor Gründung der Bundesliga noch "erstklassig", und dort kostete der Stehplatz in der Kurve nur ein paar Groschen, ebenso bei Barmbek-Uhlenhorst. (Für jüngere Leser: Das ist der Verein, bei dem z.B. Andreas Brehme und Stefan Effenberg als Jugendliche gegen den Ball traten.)
Inzwischen ist viel Wasser die Elbe hinunter geflossen. Das interessiert Tarzan aber nicht mehr sonderlich, denn inzwischen hat sein Vater "Karriere" gemacht (damals war das noch ohne Parteibuch möglich - jedenfalls solange sich der Ehrgeiz auf die gehobene Beamtenlaufbahn beschränkte) und ist ins Bundeshauptdorf versetzt worden. Dort geht es anfangs noch sehr idyllisch zu: Im Rhein kann man noch baden, in der Gronau und in den Rheinauen (die noch richtige Auen sind, keine künstlichen Biotope zur Abhaltung von Bundesgartenschauen) weiden Schafherden, und am Nordrand der Stadt - wo heute eine häßliche Autobahn-Brücke über den Rhein führt - wachsen wilde Tomatensträucher am Ufer. Als Tarzan studiert, verdient sein Vater - der inzwischen ein Auto, einen Fernseher, ein Telefon und sogar ein altes Klavier für seine Kinder angeschafft hat, also fast schon zum "Establishment" gehört - gerade so viel, daß sein Sohn keine staatlichen Zuwendungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz ("BAFöG") bekommt (eine der vielen Idiotien des "Sozial-Staats", die ihn nicht gerade zu dessen Freund machen). Also hat Tarzan weniger als seine Kommilitonen aus ärmeren oder reicheren Elternhäusern, die es sich leisten können, in einer größeren Universitäts-Stadt zu studieren, oder - wenn sie Beziehungen haben und ein Stipendium bekommen - sogar an einer "besseren" Universität im Ausland. Aber er empfindet das nicht als Entbehrung (zumal inzwischen auch er beim Militär ein wenig von der Welt gesehen hat - aber darüber schreibt er an anderer Stelle), sondern bleibt zuhause und nährt sich redlich, zusammen mit seinen Freunden Olli, Benni und Richie. Sie haben sich im Schneeball-System kennen gelernt: Olli studiert Geschichte, Benni studiert Geschichte und Englisch, Tarzan studiert Geschichte, Englisch und Jura, Richie studiert offiziell Jura, macht aber eigentlich "Studium universale", d.h. von allem etwas. Die vier treffen sich fast täglich, um gemeinsam Musik zu hören, Schach zu spielen oder einfach nur Tee zu trinken - weshalb die Studien-Kollegen das vierblättrige Kleeblatt im Scherz auch das "vierblättrige Teeblatt" nennen. Unweit der Universität hat ein Tee-Laden - der erste am Ort, damals noch etwas ganz "exotisches" - aufgemacht; ein großzügiger Professor hat sie eines Abends nach dem Seminar eingeladen, so sind sie auf den Geschmack gekommen; nach und nach probieren sie nun alle Tee-Sorten durch - japanische, chinesische, indische, afrikanische und südamerikanische - und nehmen sich vor, eines Tages, wenn sie es sich leisten können, in die Heimat des Tees zu reisen und seinen Weg ins heimische Europa nachzuvollziehen. Bis dahin machen sie sich schon mal aus klugen Büchern schlau, und reisen mit dem Finger auf der Landkarte in die Vergangenheit: In China trinkt man Tee schon seit unvordenklichen Zeiten. Dort haben ihn die Engländer kennen gelernt und nach Indien gebracht, und von dort nach Europa... "Halt," sagt Olli, "so einfach war das nicht." Er hat seine Tee-Forschungen mit der gleichen Gründlichkeit betrieben wie er sein Studium betreibt, was dazu führen wird, daß er nie einen Abschluß machen und - wie weiland Emanuel Kant - nie aus seiner Geburtsstadt heraus kommen wird (er ist in der kleinen Universitäts-Stadt geboren und liegt dort auch begraben). Warum soll man sich etwas einfach machen, wenn es doch eigentlich viel komplizierter ist? Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen; und die vielen Tee-Länder wird er nie aus eigener Anschauung kennen lernen - aber er kann seinen staunenden Gästen ganz genau erzählen, wie es denn gewesen ist:
In China trinkt man den Tee "grün", d.h. unfermentiert, da ist er am anregendsten, oder höchstens halb-fermentiert. So lernte ihn dort schon Marco Polo kennen. Auf der Seiden-Straße, über Samarkand und Bukhara, gelangte er dann durch Rußland nach Europa, auf dem Seeweg nach Japan und nach Indien - allerdings nicht auf englischen, sondern arabischen Schiffen, denn damals saßen in Indien die Groß-Mogule. Nur ein paar Hafen-Städte gehörten den Europäern, z.B. den Briten Kalkattā, ein Fischer-Dorf am Golf von Bengalen (das sie auf Englisch "Calcutta" schreiben und die doofen Deutschen deshalb "Kalkutta" aussprechen; die Bengalen selber schreiben es heute "Kolkata" - der erste Vokal wird dumpf ausgesprochen, etwa wie ein dänisches "å", so daß man über die richtige Umschrift streiten kann; Dikigoros erlaubt sich, hier die Hindi-Form zu gebrauchen) und den Portugiesen Bambai (der erste Konsonant wird nasaliert gesprochen, also etwa wie "mb", weshalb die Maharatten ihre Hauptstadt heute auch "Mumbai" schreiben, etwas inkonsequent, denn der erste Vokal wird englisch ausgesprochen, also als kurzes "a"), eine sumpfige, ungesunde Landzunge voller Moskitos vor der Küste Mahārāshtras. 1662 heiratete eine portugiesische Prinzessin nach England. Sie brachte als Mitgift Bambai und vier Pfund Tee in die Ehe - letzterer war damals mehr wert als ganz Bambai. Die Engländer führten gerade mal wieder Krieg gegen die Holländer, die de facto ein weltweites Kaffee-Monopol besaßen (aber das ist eine andere Geschichte), und so stiegen sie flugs auf Tee um - allein in London wurden rund 2.000 Cafés in Teehäuser umgewandelt. Tee wuchs (und wächst) nur im Hochland, und das Kalkattā nächst gelegene Hochland war das west-bengalische Darjiling; dort bauten die Engländer ihn zuerst an.
Allerdings vermoderte die schöne Fracht auf den Wochen, oft sogar Monate dauernden Reisen in muffigen Schiffsrümpfen und schmeckte, wenn sie endlich in Europa ankam, bisweilen mehr nach Teer als nach Tee. (Oder, wenn sie - zu "Ziegeln" gepreßt - durch Asien transportiert wurde, nach Kamelkot.) Man würzte ihn mit Safran, Iriswurzeln, Rosen-, Gardenia- und Jasmin-Blüten. Aber das war erstens sehr kostspielig, und zweitens hätte man den Tee dann gleich ganz weg lassen können. Was also tun? In Asam - gar nicht weit weg von West-Bengalen - wuchs ein anderes Kraut ("Asam" bedeutet "anders" - aber das ist Zufall, bezieht sich jedenfalls nicht auf den Tee), und irgendwann im 19. Jahrhundert kam irgend jemand auf die Idee, die beiden Pflanzen zu kreuzen. Daraus entstand eine überraschend gute Tee-Art, die überall prächtig gedieh und noch einen Vorteil hatte: Man konnte sie wunderbar rösten, dann wurden aus 4 Kilo gepflücktem Tee etwa 1 Kilo "schwarzer" Tee, und dessen Aroma überstand auch die lange Reise viel besser. Dieser Tee eroberte erst London (1838 wurde dort die erste Lieferung aus Indien versteigert), dann andere Städte Europas, und die Nachfrage stieg. Also bauten die Engländer bald in allen ihren Kolonien, wo sich ein geeignetes Hochland fand, Tee an: Außer in Darjiling und Asam in Nuwara Elya (das von den Einheimischen "Nu(w)rélya" ausgesprochen wird - das kurze Silben-a ist in den indischen Sprachen stumm) auf Ceylon (wo der Rostpilz 1869 die Kaffee-Pflanzungen vernichtet hatte), in Kenya und in den blauen Nilgiri-Bergen Süd-Indiens. Die Russen taten ein gleiches im Kaukasus, in Georgien ["Grusinien"]. So weit die Theorie.
Tarzan macht sich als erster auf den Weg, die Praxis zu erkunden. In den Semester-Ferien reist er erstmals nach Indien, nach Bambai und Kalkattā, wo der Tee versteigert und verschifft wird. Nach Darjiling und Asam, wo er gepflanzt und geerntet wird, kommt er - vorerst - nicht; denn es ist noch nicht lange her, daß Indien und China um diese Tee-Provinzen Krieg geführt haben; sie sind noch Sperrgebiet. Aber auch so lernt Tarzan den tieferen Sinn des Spruches kennen: "Abwarten und Tee trinken." In Indien kann - und muß - man auf fast alles warten; aber zum Glück kann man die Wartezeit fast immer durch Teetrinken verkürzen. Dabei lernt man die interessantesten Leute kennen - und der Weg ist ja das Ziel. Was hat man davon, wenn man irgendwo etwas früher ankommt und dabei so manches Gespräch versäumt? Tarzan, dem zuhause nichts schnell genug gehen kann und der sich immer furchtbar aufregt, wenn irgend etwas nicht klappt wie geplant, lernt in Indien umzudenken und hat bald für seine Landsleute, die mit dieser "europäischen" Einstellung durch Indien zu reisen versuchen, nur noch Mitleid übrig. Und er lernt noch etwas: Tee ist nicht gleich Tee. Das hat nicht nur mit verschiedenen Sorten zu tun (die kennt er ja fast alle schon von zuhause - oder glaubt das zumindest), sondern auch mit der Zubereitung: Was die Inder als "Tschāy" servieren, wird nicht wie zuhause aufgebrüht und dann durch ein Sieb abgegossen und mit Milch, Zucker oder Zitronensaft versetzt, sondern es wird schon vorher mit Milch, Zimt, Zucker, Ingwer, Kardamom und Salz verrührt, zusammen aufgekocht und dann abgegossen. "Indischer Tee" nennen die Inder das, im Gegensatz zum "englischen" Tee, der ihnen fade und langweilig vorkommt. So schmeckt er in Indien auch oft. Tarzan fragt immer wieder, woran das liegen mag: "Nun, die besten Tees gehen natürlich in die Übersee-Auktionen, zur Devisen-Beschaffung," sagt man ihm, "bei uns bleibt nur die 2. Wahl zurück. Wenn Sie also wirklich guten indischen Tee trinken wollen, müssen Sie nach Europa oder Amerika fahren. Am besten nach London."
Das tut Benni regelmäßig. Er hat von Haus aus Geld, und als Anglistik-Student und angehender Englisch-Lehrer betrachtet er es als selbstverständlich, mindestens einmal im Jahr nach London zu reisen, um seine Sprach-Kenntnisse abzurunden - und seinen Bauch, denn trotz des schlechten Rufs der englischen Küche futtert Benni mit Begeisterung Ham and Eggs, Fish and Chips, Hamburger und Cheeseburger und trinkt dazu das süffige englische Bier - wer zuhause das ganze Jahr über Tee trinkt, muß sich das auch mal gönnen, meint er. Er bringt exotische Tee-Proben von dort mit, zum Beispiel chinesischen "Gunpowder Tea", der auch wirklich wie rostige Kanonenkugeln schmeckt, oder argentinischen "Mate". Tarzan und Olli schmeckt das Zeug nicht, sie stehen auf einfachere Genüsse. Olli bevorzugt den kräftigen "Herren-Tee" aus Asam, was er für "besonders männlich" hält. Dabei hätte er es gar nicht nötig, damit hausieren zu gehen. Er ist von den Vieren der sportlichste und kräftigste, und das muß er auch sein. Sein Vater ist wie der Tarzans nur ein kleiner Beamter, hat sich mühsam bis zum Justiz-Inspektor am Amtsgericht hoch gedient, seine Mutter ist "nur" Hausfrau und Mutter dreier Kinder, da plätschert das Taschengeld nicht gerade üppig. Aber Olli hat kostspielige Hobbies: Musik und Fotografie. Kostspielig jedenfalls, wenn man immer die beste HiFi-Anlage und die beste Foto-Ausrüstung haben muß, die gerade auf dem Markt sind, und sei es nur um Benni zu übertrumpfen, der auch leidenschaftlich gerne Musik hört und fotografiert. Olli geht in jeder freien Minute arbeiten, auch während des Semesters (in den Semester-Ferien sowieso), dorthin, wo Muskelkraft am besten honoriert wird, als Kulissen-Schieber am Theater, am Bau (wo damals noch deutsche Arbeitskräfte beschäftigt werden) oder als Möbelpacker bei Speditionen.
Benni macht es sich leichter: Er bringt sich seine technischen Geräte billig aus dem Duty-free-shop mit, wenn er nach London reist. Er hat auch keine Berührungsängste mit chinesischer "Dumping-Ware" aus Hongkong, Taiwan oder Singapur. "Der Schrott kann doch nur von zwölf bis mittags halten," unkt Olli, der auf "Made in Germany" Wert legt und sich das gerne etwas mehr kosten läßt. "Das genügt mir auch," versetzt Benni, "der technische Fortschritt ist so rasant, daß das Zeug in 2-3 Jahren sowieso veraltet ist. Da stelle ich mir doch nichts hin, was für die Ewigkeit gebaut ist. Die Deutschen werden mit ihrer Unternehmens-Filosophie bald arg in die Bredouille kommen; die Zukunft gehört der fernöstlichen Massen-Produktion." Da treffen Welten aufeinander. Bei Olli stapeln sich die "alten" Vorläufer-Modelle, die er nicht mit Verlust verkaufen will ("weil da soviel Blut und Schweiß dran klebt", wie er sagt); Benni dagegen wirft das "Zeug" leichten Herzens weg, wenn es nicht mehr richtig funktioniert (reparieren lohnt nicht, bei den Stundenlöhnen in Deutschland), und kauft sich das neueste Modell.
Richie und Tarzan schauen diesem Wettrüsten amüsiert, aber verständnislos zu. Richie legt auch Wert auf ordentliches Gerät; aber viel wichtiger ist ihm, was dabei heraus kommt, nämlich die Musik und die Fotos: "Wozu braucht jemand eine teure HiFi-Anlage, wenn er dann doch nur Katzen-Musik darauf abspielt," sagt er und meint damit Benni, der auf amerikanischen Jazz steht. (Olli dagegen hört Wagner, bevorzugt den "Ring"; den hält wiederum Tarzan für Katzen-Musik; aber er sagt nichts, weil er keine Katze beleidigen will.) "Und was will jemand mit einer teuren Kamera-Ausrüstung, der nicht in der Lage ist, wirklich gute Bilder zu machen? Für die meisten dieser Fotos täte es auch eine billige Ratsch-Klick!" Soweit Richie. Tarzan sieht das sogar noch radikaler: Er spielt gut genug Klavier und Gitarre, daß er damit gleich mehrere HiFi- und Kamera-Ausrüstungen finanzieren könnte - wenn er nicht eine Abneigung dagegen hätte, sich die Nächte mit irgendwelchen Bands in irgendwelchen verräucherten Kellern und Tanzschuppen um die Ohren zu schlagen. Wie wollen Leute Musik richtig genießen, geschweige denn Aufführungen beurteilen (Olli hat zu jedem seiner Lieblingsstücke Aufnahmen von mindestens zehn verschiedenen Interpreten, "zum Vergleich"), die nicht mal Noten lesen können, geschweige denn ein Instrument beherrschen? Das ist ja wie ein "Sportkenner", der sich darauf beschränkt, die "Sportschau" in der Glotze zu verfolgen, statt selber ins Stadion zu gehen - geschweige denn selber aktiv zu werden. (Tarzan hat früher Leichtathletik betrieben und ist dann auf Basketball umgestiegen, weil man das auch im Winter in der Halle spielen kann, wenn es draußen zu kalt ist.) Und was hilft die modernste Kamera-Ausrüstung - selbst wenn man technisch damit umgehen kann, was er bei Benni und Olli allemal unterstellt -, wenn man wie Olli noch nie mehr als 10 km weit aus seinem Kaff hinaus gekommen ist? Von den Motiven am Ort kann man doch an jedem Kiosk farbige Ansichtskarten à 20 Pfennig kaufen, da weiß man wenigstens, daß einem das Foto-Labor die Abzüge nicht versaut. (Bei Benni ist das freilich kein Argument, denn der hat auch ein eigenes Foto-Labor im Keller und entwickelt selber - allerdings nur schwarz-weiß.) "Den Stereo-Farbfernseher und den Super-Videorecorder mit Standbild und Zeitlupe für die Sportschau kaufe ich mir, wenn ich selber nicht mehr laufen kann," sagt er, "und die HiFi-Anlage, wenn ich Gicht in den Fingern habe und selber kein Instrument mehr spielen kann. Solange kann ich mich gedulden. Abwarten und Tee trinken."
Olli sieht das - bis auf den Sport und die Sportschau (auch er treibt regelmäßig Sport, hat die Sportschau aber noch nie gesehen, hat nicht mal einen Fernseher) - genau umgekehrt. Er ist nicht bereit, Konsum-Verzicht zu üben: "Ich werde doch nicht warten, bis meine Ohren die Obertöne nicht mehr hören - ab 30 läßt das Gehör nach - und meine Augen die Farben nicht mehr sehen können," sagt er (der sich bereits Sorgen über seine nachlassende Sehkraft macht - als einziger der vier kurzsichtigen Brillenträger, die sie sind), "wenn ich alt und klapprig bin, brauche ich keine teuren technischen Geräte mehr; die will ich hier und heute haben." Aber das ist ein Teufelskreis: Weil er in den Semester-Ferien arbeiten geht, um Geld zu verdienen, hat Olli keine Zeit und kein Geld mehr übrig, um zu verreisen und etwas von der Welt zu sehen. Tarzan erweitert die Filosofie seiner Mutter, daß einem niemand nehmen kann, was man gegessen hat, um den Satz, daß einem niemand die Erinnerung an das nehmen kann, was man gesehen hat. Wie viele Leute fahren gedankenlos auf Urlaub, knipsen überall herum und wissen, wenn sie nach Hause kommen, schon nicht mehr, wo und was das war? Lieber verreist er ohne Kamera. (Und weil er sich das einmal so angewöhnt hat, nimmt er auch später auf Reisen nie eine mit; da fällt man ohnehin immer gleich als Tourist auf, und das können manche Einheimische gar nicht leiden.) Denn er teilt mit Olli durchaus die Auffassung, daß man gewisse Sachen mit zunehmendem Alter nicht mehr machen kann - zum Beispiel Reisen, wie er sie sich angewöhnt hat, mit dem Rucksack in billigen Bussen, Bahnen und Gasthäusern. Und wer weiß, wieviel es von der immer mehr technologisierten und kulturell gleich geschalteten Welt in ein paar Jahren noch zu sehen gibt? Um immer in denselben Hotel- und Restaurant-Ketten zu schlafen und zu essen und sich überall die gleichen Autobahnen und Wolkenkratzer anzusehen, braucht man nicht zu verreisen...
Die Meinungen sind also sowohl über die chinesische Technik als auch über die chinesischen Teesorten, die Benni aus London mitbringt, durchaus geteilt. Aber im Gegensatz zu Tarzan und Olli trinkt Richie alles, was Benni anschleppt - es abzulehnen empfände er als Unhöflichkeit, die nicht zu seiner guten Kinderstube passen würde (die so gut ist, daß sie selbst auf Adi, seinen jungen Schäferhund, abgefärbt hat - der ist so brav, daß er ihn sogar zu Tarzan mitnehmen darf, dem Katzenfreund, dem Hunde sonst ein Greuel sind). Und wenn Bennis Tee schon nicht schmeckt, dann serviert Richie ihn wenigstens in eleganten Tassen auf schnee-weißen Tischdecken bei stimmungsvoller Musik mit leckerem Gebäck. Richie ist denn auch der nächste, der auf Reisen in ein Tee-Land geht, wenn auch ziemlich überraschend. Er und Tarzan haben sich gemeinsam aufs Examen vorbereitet, aber als die Frist zur Meldung naht, traut sich Richie nicht: "Wir wissen doch noch längst nicht alles," sagt er. "Na wenn schon," meint Tarzan, der findet, daß sie eh schon viel zu lange Paragrafen gekloppt haben, "Mut zur Lücke - jetzt oder nie." Sein Kommilitone wählt die letztere Alternative. Während Tarzan ins Examen geht, hat Richie eine andere Lösung gefunden. Nicht umsonst kommt er aus sehr gutem Hause, ist intelligent, sieht blendend aus, hat perfekte Manieren und eine hervorragende Allgemeinbildung - und eine Schwester, die diese Vorzüge ebenfalls in sich vereint. Diese Schwester lernt den Sohn eines Groß-Industriellen - von Beruf Erbe - kennen, der sie vom Flick weg heiratet. Und ihrem Bruder Richie macht die Firma ihres Schwiegervaters ein Stellenangebot, das er nicht ablehnen kann: Leiter der Firmen-Repräsentanz in Moskau. Zwar wird ihm, als einzigem Repräsentanten in vergleichbarer Position in der Sowjet-Union, ein "Mit-Repräsentant" zur Seite gestellt, und jeder Eingeweihte weiß, was das bedeutet - aber wer ist schon eingeweiht?
Richie stört das nicht. Er genießt sein Leben als gut bezahlter Frühstücks-Direktor, der sich schon zum Frühstück Krim-Sekt und Kaviar leisten kann, denn die angeblich "klassenlose" Gesellschaft der Sowjet-Union zerfällt - wie alle kommunistischen Gesellschaften - in Wirklichkeit in zwei Klassen: die der Valuta-Habenden und die der Valuta-Habenichtse, und er hat reichlich Valuta. (Das ist das Sowjet-Wort für "Devisen, die etwas wert sind", vom englischen Wort "value", Wert.) Die Arbeit läßt er getrost seinen Kollegen machen und amüsiert sich anderweitig: Konzert und Ballett, Theater und Museen in Moskau haben Weltniveau. "Im Westen wird doch nur noch dekadenter Mist geboten," pflegt er zu sagen, "wie Zwölfton-Musik, Jazz-Dance, Pop-Art, Graffiti-Schmierereien und Publikums-Beschimpfungen. Wagner würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wie sie die Bayreuther Festspiele verhunzt haben. Alles entartete Kunst..." Richie scheut sich nicht, das so zu nennen, und er darf das auch, denn er trägt ja einen jüdisch klingenden Familiennamen. Obwohl er sich, blond und blauäugig wie er ist, selbstverständlich ganz als Arier fühlt und Wert auf die Feststellung legt, daß sein Vater schon Oberforstrat war, als der Reichsjägermeister noch Hermann Göring hieß. Der Name sei irreführend, betont er, ähnlich wie im Falle seines Lieblings-Schriftstellers, des adeligen National-Bolschewiken Ernst von Salomon, der die "Kleinbürger" ebenso verachtete wie Richie das insgeheim tut (was die übrigen Mitglieder des Teeblatts, die durchweg "kleinbürgerlicher" Herkunft sind, geflissentlich ignorieren). Da soll man nicht nach Moskau gehen? Wo doch ausgerechnet die kommunistischen Sowjets die Klassik so pflegen: Tschajkowskij, Puschkin und Gogol sind noch immer angesagt, und Rjepin sowieso. (Kennt die überhaupt noch jemand im dekadenten Westen? Das Textverarbeitungs-Programm, mit dem Dikigoros diese Zeilen schreibt, schlägt vor, "Gogol" durch "Gigolo" zu ersetzen, zu den anderen Namen fällt ihm gar nichts ein!) Das trifft genau Richies erlesenen Geschmack. Nur den Zirkus besucht er nicht, denn erstens ist dessen beste Besetzung meist auf Auslands-Tournee, um Valuta einzuspielen, und zweitens sind solche "Volksbelustigungen" unter seinem Niveau.
Und wenn es gar nichts anderes zu tun gibt, geht Richie - Tee trinken. Auch die Russen bereiten ihren grusinischen Tee ganz anders zu als es die Mittel-Europäer gewohnt sind: Sie zerkochen ihn zu einem bitteren Konzentrat, erhitzen Wasser in einem großen Kessel aus Kupfer oder Messing (dem "Samowar") - damals noch mit Holzkohle, nicht mit elektrischem Strom - und mixen dann beides zusammen. Oder sie schütten die zerbröselten Tee-Blätter - wie die Türken das Kaffee-Pulver - in Wasser und erhitzen es dann. Wenn man das Produkt nicht schnell genug austrinkt, zieht es immer länger und wird allmählich immer bitterer. Aber bei den Sowjets kommt es nicht so drauf an: Der auf staatlichen Kolchosen erzeugte Tee taugt eh nichts, und den Geschmack bezieht das Getränk hauptsächlich aus dem, was man hinzufügt: Zucker, Marmelade - und natürlich reichlich Wodka. Richie schickt Fotos nach Deutschland, auf denen er - wie immer die Eleganz in Person - in Pelzmantel und Pelzmütze vor "Religions-Museen" (ehemaligen Kirchen) posiert, in der einen Hand die Wodka-Flasche, in der anderen die Thermos-Kanne mit Tee.
Die anderen drei studieren unterdessen weiter; denn während sie über Fragen der richtigen Technologie oft streiten, sind sie sich in einem Punkt Gleichgesinnte: Das Studium soll nicht nur der Ausbildung dienen, sondern auch der Bildung, und so ein Fach-Examen kann doch noch nicht alles gewesen sein (irgendwie wird man davon nicht klüger). Nein, sie "verbummeln" das Studium nicht, sie verlängern es nur, indem sie ihre Einschreibungs-Matrikel in "Doktorand" ändern. Tarzan belegt - zur Vorbereitung seiner Reisen - Fremdsprachen. Möglichst fremde Fremdsprachen, die zwar viele hundert Millionen Menschen auf der Welt sprechen, die aber in Europa kaum jemand lernen will, in merkwürdiger Verkennung der Realitäten. Und wenn seine Eltern fragen, was das Studium macht, kann er mit gutem Gewissen noch einen Schein, noch ein Sprach-Diplom oder sonst irgend etwas vorweisen. Bennis Mutter fragt ihren Sohn nie nach dem Studium - da vertraut sie ganz auf Gottes Hilfe. Sie will nur wissen, ob er am letzten Sonntag auch in der heiligen Messe war (hilfsweise, wenn er verhindert ist, muß er am Sonnabend vorher gehen, keine Ausreden!). Und Ollis Eltern haben kein Recht zu fragen, meint ihr Sohn, denn er liegt ihnen ja nicht mehr auf der Tasche, sondern steht finanziell auf eigenen Beinen.
Dann erklärt Bennie überraschend, daß er auch mal in die Sowjet-Union reisen wolle. "Hat Richie uns eingeladen?" fragt Tarzan arglos. Man braucht damals eine offizielle Einladung, wenn man in Länder des Ostblocks reisen will, oder man muß sich der Gruppenreise eines offiziell zugelassenen Reiseveranstalters anschließen - und welcher Student kann sich das schon leisten? Benni kann es: "Vor allen Dingen. Ich fliege doch nicht nach Moskau, das ist mir viel zu grau in grau. Nein, ich hab's lieber farbig, muß einen neuen Film ausprobieren. Ich fliege zur alten Tee-Straße, nach Bukhara und Samarkand; Intercontact bietet das gerade günstig an." Gesagt, getan. Bennie kommt mit einem, nein zwei Koffern Dias zurück und abenteuerlichen Erzählungen, wie er seinen sowjetischen Aufpassern entwischt ist, um diese und jene Aufnahme zu machen (in der SU herrscht für alles mögliche und unmögliche Fotografier-Verbot - im Zweifel für alles). Es ist beinahe unglaublich, aber die großen Moscheen glänzen in alter Pracht und Herrlichkeit - dagegen ist die Basilius-Kathedrale in Moskau gar nichts, und das liegt nicht nur daran, daß Richie keine so teure Kamera-Ausrüstung hat wie Bennie. "Das ist doch sicher nur Sand, den die Sowjets westlichen Touristen in die Augen streuen wollen," vermutet Tarzan," oder glaubst du im Ernst, in einem atheïstischen Staat dürften die Muslime sonst so viel Geld für Gotteshäuser verplempern?" - "Keine Ahnung," meint Bennie, "ich kann nur zeigen, was ich gesehen habe. Und die Leute da unten sind auch nicht atheïstisch. Ich habe selber gesehen, wie sie am Freitag abend in die Moscheen strömten zum Gebet. Die sind nicht nur für die Touristen gebaut, das stimmt einfach nicht." - "Züchten sich die Sowjets da nicht ein gefährliches Potential von Separatisten heran?" fragt Olli, "was sprechen die eigentlich für eine Sprache?" - "Türkisch natürlich, aber die verstehen auch alle Russisch," meint Bennie, "unsere Dolmetscherin hat übrigens auch ganz ausgezeichnet Deutsch gesprochen, obwohl sie Usbekin war." - "Und wie offen und ehrlich war die eurer Reisegruppe gegenüber?" fragt Tarzan. "Keine Ahnung - woher soll ich wissen, was dort im Land vor sich geht? Aber ich nehme mal an, sie hat die offizielle Linie der Regierung vertreten, und zwar auch aus innerer Überzeugung; und was einige potentielle Separatisten denken mögen, würde sie als Frau in einem muslimischen Land doch eh nicht erfahren. Ich glaube schon, daß die Sowjetisierung den meisten Frauen in den muslimischen Republiken echte Vorteile gebracht hat." - "Glaubst du, daß diese Länder, wenn sie denn einmal unabhängig würden, auf eigenen Beinen stehen könnten, auch wirtschaftlich?" - "Wenn das friedlich abliefe und nicht allzuviel in Scherben ginge, könnten sie vielleicht vom Fremdenverkehr leben; aber ich glaube nicht, daß es solche Bestrebungen wirklich in nennenswertem Umfang gibt; wie gesagt, die Frauen wären dagegen." - "Du redest ja fast schon wie die Sowjets," meint Olli, "aber den Tee koche ich doch immer noch besser, oder?" Da widerspricht niemand...
Auf seinem nächsten Heimaturlaub zeigt auch Richie wieder Dias aus der Sowjet-Union, nicht mehr nur aus Moskau: Er hat inzwischen etwas Russisch gelernt und ist gewieft genug, um auch ohne Permit die Umgebung abzuklappern: Erst die Klöster außerhalb Moskaus, dann die historischen Städtchen des "Goldenen Rings"; er fühlt sich völlig frei und unbespitzelt (aber vielleicht merkt er es bloß nicht). "Was ist Freiheit?" fragt er seine Freunde und gibt die Antwort gleich selber: "Tun und lassen können was man will, weil man genügend Freizeit und genügend Geld in der Tasche hat. Ich war noch nie so frei wie jetzt in Rußland." Diese Dia-Abende lassen Tarzan nicht ruhen - auch er will mal wieder ein Tee-Land bereisen und spielt mit dem Gedanken an eine Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn, auf der von morgens bis abends Tee serviert werden soll, bis Wladiwostók und weiter nach Japan, wie die großen Reiseschriftsteller A. E. Johann oder Paul Theroux. Der letztere gilt zwar damals noch nicht als "Großer", denn er hat seinen "Patagonien-Express" noch nicht geschrieben; aber Tarzan hat gerade sein erstes Reisebuch, den "Großen Eisenbahn-Bazar" - über die Fahrt mit der "Transsib" - gelesen und sofort erkannt, daß hier ein neuer Star unter den Reiseschriftstellern heranwächst, der erste, den die USA seit Mark Twain hervor gebracht haben. (Nein, liebe Leser, "Joseph Conrad" Korzeniowski war entgegen weit verbreiteter Ansicht alles, nur kein Amerikaner - polnischer Abstammung, in der Ukraine geboren, als Untertan des russischen Zaren, mit britischem Kapitäns-Patent und Domizil in England; außerdem waren seine Bücher allenfalls Reise-Romane, keine Reise-Beschreibungen.) Aber irgendwie fuchst es Tarzan, daß er für eine Reise, die einen Sowjet-Bürger umgerechnet nur ein paar Groschen kostet (jedenfalls wenn man den Schwarzmarkt-Kurs des Rubls zugrunde legt, und das tut er immer), als Westler über tausend harte DM bezahlen soll - und dafür wird man obendrein noch in getrennte Abteils gesperrt, nur mit anderen westlichen Ausländern zusammen, damit man ja keinen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung bekommt - sonst könnte man womöglich erfahren, was die wirklich denken über ihren Staat und ihre Regierung! Nein, diese Fahrt mit der "Transsib" will er erst dann machen, wenn die SU wenigstens den Zwangsumtausch aufgehoben hat und in- und ausländische Reisende nicht mehr zwangsweise von einander isoliert...
So entscheidet sich Tarzan denn spontan für Ceylon (das sich seit der Unabhängigkeit "Shrī Lankā" nennt), als er einen billigen Flug dorthin angeboten bekommt. Die "glückliche Insel" im Indischen Ozean ist zu jener Zeit - vor Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Sinhalesen und Tamilen und der indischen Invasion - noch ein wahres Paradies. Jedenfalls erscheint es dem Außenstehenden so. Daß die Zustände in Wirklichkeit doch nicht mehr ganz so paradiesisch sind, erfährt er erst vor Ort. Durch Zufall macht er die Bekanntschaft einer Familie von Teepflanzern und wird so von Ort zu Ort herum gereicht. Kopfschüttelnd besucht er eine staatliche Teefabrik: Ein Teil der Blätter, die da im staubigen Hof herum liegen, hat schon viel zu lange in der Sonne gebraten und ist fast völlig vertrocknet, ein anderer Teil noch halb roh. "Die mischen wir jetzt im richtigen Verhältnis," erklärt ihm der Manager mit umwerfender Logik und sichtlichem Stolz, "dann haben sie im statistischen Mittel genau den richtigen Fermentierungsgrad". Kein Wunder, denkt Tarzan, daß Qualität und Preis des ceylonesischen Tees in den letzten Jahren so deutlich zurück gegangen sind. Aber in den privaten Tee-Fabriken sieht es nicht besser aus. Ein alter Onkel erzählt, warum: "Die sozialistische Regierung ist schuld." (Das ist die Regierung von Frau Bandaranaike - die den Job der Premierministerin von ihrem ermordeten Ehemann geerbt hat, wie es bald überall auf dem indischen Subkontinent - von Pākistān über Bhārat bis Banglā Desh - üblich werden soll.) "Die alte Hexe hat alle privaten Tee-Fabriken verstaatlicht und herunter gewirtschaftet. Als sie ruiniert waren, hat sie den ehemaligen Besitzern großzügig angeboten, sie für wenig oder gar kein Geld wieder zurück zu kaufen. Aber wieso sollte ich da jetzt noch etwas rein stecken? Die wartet doch nur darauf, daß ich sie wieder auf Vordermann bringe, um sie gleich wieder zu enteignen. Nein, besser ich lasse alles so weiter laufen wie bisher, verkaufe zum festgesetzten Abnahmepreis an den Staat und lasse den dann sehen, wie er das Zeug auf dem Weltmarkt los wird." Die Verwandten nicken zustimmend, und Tarzan hat mal wieder praktischen Anschauungs-Unterricht erhalten, was von jeglicher Form des Sozialismus und der "Sozialisierung" zu halten ist - da braucht er nicht in die SU zu reisen!
Benni hat inzwischen sein Studium abgeschlossen, die Verlobung mit seiner langjährigen Freundin gelöst (einem braven, aber vermögenslosen Mädchen) und statt dessen eine Stewardess geheiratet - nicht ohne Berechnung, denn das ermöglicht ihm, für 10% des regulären Preises Flugtickets auf nicht ausgebuchten Flügen zu kaufen. Die Fluglinie seiner Frau fliegt zwar London nicht an, aber Englisch spricht man ja auch in den Vereinigten Staaten, und da nimmt er wenn möglich immer gleich den teuersten Flug (da spart er am meisten): nach Hawaii, und wenn der ausgebucht ist nach San Francisco. Von seinem mageren Gehalt als Studien-Referendar könnte er den vollen Preis nicht bezahlen, und im Gegensatz zu den früheren "Studienreisen" nach London würde auch seine sonst so großzügige Mutter, die konservative, streng katholische Professoren-Witwe, Vergnügungsreisen zu so leichtlebigen Reisezielen nicht finanzieren. Von wegen "notwendig, um amerikanisches Englisch zu lernen" - sie ist selber gelernte Dolmetscherin, ihr kann der Sohnemann nichts vormachen. Hulahula-Tanzen auf Hawaii? Die Schwulen- und Lesben-Hochburg Frisco besuchen? Pfui, wie unmoralisch - das müßte man ja vor der nächsten heiligen Messe beichten, was soll bloß der Herr Pfarrer denken? Aber das kratzt Benni überhaupt nicht. Während seine leidgeprüfte Mutter sich vergeblich bemüht, durch persönliche Vorsprache beim Herrn Erzbischof eine Lehrerstelle an einer "ordentlichen" katholischen Privatschule für ihren Sohn zu finden (Lehrer haben es damals nicht leicht, im Staatsdienst unter zu kommen), hat er eine von der Orthodoxie zum Protestantismus konvertierte Jüdin vom Balkan geheiratet (in der Nachbargemeinde, weil "sein" Pfarrer dagegen war) und läßt seine frommen Verwandten und Bekannten ungerührt lästern. Und als er seine Referendarzeit abgeschlossen hat, sucht er sich eine Stelle 150 km weit von zuhause weg, im Ruhrpott, fährt jeden Morgen zwei Stunden zur Arbeit und jeden Mittag zwei Stunden zurück.
Und in den Ferien genießt Benni Hawaii und San Francisco in vollen Zügen (ja, das Rauchen gewöhnt er sich auch an). Allmählich lernt er die bunte Stadt am Pazifik (und andere amerikanische Städte) besser kennen als die meisten anderen Reisenden. Vor allem Chinatown hat es ihm angetan. Die chinesische Minderheit stellt eine Besonderheit in den USA dar. Die ersten Einwanderer-Generationen sind im "Melting pot" auf- oder eingegangen; die germanischen und slawischen Viertel der Großstädte New York, Chicago, Cleveland, Minneapolis, Indianapolis und St. Louis gibt es nicht mehr. Die Schwarzen und die "Hispanics" genannten Farbigen spanischer Muttersprache haben zwar ihre eigenen Ghettos, aber in denen darf sich kein Weißer bei Lebensgefahr blicken lassen. Sie verlangen Gleichberechtigung in der weißen Gesellschaft, ja bevorzugte Behandlung zum Ausgleich vermeintlicher oder tatsächlicher Benachteiligungen ihrer Vorfahren in der Vergangenheit und weisen den alten Spruch der "Segregationisten" vom "gleich, aber getrennt sein", weit von sich. Einerseits wollen sie gut bezahlte Drückeberger-Jobs im Öffentlichen Dienst, die jeder Analfabet tun kann, hilfsweise reichlich Staatsknete vom Sozialamt für minderjährige Mütter von Kindern, deren Väter sich aus dem Staub gemacht haben. Aber andererseits wollen sie für sich sein, ohne "Einmischung" von außen in ihre eigene Welt und "Kultur", in ihre Sex- und Sauf-Orgien, ihre rassistischen Rap Songs, welche die Welle der Gewalt verherrlichen, die sich seit dem blauäugigen "Civil Rights Act" von 1964 wie ein Lauffeuer ausbreitet, der Gewalt von Schwarzen gegen Menschen anderer - vor allem weißer - Hautfarbe. Das soll niemanden etwas angehen, außer ihre eigenen "Brüder" (das Wort wird zur inoffiziellen Selbstbezeichnung für Schwarze). "Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein..." Vor allem die "Black Muslims", ein Haufen radikaler, religiöser Fanatiker, tun sich dabei hervor. (Benni ist schwer enttäuscht, daß auch sein großes Box-Idol Cassius Clay bei denen mitmacht und sich den albernen Namen "Muhammad Ali" zugelegt hat, um nicht mehr "Sklave" zu sein.) Aber irgendwann beginnen die Opfer, zurück zu schlagen. In den Großstädten der Pazifik-Küste, allen voran in Los Angeles, das bald zur Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate der USA werden soll, finden die Straßen-Kriege nicht mehr zwischen Weißen und Farbigen statt, sondern zwischen Schwarzen, Mexikanern und Koreanern. Die weißen Polizisten stehen daneben und sehen - von skrupulösen Dienstanweisungen zu äußerster Zurückhaltung verpflichtet - zu oder weg, wie die Politiker.
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zurück zu Walberberg - Tarzans erste Reise
heim zu Reisen durch die Vergangenheit