. . . BIS AN DIE MEMEL
von eigentlich ungewollten Reisen
Gar manches Gewässer ist von Dichtern u.a. Textklempnern als "Schicksalsfluß" bezeichnet worden: In Deutschland [be]traf es für gewöhnlich den Rhein, bei anderen Völkern andere (zumeist Grenz-)Flüsse, z.B. den Ebro, den Rubicon, die Donau, die Drina, die Maritza, den Dnepr oder die Wolga. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß dahinter meist mehr Pathos und falsch verstandener Patriotismus als Kenntnis der Geschichte steht. Tatsächlich gibt es nur einen einzigen Fluß, an dessen Ufern Jahrhunderte lang immer wieder das Schicksal der Völker Europas seinen Lauf - oder zumindest einen neuen Anlauf - nahm: die Slawen nennen ihn "Fluß der Deutschen"; die Deutschen nennen ihn "Memel".
Eigentlich wollten sie ganz woanders hin. Nach Afrika oder Asien, oder wo immer genau jenes famose Heilige Land genau lag, um die Heiden aufs Haupt zu schlagen, Jerusalem noch einmal zu befreien und womöglich sogar jenen famosen Priesterkönig Johannes aus der Nähe zu sehen, den sie alle vom Hörensagen "kannten" und bewunderten. Sie waren von ihrer Mission überzeugt; es war ein Kreuzzug des christlichen Europas gegen die finsteren Mächte, die es bedrohten. Doch dann hatten die Ordensoberen entschieden, daß dieses Unterfangen aussichtslos sei und sich zurück gezogen, nach Venedig. Das war damals keine bloße Stadt, sondern bereits ein aufstrebender Stadtstaat, der im Osten an die Adria grenzte, im Norden an die Alpen, und im Süden und Westen - an die Etsch. Dort gab es allerdings nichts zu tun für einen Ordensritter, und so waren sie denn gen Osten gezogen, zuerst nach Ungarn und Siebenbürgen, das sie gegen den Ansturm der kumanischen Horden aus dem Osten verteidigen sollten; aber dann war ihnen ausgerechnet der Herrscher von Ungarn in den Rücken gefallen, und so waren sie denn statt dessen an die Memel geschickt worden. Auch dort ließ sich das christliche Abendland gegen die Heiden verteidigen, genauer gesagt jenseits jenes Flusses, dort wo die Stämme der Kuren, Lettgaller und Liven lebten, die es zu bekehren galt. Wieso war das eigentlich ihre Aufgabe, einiger braver Kreuzritter? Gab es da keine anderen Instanzen? Auf dem Papier, pardon auf dem Pergament vielleicht; aber der Papst in Rom läß den lieben Gott einen guten Mann sein. Und über das Reich herrscht seit zwölf Jahren ein Mann, den einige (z.B. er selber) für den größten Feldherrn aller Zeiten halten, der nichts weiter will als in Frieden regieren (er hat fast alle Ziele - sogar den Zugang zu den heiligen Stätten Jerusalems - ohne einen Schwertstreich erreicht, nur durch Bluffen, Drohen und Verhandeln), während ihn seine bösen Nachbarn, denen das nicht gefällt, ein ums andere Mal zum Krieg zwingen; andere (z.B. Dikigoros) sehen in ihm einen größenwahnsinnigen Verrückten und Tyrannen, der sich weder für die Maas noch die Memel noch die Etsch interessierte. Wie dem auch sei, den tapferen Kreuzzüglern fehlte nun nur noch ein schönes Lied, und schon konnten sie auf Reisen gehen. Und da die meisten von ihnen aus Brabant stammten (dem Herzland Niederlothringens an der Maas), sangen sie wie folgt:
Jener König aber, unter dem das Stauferreich die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreicht hat (daß es kurz nach seinem Tode untergangen ist, gerät allmählich in Vergessenheit), geht in die Chroniken ein als "der größte unter den Fürsten der Erde, das Wunder und der Verwandler der Welt" - und auch heute noch halten ihn manche für den genialsten Herrscher des Mittelalters.
Eigentlich wollten sie ganz woanders hin. An das Land jenseits der Memel, das sie seit Jahrhunderten besiedelt und gegen die Horden aus dem Osten verteidigt hatten. Über ihr Königreich herrscht seit zwölf Jahren ein Mann, den einige (z.B. er selber) für den größten Feldherrn aller Zeiten halten, der nichts weiter will als in Frieden regieren, während ihn seine bösen Nachbarn, denen das nicht gefällt, ein ums andere Mal zum Krieg zwingen; andere (z.B. Dikigoros) sehen in ihm nur einen größenwahnsinnigen Verrückten und Tyrannen, der sich weder für die Maas noch die Memel noch die Etsch interessierte.
[Exkurs. Warum hätte er? Nun, liebe Leser, wahrscheinlich habt Ihr in Euren Geschichts- und Märchenbüchern gelesen, daß während der Zeit, über die Dikigoros hier schreibt, "der erste Weltkrieg der Geschichte" tobte; denn im so genannten "Spanischen Erbfolgekrieg" ging es doch um die Überreste des Reichs, "in dem die Sonne nicht unterging", um Spanien, halb Italien, halb Amerika, einen Teil Afrikas und Asiens - oder? Wohl wahr, aber unter uns: All die schönen überseeischen Kolonien waren, objektiv betrachtet, nicht viel wert - die Bodenschätze, die man dort heraus geholt hatte, hatten Spanien nicht etwa reich gemacht, sondern ruiniert, denn die Menschen hatten gedacht, nachdem sie so viel schönes Gold und Silber hatten, könnten sie das Arbeiten getrost einstellen, und das taten sie denn auch - deshalb stand ja seine Konkursmasse jetzt zur Liquidierung an. Reich wird ein Land nur durch tüchtige Menschen - und daran haperte es in all jenen Ländern ganz gewaltig. Die einzige Ausnahme im spanischen Kolonialreich, welche diese Regel bestätigte, waren die Niederlande, genauer gesagt Brabant, das Land an der Maas. Dort hatte der Gewerbefleiß der Menschen wahren Reichtum geschaffen, und nur jenes auf dem Papier, pardon Pergament kleine Land war es wirklich wert, darum zu kämpfen - den ganzen Rest hätte man sich in sauer kochen können. Warum griff jener König nicht ein? Er hätte durchaus gekonnt: Der Polenfeldzug war in etwas mehr als drei Wochen über die Bühne gegangen; Dänemark und Norwegen waren auch kein Problem gewesen, seine Truppen standen am Belt; nun wäre es ein Gebot der Vernunft gewesen, sich mit Frankreich zusammen zu tun und... aber der Herzog von Marlborough - Churchill hieß er übrigens - intrigierte erfolgreich dagegen; also beschloß der König, sich gen Osten zu wenden. Exkurs Ende.]
Auch der Ostfeldzug hatte mit glänzenden Erfolgen begonnen. Schon im zweiten Kriegsjahr hatte er das gegnerische Heer im Sack gehabt und hätte es vollständig vernichten können - wie hieß der Ort? Dünkirchen? Dünaburg? Nein, etwas weiter nördlich des letzteren, bei Narwa, hatte er den Gegner entkommen lassen. Egal, die Küste hatte man ja nun wieder, und die war es doch auch wert gewesen, darum zu kämpfen - oder? Ja, aber genügte das auch? Mußte man nicht weiter marschieren, um der Gefahr aus dem Osten endgültig Herr zu werden? Der "Selbst"-Herrscher der Russen war ein blutrünstiger Tyrann, der seine Untertanen - nicht nur die Russen, sondern auch die vielen unterjochten Völker - brutal unterdrückte, von dem die Welt befreit werden mußte. Auf halbem Weg nach Moskau, bei Mohilew, hatte der König nach Südosten geschwenkt, nach Kiew, gegen den Rat der meisten seiner Generäle. "Meine Generäle verstehen nichts von Kriegswirtschaft", pflegte er zu sagen, "und von Politik auch nicht." Wirtschaftlich und politisch machte der Schlenker durchaus Sinn: Kiew war die Hauptstadt der Ukraine, und die Kosaken dort wollten endlich das sowjetische, pardon russische Joch abschütteln; ihr Führer, ein gewisser Johann (die Russen nannten ihn "Iwan") Masepa schloß sich ihnen an.
(...)
Jener König aber, unter dem das Schwedenreich die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreicht hat (daß es kurz nach seinem Tod unterging und sein Nachfolger nur noch ein machtloser Kleinstaat ist, gerät allmählich in Vergessenheit), geht in die Chroniken ein als Nationalheld.
Exkurs - den Dikigoros einschieben muß, um zu erklären, wieso hier gleich die Polen auftauchen, die doch bisher mit der Memel gleich gar nichts am Hut hatten. Das kam so: Im 14. Jahrhundert war der Großfürst von Litauen auf die Idee gekommen, die Erbin von Polen zu heiraten und die beiden Länder dadurch zu vereinigen - das klingt doch nett und friedlich, nicht wahr? Allemal besser als wenn das durch blutige Eroberungskriege geschehen wäre, oder? Prägten nicht auch die Habsburger einst den Spruch: "Laß Andere Kriege führen, Du, glückliches Österreich, heirate!"? Tja, fragt sich bloß, wer damit glücklich wurde. Die Litauer jedenfalls nicht, sie fühlten sich bald von den Polen unterdrückt. Auch die Katalanen stöhnen bis heute darunter, daß ihr König im 15. Jahrhundert die Königin von Kastilien geheiratet hatte und dadurch den Staat "Spanien" schuf; und die Schotten, daß ihr König sich im 17. Jahrhundert irgendwie den englischen Thron erheiratete und sie damit letztlich zu Untertanen "Großbritanniens" machte. Und die Völker des Habsburgerreichs atmeten hörbar auf, als jener "Völkerkerker" 1918 endlich aufgebrochen wurde. Die Sklavenvölker der Polen brauchten nicht ganz so lange zu warten, denn im 18. Jahrhundert kam das, was Dikigoros' "Historischer Atlas" zu Schulzeiten "Polens Abwehrkampf im Osten" überschrieb und eine voreingenommene, unobjektive Geschichtsschreibung als "polnische Teilungen" bezeichnet. Tatsächlich wurden bei diesen "Teilungen" zunächst nur einige Deutsche, Balten, Weißrussen und Ukrainer von der polnischen Schreckensherrschaft befreit; und am Ende nahmen die Preußen und die Habsburger auch noch ein paar Nicht-Deutsche auf, um sie vor der russsichen Knute - die sie sonst erwartet hätte - zu bewahren. Ob das aus Sicht der ersteren klug war, mag dahin stehen (Dikigoros bezweifelt es); aber aus Sicht der letzteren war es ein Segen - nur im "Herzogtum Posen" und im "Königreich Galizien und Lodomerien" konnte die polnische bzw. ukrainische Kultur überleben - in den von Rußland annektierten Gebieten ging sie unter und mußte er mühsam wieder von Westen aus belebt werden. Aber darauf will Dikigoros hier nicht hinaus - es trägt ja nichts zum eigentlichen Thema bei. Doch es ist Bestandteil seiner eigenen Familiengeschichte. (Leser, die das nicht interessiert, können den Rest dieses Exkurses getrost überspringen :-) Auch sein Ururgroßvater unternahm wegen jener "Teilungen" einst eine Reise, die er eigentlich gar nicht machen wollte. Er war Bergmann gewesen, im Harz. Ein Grubenunglück hatte ihn zum Invaliden gemacht; und da es damals noch kein engmaschig geknüpftes soziales Netz gab, bekam er zwar eine kleine Abfindung, doch die reichte - jedenfalls im Westen, pardon in Mitteldeutschland - weder zum Leben noch zum Sterben. Aber da gab es ja nun seit einigen Jahrzehnten die neuen preußischen Ostgebiete, und wenn irgendwo die Preise niedrig waren, dann dort - einen Morgen mittelprächtigen Ackerlands gab es um ein paar Silbergroschen. (Für jüngere Leser: 24 Silbergroschen waren ein Thaler - bis zur Währungsreform von 1837, dann waren es 30 -; ein Morgen war etwas mehr als 50x50 m, also ungefähr ein halbes Fußballfeld, vier Morgen waren gut ein Hektar.) Also kaufte Jens im "Wartheland" für zehn Silberthaler eine Klitsche von knapp 100 Hektar, wo man Rüben und etwas Getreide anbauen konnte - reich wurde man damit nicht, aber man war wenigstens sein eigener Herr. (Dikigoros besitzt ein Foto jener Klitsche aus dem Jahre 1918 - wer heute das liebe Vieh in einem solchen Schweinestall unterbrächte, bekäme es mit der Tierschutzbehörde zu tun.) Auch die Urgroßeltern von Dikigoros' Schwiegermutter machten sich damals auf die Reise, sogar noch 150 Werst weiter östlich. (Nein, liebe Leser, nicht 150 km weiter östlich - damit rechnete damals noch niemand, denn der Kilometer wurde erst anno 1875 erfunden :-) Sie waren ordentliche Bauern aus dem Schwäbischen und hatten als solche eigentlich ihr Auskommen; aber jenseits des Rheins saßen die Franzosen und warfen begehrliche Augen herüber; und man wußte ja, wie die in den letzten Jahrhunderten in Lothringen, im Elsaß und in der Pfalz gehaust hatten, da schien es sicherer, sein Glück - und seine Sicherheit - im Osten zu suchen, in den neuen preußischen Territorien. Sie landeten in Lodz, das damals - vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert - noch ein besseres Dorf war; auch dort waren die Grundstückspreise erschwinglich, und sie hatten ja auch mehr Geld als Dikigoros' Ururgroßvater, also konnten sie sich ein vergleichsweise schönes Anwesen kaufen und beruhigt in die Zukunft schauen. Acht Wochen später lebten sie nicht mehr in Deutschland, sondern im "Großherzogtum Posen", und acht Jahre später in einem Gebilde, das die Geschichtsbücher als "Kongreßpolen" bezeichnen; Dikigoros' Schwiegermutter nannte es dagegen zeitlebens nur verächtlich "Russisch Polen" - sie war ihm 1945 als einzige ihrer Familie lebend entronnen. Exkurs Ende.]
Eigentlich wollten sie ganz woanders hin - nach Hause. Seit über zwanzig Jahren tobt - mit mehr oder weniger kurzen Unterbrechungen - der Krieg; und es ist nicht mehr so, daß den bloß eine kleine Minderheit von Berufssoldaten oder Gepreßten führt, sondern seit der "Levée en masse" genannten Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hat jeder Mann zwischen 16 und 60 die zweifelhafte Ehre, pardon die ehrenhafte Pflicht, den Kopf für Gott, König und Vaterland hinhalten zu dürfen. Und nicht nur für sein eigenes Vaterland, denn zwei Drittel jenes Heeres, das sich anschickt, die Memel zu überschreiten, besteht aus Angehörigen der "Verbündeten" der "Grande Nation". Seit zwölfeinhalb Jahren herrscht dort ein Mann (zunächst als "Erster Konsul", dann als "Kaiser"), den einige für den größten Feldherrn aller Zeiten halten (einschließlich seiner selbst), der weiter nichts will als in Frieden regieren, während ihn seine bösen Nachbarn, denen das nicht gefällt, ein ums andere Mal zum Krieg zwingen; andere (einschließlich Dikigoros) sehen in ihm nur einen größenwahnsinnigen Verrückten und Tyrannen. Seine Karriere begann an der Etsch, bei Rivoli, wo er ein Heer der Habsburger vernichtend schlug, was ihn zum Nationalhelden machte, was ihm wiederum die Machtergreifung in Paris ermöglichte. Das Etschtal nebst Umgebung hat er längst seinem Reich einverleibt, ebenso die Lande an der Maas; nur am Belt sind ihm die Briten zuvor gekommen, die kurzerhand die Flotte des neutralen Dänemark im Hafen von Kopenhagen zusammen geschossen und die Stadt nieder gebrannt haben. [Es war eines der übelsten Kriegsverbrechen des 19. Jahrhunderts. Sind die Verantwortlichen dafür jemals zur Rechenschaft gezogen worden? Aber nein, ganz im Gegenteil: Der Durchführende jenes Überfalls, ein gewisser Horatio Nelson, wird zum Nationalhelden der Briten - dem einzigen, der ihnen nach der Demontage von Oliver Cromwell, T. E. Lawrence und Winston Churchill noch geblieben ist -, und in Dikigoros' Geschichtsbuch (erschienen zu einer Zeit, als die Briten noch Besatzung-, pardon Schutzmacht in der BRD waren) steht dazu, daß sich die Briten mit jenem Angriff "gegen die dänische Neutralität zur Wehr setzten" - das ist wirklich hübsch ausgedrückt!] Wenig später überfallen und annektieren sie auch eine kleine Nordseeinsel vor der Elbmündung namens Helgoland, die bisher zu Dänemark gehört hatte, und auf der ein gewisser August Heinrich Hoffmann aus Fallersleben bei Braunschweig - der damals noch ein Kind ist - Jahrzehnte später ein Liedchen schreiben wird über jene vier Gewässer, von denen hier schon wiederholt die Rede war.
Aber was kümmert das alles jenen Herrscher, der die Länder zwischen Etsch und Maas erobert hat, und der sich nun anschickt, dies auch mit den Ländern jenseits der Memel zu tun.
(...)
Jener Kaiser aber - genauer gesagt seine Leiche - wird nur 25 Jahre nach seinem Sturz feierlich in seine Adoptivheimat überführt und dort mit allen Ehren bestattet. Er, unter dem Frankreich die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreichte, geht in die Chroniken ein als Nationalheld - und als solcher gilt er dort bis heute.
Eigentlich wollten sie ganz woanders hin - nach Hause. Seit über fünf Jahren tobt - mit einer mehr oder weniger kurzen
Unterbrechung, die sich "Waffenstillstand" nennt, aber kein Waffenstillstand ist, geschweige denn ein Friede, der
"Große Krieg", den sie später den "Ersten Weltkrieg" nennen werden; und es ist ist nicht mehr so, daß den bloß die
Soldaten führen - egal ob Berufssoldaten oder "Wehrpflichtige", sondern diesmal trifft er auch die Zivilbevölkerung:
Der englischen Hungerblockade und der Spanischen Grippe sind in Mitteleuropa mehr Menschen zum Opfer gefallen als den
Kampfhandlungen, und das Sterben geht weiter... Nach Hause wollen sie also - aber wie sollen sie, wie können sie, wenn
sie von der Maas kommen (Eupen-Malmedy ist an Belgien gefallen - ohne Volksabstimmung, denn die wäre gegen Belgien
ausgegangen) oder von der Etsch (Südtirol ist
an Italien gefallen - ohne Volksabstimmung, denn die wäre gegen Italien ausgegangen)
oder vom Belt (Nordschleswig ist an Dänemark gefallen - mit Volksabstimmung, obwohl die gerade am Belt gegen Dänemark
ausgegangen ist). Bleibt also nur die Memel und das Land jenseits der Memel. Deutsch ist es schon lange nicht mehr, aber
die Regierungen der neuen Staaten, die sich von Rußland unabhängig machen wollen, haben den Heimatlosen von Maas,
Etsch und Belt Land versprochen, wenn sie es frei kämpfen von den Bolschewiken, die es besetzt haben. "Freikorps"
nennen die Männer, die sich darauf einlassen, ihre Einheiten - ein Wort, das damals, noch aus den "Befreiungskriegen"
gegen Napoleon, einen guten Klang hat. Die SPD-Regierung der jungen "Weimarer" Republik hat diese "Freikorps" anwerben
lassen, und weil das so gute Demokraten waren, darf Dikigoros an dieser Stelle nicht schreiben, daß seit dann und
dann größenwahnsinnige Verrückte in Berlin herrschten - verglichen mit denen, die heute in Berlin herrschen,
täte er ihnen damit auch Unrecht. Anders als jene heutigen und ihre willfährigen Geschichtsklitterer behaupten,
ging jenes Unternehmen also nicht zurück auf die Privatinitiative einiger "Rebellen" (dazu sollte man sie erst später
stempeln), sondern einen Auftrag der Regierung, und alles das geschah auch nicht geheim, sondern ganz offen, sogar im
Auftrag der Entente-Mächte, insbesondere der Briten, die den Krieg bereits bis zum letzten Inder, Neger usw.
geführt hatten und nun anderes Kanonenfutter suchten, um ihnen die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen: Die Japaner,
die sie nach Sibirien riefen, die Griechen, die sie nach Anatolien schickten, und eben die Deutschen, die
das Baltikum frei kämpfen sollten.
(...)
Was sangen die Männer, die jenseits der Memel um Freiheit und Land kämpften? Wenn man Ernst von Salomon glauben darf, dann sangen zumindest die vom Belt und etwas weiter südlich das "Seeräuberlied" des alten Piraten Störtebeker; aber es ist dies einer der wenigen Punkte, in denen Dikigoros dem Gedächtnis des "Barden der Freikorps" nicht traut - der war auch nicht überall. Nein, die Deutschen sangen ein ganz anderes Lied, ein englisches - und warum auch nicht, da sie doch im Auftrag der Engländer kämpften? -, dem sie freilich einen neuen Text verpaßten, und das in die deutsche Geschichte (nicht in die deutschen Geschichtsbücher - aus denen wurde es nachhaltig getilgt) unter vielen verschiedenen Namen eingegangen ist. Dabei hat es einen ganz eindeutigen, ganz einfachen und ganz unverfänglichen Titel: "Kam'rad reich mir die Hände". Und der Text ging so:
Kamrad reich mir die Hände
Fest wolln zusammen wir stehn
Mag man uns auch bekämpfen
Der Geist soll nicht untergehn
Hat man uns auch verraten
Trieb mit uns Schindluderei
Wir wußten was wir taten
(das darf man bezweifeln, Anm. Dikigoros)
Blieben dem Vaterland treu
Bald werdt auch Ihr erkennen
was ihr an uns verlorn
Kamrad reich mir die Hände
Halt was wir einst geschworn.
So weit, so gut; aber nun kamen einige Leute, die sich ihren eigenen Refrain dazu schrieben. Zunächst die berühmt-berüchtigte "Brigade Ehrhardt", die sang: "Wikingerschiff am Ärmel, Kaiserkrone im Knopf... Die Brigade Ehrhardt werden wir genannt..." Nun, das alleine hätte sicher nicht zum Verbot geführt, denn ihr Namensgeber, Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, gilt heute als braver Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, so daß der Vorwurf, ein "Wegbereiter Hitlers" gewesen zu sein, ihn nicht mehr treffen kann. Aber nach ihm kamen andere, die das Lied auch gut fanden, und den Refrain leicht veränderten. Zunächst einmal Franz Seldte, der nach dem Ersten Weltkrieg den "Bund der Frontsoldaten" gegründet hatte, der bald nach jenem neuen Refrain "Stahlhelm" genannt wurde: "Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band (ja, das waren noch brave Monarchisten, die mit "schwarz-rot-mostricht" nichts am Hut, pardon Helm hatten :-)... Bund der Frontsoldaten werden wir genannt." Und noch ein paar Jahre später kamen wieder andere und änderten den Refrain erneut: "Hakenkreuz am Stahlhelm, blutig-rot das Band, Sturmabteilung Hitler werden wir genannt..." (Später ließ man - mundfaul - erst "Hitler" weg, dannn kürzte man den Haufen nur noch "S.A." ab.) Und das Original? Das stammte wie gesagt aus England, aus einem Musical von Theodore Roosevelt, pardon Theodore Morse, und hieß Blue Bell, und war ein ganz harmloses Abschiedsliedchen eines Reisenden:
Blue Bell, the dawn is waking
Sweetheart, you mustn't sigh
Blue Bell, my heart is breaking
I come to say good-bye...
(etc., Dikigoros will hier nicht den ganzen Text abpinnen; er hat Euch den
Song verlinkt, Ihr könnt ihn selber weiter hören, wenn er Euch interessiert)
Pfui, daraus konnten aber wirklich nur die bösen Deutschen so ein blutrünstiges Kriegslied machen - oder? Fast richtig, liebe Leser, fast. Ganz richtig ist allerdings, daß die Engländer selber es schon 1914 zum Kriegslied umschrieben, und da lautete der Text nun ganz anders (Dikigoros hat ihn Euch gleich übersetzt, da er das Original unter abbildet):
Traurige Schönheit, ein Unrecht muß gerächt werden
Tapfere Männer müssen ihr Leben riskieren
Feindliche Kriegsmänner kämpfen
Jeder strebt nach dem Sieg
Dort auf dem Hügel liegt
Dort inmitten des lauten Brüllens der Kanonen
Traurige Schönheit, sterbend dein treuer Geliebter
Noch einmal nach dir rufend
Aber das ist immer noch nicht die ganze Wahrheit, denn auch in Frankreich gab es Musicals - die damals noch "Cabarets" hießen -, und eines davon hieß "Au tourlourou", mit dem beliebten Refrain: "Quand Madelon vient nous servir à boire..." Dikigoros hat keine Lust, Euch das auch noch alles haarklein auseinander zu setzen; es mag genügen, daß die Franzosen aus "Au tourlourou" 1914 "Aux vrais poilus [Den wahren Landsern]" machten, und daß sie es 1919 und 1939 aus gegebenem Anlaß noch zweimal (einmal zur Feier des Vertrags von Versailles, einmal zur Feier der Kriegserklärung an die bösen Nazi-Deutschen) umschrieben; im übrigen nimmt Dikigoros an, daß es in anderen Krieg führenden Ländern entsprechende Liedertexte gab, von denen er nur nichts weiß.
(...)
Eigentlich wollten sie ganz woanders hin. Nach Afrika, um die Tommies und Yankees aufs Haupt zu schlagen, Tobruk noch einmal zu befreien und womöglich sogar jenen famosen Feldmarschall Rommel aus der Nähe zu sehen, den sie alle vom Hörensagen "kannten" und bewunderten. Sie waren von ihrer Mission überzeugt; es war ein Kreuzzug des christlichen Europas gegen die finsteren Mächte, die es bedrohen. Doch dann hatten die Oberen beschlossen, daß das Unterfangen, noch mehr Schiffe die Überfahrt von Sizilien in den Kessel von Tunis riskieren zu lassen, aussichtslos sei, und die Truppen sich langsam nach Norditalien zurück kämpfen lassen. Nicht ganz bis an die Etsch - jedenfalls hat es Dikigoros' Vater nicht mehr bis dahin geschafft; am Fuße des Monte Cassino hat ihn der "Heimatschuß" erwischt - dachte er jedenfalls. Aber dann ging der "Heldenklau" um im Lazarett und erwischte auch Urs: "Kaputtes Bein? Das wird schon wieder, ab zum ROA-Leergang; bis zur Genesung nur theoretische Ausbildung." So geschieht es denn, und nach der Beförderung zum "Fahnenjunker-Unteroffizier der Reserve" steht die "Frontbewährung" an. Eigentlich sollte es nach Ungarn und Siebenbürgen gehen, das sie gegen den Ansturm der bolschewistischen Horden aus dem Osten verteidigen sollten; aber dann waren ihnen ausgerechnet die Herrscher von Rumänien und Ungarn in den Rücken gefallen, und so waren sie denn statt dessen an die Memel geschickt worden, genauer gesagt nördlich davon, in die "Festung Kurland" in den letzten, längst abgeschnittenen Vorposten des Reichs. Über jenes Reich herrscht seit fast zwölf Jahren ein Mann, den einige für den größten Feldherrn aller Zeiten halten (einschließlich seiner selbst), der nichts weiter will als in Frieden regieren, während ihn seine bösen Nachbarn, denen das nicht gefällt, ein ums andere Mal zum Krieg zwingen. Andere sehen in ihm nur einen größenwahnsinnigen Verrückten und Tyrannen, der sich jedenfalls nicht für die Etsch interessiert - im Gegenteil: War er es nicht, der gegen den Willen der deutschen Bevölkerungsmehrheit ausdrücklich auf Südtirol verzichtete und seinem Spezi Mussolini in den Rachen warf, das sogar in einem dritten, heute so gut wie vergessenen Band von "Mein Kampf" ausführlich rechtfertigte? (Wenn er es 1944 noch annektiert hätte, würden die Gutmenschen heute behaupten, daß es nur deshalb 1945 an Italien fiel bzw. bei Italien blieb, statt spätestens 1955 in die brave "Republik Österreich" zurück zu kehren. Daß die Südtiroler unter dem bösen Fascisten Mussolini ihre eigene Sprache und Kultur bewahren durften, während sie unter den guten Demokraten der "Republik Italien" langsam aber sicher zwangsromanisiert werden - einschlie&szlich des unschuldigen Flusses, der jetzt "Adige" heißen muß -, darf heute in der BRDDR nicht thematisiert werden; Italien ist doch wieder unser Verbündeter, und wir sind alle EU-Bürger - so steht es jedenfalls in Dikigoros' neuem Reisepaß.)
Inzwischen, nachdem auch die Italiener dem Reich in den Rücken gefallen sind, hat man es dann doch besetzt, aber das soll uns hier nicht mehr interessieren. Zurück nach Kurland - welches Reiseziel wäre besser geeignet, um kurz vor Toreschluß noch den Offiziersnachwuchs zu verheizen? Und nicht nur den eigenen: In den Nachbarabschnitten liegen einmal mehr die Freiwilligen von der Maas und vom Belt - die Divisionen "Nederland" und "Nordland" (deren Kommandeur bei Narwa - just dort, wo Karl XII von Schweden einst den Krieg gegen Peter I von Rußland verloren hatte - gefallen war) -, die auch mal an den "großen Kreuzzug" gegen den Bolschewismus geglaubt hatten. Jetzt glauben sie gar nichts mehr, außer vielleicht daran, daß es bald aus sein wird. Es ist wie bei den sprichwörtlichen "zehn kleinen Negerlein", oder wie beim Märchen vom Herrn, der den Jockel ausschickt: Jede Nacht muß einer hinaus in die verschneiten Stellungen, um den Weihnachtsmann zu spielen, Flagge zu zeigen, den Leuten Mut zuzusprechen; jede Nacht hängen "Tannenbäume" am Himmel (längst haben die Deutschen auch an der Ostfront die Luftherrschaft eingebüßt), und jede Nacht regnet es Geschenke. (Ja, der Tod ist geschenkt, und hier kostet er nicht mal die Beerdigung; denn man kann es sich nicht mehr leisten, die wenigen Lebenden aufs Spiel zu setzen, um die vielen Toten zu begraben.) Am Ende muß auch der Nachwuchs ran; Urs ist der vorletzte, und er tritt die nächtliche Exe-, pardon Exkursion in der Gewißheit an, daß es seine letzte sein wird. Er verabschiedet sich von Reinhard, seinem letzten überlebenden Leergangs-Kameraden - der weiß; daß er am nächsten Tag dran sein wird -, schreibt (auf der Schreibmaschine des Kompanie-Feldwebels, der, wie es eine von Dikigoros' Großvater aufgehobene Zeitung jener Tage theatralisch ausdrückt, "seine Reise zum Großen Heer angetreten" hat, ebenso wie der Kompaniechef und die anderen Offiziere) einen Abschiedsbrief an seine Eltern (der 12 Tage bis ins zerbombte Hamburg braucht - Dikigoros' Großvater hat das Ankunftsdatum, den 12.01.45, mit penibler Sorgfalt notiert) und macht sich auf den Weg. Aber wie durch ein Wunder suchen sich die Reisenden von der anderen Feldpostnummer just ab dieser Nacht andere bevorzugte Ziele für ihre Geschenke. [In den Geschichtsbüchern wird später stehen, daß die "dritte Kurland-Schlacht" am 31.12.44 zuende ging und die vierte erst am 24.01.45 beginnen sollte - als ob in der Zwischenzeit nichts passiert wäre...!] Wie dem auch sei, Urs und Reinhard kommen durch - fürs erste jedenfalls. Ein paar Tage später erhalten sie einen Gutschein für die Rückreise ins Reich, den einzulösen zwar nicht mehr ganz einfach ist; aber es gelingt ihnen tatsächlich, ein Schiff zurück nach Gotenhafen zu finden, und sogar einen der letzten Züge gen Westen zu erwischen, der vom benachbarten Danzig abfährt, das damals noch ganz unversehrt ist, die einzige deutsche Großstadt, die sich ihren spätmittelalterlichen Stadtkern weitgehend bewahrt hat, mit Kirchen, die gar nicht wie Kirchen aussehen, sondern eher wie Reihen überdimensionaler Reihenhäuser mit Türmen, denen man erst viel später Spitzen aufgesetzt hat, die gar nicht ins Bild passen, und mit Toren, die gar keine sind: Das "Krantor" ist bloß ein Kran, neben den man links und rechts Türme gebaut hat, wie sie sonst bisweilen Stadttore einrahmen; das "Frauentor" ist eine Einkaufspassage, und das "Hohe Tor" steht mitten in der Stadt und ist das niedrigste Gebäude weit und breit. Aber weithin sichtbar ist der "Stockturm" mit der "Peinkammer", worauf die Danziger mächtig stolz sind, denn dort wurden bis Ende des 18. Jahrhunderts Gefangene in "Stöcke" geschlossen und gefoltert, gemäß ihrer nicht umsonst "Willkühr" genannten Rechtsordnung, bis die verhaßten Preußen kamen, jene Spaßverderber, und dem ein Ende machten. Nicht mal 150 Jahre ist das her, und nun wird die preußische Herrschaft bald schon wieder enden - und mit ihr Danzig. Bleiben werden "dunkle Giebel, hohe Fenster, Türme tief aus Nebeln..." (Dikigoros' Vater war ein Eichendorff-Fan) und alles andere, was sie nach der völligen Zerstörung im März 1945 wieder aufbauen werden; aber dann wird es nur noch "Gdańsk" sein, ein polnisches Dreckskaff wie so viele andere.
"Willst du wirklich gleich zurück zum Reisebüro?" fragt Reinhard, "ein kleiner Abstecher, dafür werden sie
uns nicht gleich an die Wand stellen. Meine Eltern wohnen ganz in der Nähe; wer weiß, ob ich die nochmal
lebend wieder sehe." Seine Eltern haben einen Bauernhof, dort könnte man sich mal so richtig satt essen und
ausschlafen und diese greuliche Reise ins Baltikum ein bißchen vergessen. Urs schwankt. Er ist eigentlich immer ein braver, pflichtbewußter Junge gewesen; aber wenn man schon mit 17 Jahren auf Reisen geschickt wird und seitdem nichts anderes getan hat im Leben, lernt man, fünfe gerade sein zu lassen. Reinhard steht in seiner Schuld: Er hatte ein paar unvorsichtige Bemerkungen über "diesen Sch...-Krieg" und "diese Sch...-Nazis" gemacht, die ihm zwar offiziell nicht nachgewiesen werden konnten (denn außer dem Denunzianten hielten seine Kameraden alle den Mund, hatten nichts gehört und nichts gesehen), die aber zwischen den Zeilen seiner letzten Beurteilung standen. Urs - der die versiegelten Umschläge mit den Papieren über Wasserdampf geöffnet hatte - hat die Seite eiskalt verbrannt: "Wenn die das bei unserer Stammeinheit sehen, wirst du nie Reiseleiter, sondern landest irgendwo im Küchendienst; und bis den Wisch jemand vermißt, hast du schon anderswo eine neue, bessere Beurteilung, dann fragt keiner mehr nach der alten." Sagt's und klebt den Umschlag wieder zu. Das ist Urkunden-Unterdrückung, und darauf steht Schlimmeres als Küchendienst; aber jetzt, statt zur Reisegruppe zurück zu kehren, heim zu Muttern zu fahren, das wäre Desertion, und darauf steht, zumal im Krieg, die Todesstrafe, auch wenn Reinhard das nicht wahr haben will. So siegt denn letztlich bei Urs eine Mischung aus Angst und Pflichtgefühl: Das Vaterland braucht seine Reiseleiter, da darf er nicht eine Stunde vertrödeln. Er hat Glück und wird an die vorletzte Offiziersschule versetzt, die dem Reich noch geblieben ist, in Randers, am Belt. Der Ort lebt wie im tiefsten Frieden.
(...)
Wie dem auch sei, obwohl die Reise für Urs noch nicht zuende ist, hat er noch einmal Glück und kommt durch zu den amerikanischen Touristen - so nennt man die (Rund-)Reisenden jetzt, denn das Englische wird, nicht zuletzt infolge dieser Reiseveranstaltung, zur Weltsprache, während das Deutsche langsam aber sicher ins Hintertreffen gerät, selbst im eigenen Lande. Die Amerikaner wollen ihn zwar nicht selber mit nehmen, vermitteln ihm aber einen Aufenthalt in einem britischen Ferien-Camp, und damit ist er vergleichsweise gut bedient. Reinhard dagegen, der nicht mehr nach Norden durchgekommen, sondern an die allerletzte Offiziersschule in Millowitz im "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" versetzt worden ist, trifft dort ein paar Tage später auf russische Touristen und wird in die Sowjet-Union eingeladen, die er zehn Jahre lang bereist, bis ins ferne Sibirien; als er danach wieder heim ins Reich kommt, das es inzwischen nicht mehr gibt, leben seine Eltern zwar noch, er selber aber ist ein gebrochener Mann, der nie mehr auf Reisen gehen wird. Als er sich wieder bei Urs meldet - der ihn längst als "verschollen" abgeschrieben hatte - und ihm das alles erzählt, macht der sich doch Vorwürfe: "Wenn ich damals deine Beurteilung nicht verbrannt hätte, wärst du vielleicht irgendwo als Schütze Arsch in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, die 10 Jahre Sibirien wären dir erspart geblieben, und du hättest noch einen prima Persilschein als Anti-Nazi gehabt..." [Anm. für jüngere Leser: Offiziell hießen die Lappen, mit denen von den "Entnazifizierungskammern" über den Rest des Lebens ihrer Inhaber entschieden wurde, "Entlastungsscheine" - der von Urs ist ein Wisch auf billigstem Lumpenpapier, wie es nach dem Krieg verwendet wurde, von nicht einmal DIN-A-5-Format.] - "Ach, so darfst du das nicht sehen; ich habe ja überlebt, und wer weiß, die Amis haben im Westen noch so viele wahllos an die Wand gestellt oder im Lager verrecken lassen..." Sonst haben sich die alten Reisegefährten nicht mehr viel zu sagen; sie haben ein Drittel ihres Lebens, dazu noch prägende Jahre, in verschiedenen Welten gelebt; und in der Zwischenzeit hat sich einiges getan: Im Westen fühlen sich viele wie neu geboren (manche sind es auch tatsächlich, wie zum Beispiel Dikigoros :-) Im Baltikum dagegen sind viele gestorben; und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie noch... nein, nicht heute, denn noch brauchen sie die Russen als Arbeitssklaven; aber binnen ein, zwei Generationen würde es wohl kein Baltikum mehr geben, dann würde das Werk der Iwáns, Peters, Katharinas und Stalins endlich vollendet sein.
Und nun, am Ende jener großen historischen Reisen ins Baltikum, ist es Zeit für einen längeren Exkurs: Dikigoros hat oft mit seinem Vater über jene Reisen gesprochen, besonders über die letzte. Urs hat seine Meinung darüber einige Male geändert, eigentlich immer gegen die herrschende Meinung: Die ging im Dritten Reich - natürlich - davon aus, daß es ein den Deutschen aufgezwungener Präventivkrieg war, daß Stalin unmittelbar davor stand, seinerseits das Reich anzugreifen. Nach dem Krieg wurde dann unter Bezug auf "Mein Kampf" die Auffassung vertreten, daß Hitler "schon immer" den Überfall auf die Sowjetunion geplant habe, daß also von einem Präventivkrieg keine Rede sein könne. Und noch später, als heraus kam, welch ungeheure Menge von Angriffstruppen Stalin im Sommer 1941 an seiner Westgrenze aufgefahren hatte, neigten die meisten Militärhistoriker wieder dazu, daß objektiv eine Notwehrsitutation vorlag, also Grund zu einem Präventivkrieg. Urs hat es immer anders gesehen: "Am Angriffstag, es war ein Sonntag, wurden wir beim RAD vorzeitig geweckt und zum Morgenappell befohlen. Unser Einheitsführer hat uns vorgelesen, daß der Rußlandfeldzug begonnen habe. Es war totenstill, kein einziges Hurra, dabei waren die meisten von uns stramme HJ-Führer und absolut linientreu. Niemand von uns hat geglaubt, daß Stalin uns überfallen wollte." Nach dem Krieg, als er wieder Reserveoffizier wurde, mußte die Bundeswehr natürlich daran glauben, daß sie ihre moralische Existenz-Berechtigung aus einer Notwehrsituation ableitete - also mußte es schon immer so gewesen sein: Hitler war nur einem Angriff Stalins zuvor gekommen. Aber als sich nach einem halben Jahrhundert die russischen Archive öffneten und man mit Leuten sprechen konnte, die sie eingesehen hatten (auch deutsche Akten, welche die Russen nach dem Krieg hatten mitgehen lassen), hat sich seinem Sohn ein weitaus differenzierteres Bild geboten. Und obwohl Dikigoros nicht weiß, ob er seinen Vater wirklich überzeugt hat (und nicht einmal weiß, ob seine derzeitige Überzeugung schon das letzte Wort in dieser Sache ist), will er einmal versuchen, das Ergebnis hier kurz zu skizzieren:
1. Hitlers Polenfeldzug war ein echter Präventivkrieg, denn die Polen rüsteten - von den Briten aufgehetzt - zum Marsch auf Berlin. Nicht wegen Danzig (das ja gar nicht polnisch war!), und auch nicht wegen der Autobahn durch den Korridor (wenn die Deutschen so blöde waren, eine bauen zu wollen, bitte sehr!), sondern aus einem viel handfesteren Grund: Die von den Polen grausam unterdrückten Minderheiten, vor allem die Deutschen und die Juden, flohen schon seit Jahren ins Reich. Die Deutschen nahm Hitler gerne auf; aber für die Juden machte er 1938 die Grenzen dicht und versuchte sogar - pfui! -, bereits geflohene polnische Juden zurück nach Polen abzuschieben! Das zu verhindern, war Polen einen Krieg wert, daran lassen die diplomatischen Akten beider Seiten von damals keinen vernünftigen Zweifel. 2. Was Hitler in "Mein Kampf" über den "Lebensraum im Osten" im allgemeinen und über die Sowjetunion im besonderen geschrieben hatte, war überholt, und das wußte er auch. Zu einer Zeit, als er Deutschlands rapiden Geburtenrückgang mit Mutterkreuzen, Ehestandsdarlehen und wohltönender Propaganda ("Frauen raus aus den Fabriken und zurück an den Herd") ebenso verzweifelt wie erfolglos bekämpfte, konnte von Schlagworten wie "Volk ohne Raum" doch gar nicht mehr die Rede sein. Deutschland mochte viele Dinge brauchen, u.a. Rohstoffe und Handelsfreiheit (beides wurde ihm vom Ausland weitgehend verwehrt, auch vor 1933, also nicht aus Mangel an Demokratie!), aber eines brauchte es ganz bestimmt nicht: "Lebensraum im Osten". Im Gegenteil, Hitler war froh, die Auslandsdeutschen "heim ins Reich" zu holen, denn nach der Überwindung der Arbeitslosigkeit der späten 1920er und frühen 1930er Jahre herrschte in Deutschland bald Arbeits- und vor allem Fachkräftemangel. 3. Den berühmt-berüchtigten Pakt mit Stalin schloß Hitler 1939, weil die polnische Armee (jedenfalls auf dem Papier) stärker war als die Reichswehr, ein Bündnispartner an seiner Ostgrenze zur Entlastung also dringend geboten schien. Die Sowjetunion war der ideale Bündnispartner für Deutschland, weil sie zu allem Überfluß auch noch die dringend benötigten Rohstoffe lieferte. Warum dann Hitlers Gesinnungswandel? Nun, er hatte Stalin freie Hand im Baltikum gelassen (die baltischen Länder hatten sich gegenüber ihren deutschen Minderheiten in höchstem Maße schäbig verhalten, die letzteren konnte man nur noch heim ins Reich holen und einen dicken Strich unter die Rechnung machen), auch Weißrußland und die Westukraine sollte er von Polen und Karelien von Finnland zurück bekommen; aber als Stalin auch Bessarabien annektierte und die Hand nach Deutschlands strategischen Erdölreserven in Rumänien ausstreckte, überlegte Hitler es sich anders: Er zitierten den sowjetischen Außenminister Molotow nach Berlin, und als der nicht nachgab, gab er Anweisung zum Krieg gegen die Sowjetunion. Sein Pech war nur, daß Stalins Spione Wind davon bekamen, und so rüstete nun auch die Sowjetunion zum Krieg gegen das Reich. Ja, liebe Leser, der Treppenwitz der Geschichte ist, daß nicht etwa Hitler, sondern Stalin einen Präventivkrieg gegen seinen Verbündeten plante; und genau in dessen Aufmarsch stießen die deutschen Angreifer im Sommer 1941. Und wer ist nun "schuld"? Dikigoros weiß es nicht; vielleicht die Götter des Zufalls und der Mißverständnisse. Exkurs Ende.
Eigentlich wollten sie ganz woanders hin. Nach Meran im Lande an der Etsch, wo schon Dikigoros' Mutter immer gerne Urlaub gemacht hatte. Aber dann machte das Hotel, in dem sie reseviert hatten, überraschend seine Pforten dicht. "Wenigstens haben wir noch keine Anzahlung geleistet," knurrt Dikigoros, als er davon erfährt, "sicher ist das ein Wink des Schicksals mit dem Zaunpfahl, woanders hinzufahren; eine Hotelreise nach Tirol können wir auch noch machen, wenn wir alt und klapperig sind." - "Robert wäre sicher ganz happy, wenn ich mit ihm in die Camargue führe." - "Dto." - "Du willst doch nicht etwa schon wieder nach Indien?" - "Nein, aber es gibt ja auch in Europa noch ein paar Ecken, die wir nicht kennen." - "In den Ostblock fahre ich nicht mehr; die Reisen nach Auschwitz, Budapest, Leningrad und Moskau haben mir gereicht." - "Was heißt Ostblock; es gibt immerhin ein paar Länder, die sich redlich bemühen, diese Vergangenheit abzuschütteln. Außerdem sind Riga und Reval alte deutsche Städte, älter als die Städte in der BRD." Seit zwölf Jahren herrschen über die Länder jenseits der Memel keine Verrückten mehr vom Kreml aus. (Der letzte, ein gewisser Michail Gorbatschëw - der bei den Deutschen aus unerfindlichen Gründen noch immer hoch im Kurs steht, obwohl sie ihm böse sein müßten, weil er ihnen die DDR mit ihren 17 Millionen Ossi-Kostgängern angedreht hat - hatte vergeblich versucht, ihre Unabhängigkeitsbewegungen mit Panzern platt zu walzen wie einst seine Vor-Vor-Vorgänger die in Ostberlin und Budapest.) "Kannst Du nicht Traudl mitnehmen?" - "Die soll gefälligst für ihr Examen büffeln, dann kann sie anschließend mit Ulf nach Indien fliegen, damit die endlich mal etwas von der Welt sehen. In dem Alter war ich..." - "Du hast selber gesagt, daß das andere Zeiten waren, als man noch um die Welt reisen konnte, ohne um sein Leben fürchten zu müssen." - "Gefahren gab es immer; da muß man durch, wenn man jung ist; später wird es noch gefährlicher." - "Und die Mafia in den SU-Nachfolgestaaten? Die soll gefährlicher sein als zu der Zeit, als wir dort waren." - "Ach was." - "Hast du denn gar keine allein stehenden Freunde mehr, die mit dir fahren könnten?" - "Die eine Hälfte hast du vergrault, und die andere... das sind doch alles müde alte Männer, mit denen man sich nur noch abends in die Kneipe setzen und besaufen kann." - "In Riga ist doch demnächst Schachturnier. Was ist denn mit deinem alten Club? Hast du mir nicht mal erzählt, daß da so viele Leute aus dem Baltikum spielen?" - "Das ist längst vorbei. Seit die wieder in die 2. Liga abgestiegen sind, tummelt sich da alles mögliche, aus der Schweiz, Island, der Slowakei, der Ukraïne, Usbekistan und neuerdings sogar wieder aus Deutschland - aber kein einziger Spieler mehr aus den Ländern Tals und Keres'." - "Und Fidi?" - "Der fährt doch nicht mehr in die SU-Nachfolgestaaten, seit dort überall der Kapitalismus ausgebrochen ist. Solange es noch ein paar kommunistische Länder auf der Welt gibt, reist der nur noch dorthin; ich glaube, der spielt gerade ein Turnier auf Kuba." - "Und zu einer diesem Sängerfeste? Was ist denn mit deiner Mandantin, dieser verrückten alten Gräfin, die auf der Gitarre klampft und dazu singt, wenn sie nicht gerade wieder den Text vergessen hat?" - "Einzelkämpfer dürfen dort nicht auftreten; und mit unserem Kirchenchor würden wir uns nur blamieren, der gewinnt doch keinen Blumentopf." - "Seit wann gewinnen denn bei Musik-Wettbewerben die, die etwas können? Gehen die Uhren dort etwa anders als bei uns?"
Dikigoros dreht in der Erinnerung die Uhren der Zeit zurück, weit zurück, in seine Schulzeit.
(...)
Aber dann wird Janes Schwester plötzlich schwer krank, und das betrachtet sie als Wink des Schicksals mit dem Zaunpfahl, endlich mal wieder an die Costa Brava zu fahren, wohin sie ausgewandert ist. Da sich Dikigoros mit seiner Schwägerin gar nicht versteht, ist seine Anwesenheit dort nicht gefragt, und so bucht er denn kurzentschlossen alleine einen Flug nach Rīga - so spricht es sich, und so will er es fortan auch schreiben - obwohl er seine Leser enttäuschen muß: Er macht die Reise nicht so, wie er sie nach dem Thema dieser und anderer seiner Webseiten eigentlich machen müßte, d.h. nicht die Düna hinauf auf den Spuren der Argonauten bis nach Dünaburg, der einstigen jüdischen Hochburg an der Kreuzung der alten Handelswege; nicht nach Wilna, dem ewigen Zankapfel, der die Zwietracht zwischen Litauern und Polen begründete (und heute in der Zwietracht zwischen Litauern - zu deren Staat es formell gehört - und Weißrussen - die 90% der Bevölkerung stellen - fortlebt), dem "baltischen Jerusalem", von dessen christlicher Annakirche Napoleon Bonaparte so begeistert war, daß er sie am liebsten abgerissen und nach Frankreich abtransportiert hätte wie den ägyptischen Obelisken, der heute noch auf der Pariser Place de la Concorde [Platz der Eintracht] steht; nicht ins Memelland, das Hitler ein letzes Mal heim ins Reich holte, weder nach Tauroggen noch nach Tilsit noch nach "Klaipeda", und nicht nach Kurland, wo sein Vater kämpfen mußte, weder nach Liebau ("Liepāja"), noch nach Goldingen ("Kuldīga") noch zum deutschen Soldatenfriedhof in Frauenburg ("Saldus") - obwohl sich eine solche Rundreise geradezu aufdrängt. Nein, er fährt genau in die entgegen gesetzte Richtung, nämlich nach Norden, und Rīga läßt er erst mal links liegen. Warum? Ach, liebe Leser, weil er den Litauern und Letten einfach nicht unbefangen und unvoreingenommen gegenüber treten kann - er weiß zu viel von ihnen und was sie den Deutschen angetan haben. Moment mal - nimmt er nicht für sich selber immer in Anspruch, daß er nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist und folglich mit dem, was seine Landsleute anderen angetan haben, nichts zu tun habe? Was können die Menschen, die heute im Baltikum leben, für die Sünden ihrer Vorväter? Und haben sie nicht - ebenso wie die Deutschen - lange genug dafür gebüßt, und vielleicht sogar noch schwerer? Nun, dann will sich Dikigoros mal eine bessere Begründung ausdenken - die gewiß auch stichhaltig ist, aber Ihr solltet immer im Hinterkopf behalten, daß es nur die halbe Wahrheit ist, wenn Ihr Euch beim Weiterlesen fragen solltet, warum er auch zu den Esten - die immerhin mit den Finnen stammverwandt sind, die er als so deutsch- und gastfreundlich kennen gelernt hat - bisweilen etwas biestig ist. Also denn: Die brennenden Fragen der Gegenwart liegen nicht mehr an Maas und Memel, sondern wieder an der Narwa, wo Karl, der große Narr auf dem schwedischen Königsthron, sie einst unbeantwortet liegen ließ - und wo kein Tourist sonst hin fährt - und an anderen Orten auf dem Weg dorthin: Ist das Zusammen- oder Nebeneinanderherleben verschiedener Völker möglich? Ist die Umwelt auf dem Weg zum "Fortschritt" noch zu retten? Und - was gibt es im Baltikum zu essen? Die letzte Frage ist für Dikigoros die wichtigste, denn der Mensch ist, was er ißt, und er ist im Rückblick heilfroh, daß seine Frau nicht mit gekommen ist, denn wo hätte er jeden Tag ein "ordentliches" Restaurant auftreiben sollen, wo es Steak mit Pommes und Salat gibt? Nun, in Reval, pardon, in Tallinn, gibt es das noch, und dort beginnt er seinen Bericht, nach einer greulichen Übernachtfahrt im Bus von Rīga und der langwierigen Suche nach einer Unterkunft mit angemessenem Preis-Leistungs-Verhältnis.
Exkurs. Nein, Dikigoros enthält Euch nichts vor. Er hat keinen Zwischenstop im einstigen Seebad Pernau ("Pärnu") eingelegt - an keinem baltischen Strand kann man heutzutage noch ohne Gesundheitsrisiko baden. (Zuhause im Schwimmbad weiß er wenigstens, daß das, was da stinkt, nur Chlor ist :-) Er hat auch keinen Abstecher nach Leal ("Lihula") gemacht, wo vor Jahr und Tag ein Mordsknatsch war wegen eines Denkmals für estnische Freiwillige, die 1941-45 an Deutschlands Seite im Kampf gegen den Bolschewismus gefallen sind. (Es mußte auf internationale Proteste - besonders aus der BRDDR - wieder abgerissen werden, weil das doch alles böse "Faschisten" waren.) Und er war auch nicht auf Ösel ("Saaremaa"), wo estnische Hobby-Historiker das antike "ultima Thule" vermuten, entgegen der herrschenden Lehre, die es in Island lokalisiert. (Dikigoros hat dazu - noch - keine eigene Meinung; wenn er eine gewonnen hat, wird er sie vielleicht mal an anderer Stelle zum besten geben :-). Exkurs Ende.
"Wenn Sie am Wochenende nach Tallinn wollen, dann sollten Sie vorher ein Hotelzimmer reservieren," schreibt ein Reiseführer, "denn da ist die Stadt überlaufen von finnischen Wodka-Touristen; am besten meiden Sie die Stadt dann ganz." Aber pardon, lieber Reiseführer, das zählt doch gerade zu den Dingen, die Dikigoros unbedingt sehen will: Finnen, die sich hier voll laufen lassen (er erinnert sich noch, daß Bier und Wodka in Finnland schlecht und teuer waren - und dem Vernehmen nach hat sich daran nichts geändert, es soll sogar noch teurer geworden sein :-), und die Estland vorziehen, weil sie die Sprache einigermaßen verstehen können (der Unterschied ist nicht viel größer als der zwischen Preußisch und Bayrisch :-), während die Engländer lieber nach Lettland fliegen. Dazu besteht eigentlich gar kein Grund, denn Tallinn (und nicht nur Tallinn) wäre auch auf britische Zechkumpane bestens vorbereitet - für diejenigen, die kein Eesti können, hat man sogar die Kneipen auf Englisch beschriftet: Das "Molly Malone's" und das "Beerhouse" (das allerdings überwiegend von deutschen Touristen frequentiert wird) liegen ganz zentral, keine 100 m vom Rathausplatz entfernt, und dann sind da noch das "Bulldog", das "Scotland Yard", der "Englishman Pub", das "Hell Hunt" und die "Ice Bar"; wenn Dikigoros Sauftourist wäre... ist er aber nicht, und so verzehrt er denn angesichts des überall angebotenen Schweinefraßes (fettes Schweinefleisch mit zermatschtem Gemüse und Kartoffeln scheint das Nationalgericht zu sein) zu Mondkalbpreisen (seit der Unabhängigkeit hat die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt bei 200% gelegen - Tendenz angeblich sinkend) in einer Studentenkneipe eine Art Piroggen - die russische Besatzungszeit muß doch wenigstens zu etwas gut gewesen sein. [Es gibt auch teure "Spezialitäten-Restaurants"; aber Dikigoros fährt doch nicht ins Baltikum, um dort chinesisch, deutsch, französisch, indisch, italienisch oder gar japanisch essen zu gehen!] Touristengruppen - auch aus Deutschland - ziehen durch die Straßen der Altstadt, vor allem auf dem Domberg, den die UNESCO zum "Weltkulturerbe" erklärt hat und wo Autofahren verboten ist - außer für Bonzen mit Sondergenehmigung, wie in Sowjetzeiten. Was hat sich denn geändert? Oh ja, auf dem "Dicken Hermann", pardon, auf dem "Langen Herrmann" ("Pikke" heißt eigentlich beides, es ist die estnische Verballhornung des germanischen Wortes "big") weht jetzt eine estnische Flagge statt einer sowjetischen, und es ist viel Geld aus dem Westen geflossen - vor allem aus Schweden, ohne das hier wahrscheinlich immer noch tote Hose wäre. Es wird viel gebuddelt und gebaut, pardon renoviert; aber irgendwie wirkt das alles nicht "echt", sondern steril, wie ein zu Zwecken des Touristennepps hergerichtetes Disneyland. Die Nikolaikirche, das Schloß, die Domkirche... Nun, wer Dikigoros kennt, weiß, was er sich im Zweifel zuerst anschaut, wie überall, wo es etwas derartiges gibt: die Aleksandr-Njewskij-Kathedrale - so ganz kann er das Thema dieser Reise halt doch nicht aus seinem Hinterkopf verdrängen. Ein ansehnliches Bauwerk, das einmal dunkelgrün, rotbraun und ockergelb aussah; aber da das wohl nicht dem Geschmack der westlichen Touristen entsprach, hat man sie umgemalt: die Zwiebelturmkuppeln sind jetzt fast schwarz, der Körper fast weiß und das Rot wirkt irgendwie "eleganter". (Dikigoros erinnert das an die Verschandelung, pardon Modernisierung der alten Kirchen in Schwarz-Rheindorf und Siegburg, die man auch kaum wieder erkennt; gewiß sind die neuen Farben heller und frischer - aber ist das nicht auch eine Verfälschung der Geschichte? Warum werden die alten griechischen Tempel nicht wieder bunt angemalt, obwohl sie es ursprünglich mal waren? Weil die Touristen sie farblos sehen wollen!)
Pflichtschuldig erzählt eine Reiseführerin, daß die Hauptglocke die größte des Landes sei - wie schön, aber wen schert das? Nachdem sie ihre Hammelherde hinaus getrieben hat, bleiben außer Dikigoros nur noch zwei Frauen zurück - dem Alter nach wahrscheinlich Mutter und Tochter. "Sprechen Sie Russisch?" fragt die jüngere eher zaghaft. Dikigoros überlegt, was er antworten soll. Am besten "njet" und seines Weges gehen. Esten könnte er wahrscheinlich mit "ja, natürlich" ärgern; aber da es sich offenbar um altgläubige Russinnen handelt, sagt er etwas anderes: "Ich denke schon [dumaju]." Das ist boshaft, denn das war die Standard-Bejahung zu Zeiten der SU, die heute selbst in Rußland verpönt ist - sie weist einen als Sowjet-Menschen aus, und er ist nicht wie ein Tourist gekleidet, sondern so, wie er früher auch in Moskau nicht als Ausländer aufgefallen ist (inzwischen besagt das nichts mehr, denn die reichen Moskauer sind nicht mehr viel anders gekleidet als reiche Westler). Die jüngere schweigt denn auch betreten; aber die ältere, die ihn aufmerksam gemustert und offenbar schärfere Augen hat, sagt plötzlich in nicht ganz akzentfreiem Deutsch: "Sie sind kein Russe." - "Sie hatten nicht gefragt, ob ich Russe bin, sondern ob ich Russisch spreche," gibt Dikigoros betont langsam zurück, wobei er das "r" schön rollt, das "h" als "ch", das "o" als "uo", das "i" lang und das "u" ganz tief spricht. - "Sie sprechen Ihre Muttersprache nicht mehr gut." (Da hat sie recht - Dikigoros spricht überhaupt kein Wienerisch, und er versteht es nur mühsam :-) - "Und wo haben Sie die gelernt?" - "Auf der deutschen Schule; bis 1940 gab es so etwas." - "Hier?" - "Wir sind nicht von hier." - "Aber Ihre Tochter spricht lieber Russisch?" - "Können Sie das nicht verstehen?" - "Doch, sehr gut sogar, Eesti ist eine fürchterlich schwierige Sprache. Aber es ist nun mal die Landessprache." - "Darf es denn nur eine Landessprache geben? Es gibt doch auch Länder, wo mehrere Sprachen gesprochen werden. In der UdSSR zum Beispiel..." - "... haben alle Sowjetmenschen Russisch lernen müssen, oder wollen Sie mir etwas anderes weismachen?" - "Nein, aber das war doch nur praktisch." - "Eben. Die Esten finden es praktisch, wenn alle Eesti lernen. Zuhause oder in der Kirche können Sie ja weiter Russisch sprechen." - "Können Sie nicht verstehen, daß wir unsere Sprache behalten wollen? Haben das nicht auch die Baltendeutschen getan, und hat der russische Tsar das nicht bis zuletzt toleriert? Die Schweden hatten den Deutschen ihre Kultur verboten, die Russen haben sie ihnen wieder zurück gegeben. Sie können sich bei Peter dem Großen bedanken, weil er so deutschfreundlich war." - "Väterchen Tsar ist nicht mehr. Welches Recht hatten Sie, hierher zu kommen und die Esten zu unterwerfen?" - "Welches Recht hatten die deutschen Ordensritter?" - "Das Recht dessen, der das Land aufbaut. Reval ist eine von Deutschen erbaute Stadt. Die Russen sind nur gekommen, um zu zerstören." - "Die Schweden sagen, daß sie Reval erbaut haben, ich weiß es nicht, unsere Schulbücher lügen."
[Exkurs. Dikigoros hat in einem jener bewußten Bücher nachgeschlagen und folgendes gefunden: Hier auf dem Domberg stand schon seit unvordenklichen Zeiten eine estnische "Burg" - welcher Art und Güte (nur ein Erdwall? oder auch schon ein Holzzaun?) ist unbekannt. Dann, im 13. Jahrhundert, kamen erst die Dänen (nach denen die Esten ihre Hauptstadt heute "Tallinn [Dänenburg]" nennen, dann die Deutschen (die es nach dem estnischen Namen [Räväle] "Reval" nannten), die sich ein paar Jahrhunderte darum kloppten. Im 16. Jahrhundert stritten sich Schweden und Russen; im 18. Jahrhundert fiel es "endgültig" an Rußland, bla bla... Seht ihr, liebe Leser, das ist ein Musterbeispiel für falsche Fragestellungen in der so genannten Geschichts-"Wissenschaft", die zwangsläufig zu falschen Antworten führen. Wen schert es denn, wer einen Platz eroberte und zerstörte? Es kommt doch darauf an, wer dort etwas aufgebaut hat - und das waren im Baltikum immer und überall nur die Deutschen. Was fragt Ihr da, liebe Brecht-fans? Hatte Karl der Große nicht auch seinen Koch dabei? Ja, aber erstens ging es da um Eroberung, nicht um Aufbau, zweitens schreibt Dikigoros darüber an anderer Stelle, und drittens haben die deutschen Architekten und Baumeister in diesem Fall sogar die Handwerker, d.h. die Steinmetzen und Bauarbeiter, aus Deutschland mit gebracht. Exkurs Ende.]
"Aber diese Kirche haben wir gebaut," sagt die Russin, als hätte sie Dikigoros' Gedanken erraten. "Ja, wie die häßlichen Plattenbauten am Stadtrand." - "Ist sie nicht viel schöner als die protestantischen Kirchen?" - "Mag sein, aber verloren hat sie hier trotzdem nichts." - "Ebenso wenig wie wir, wollen Sie sagen?" - "Wie sind Sie her gekommen?" - "Mit der Bahn." - "Das meine ich nicht. Sie leben doch in Estland, oder?" - "Nein, nicht mehr. Nach der Pensionierung meines Mannes waren wir her gezogen, aber nach der Unabhängigkeit sind wir zurück nach Rußland gegangen." - "Was ist Ihr Mann?" - "Er ist gestorben." - "Nein, was war er? Militär?" - "Professor für Musikwissenschaften." - "Verstehen Sie eigentlich, was wir reden?" fragt Dikigoros die jüngere auf Russisch, wobei er die neumodische Aussprache des "jiri" als "ui" vermeidet - das gab es zu Sowjetzeiten nämlich noch nicht. Sie verneint und fragt Dikigoros, wo er jetzt lebe. "In Deutschland natürlich." - "Und, werden Sie dort nicht geschnitten, als Aussiedler, der nicht richtig Deutsch spricht?" fragt die Mutter. "Woher kennen Sie das Wort 'Aussiedler'?" - "Ist es nicht richtig?" - "Doch; aber ich bin keiner," sagt Dikigoros und gibt das mühsame Akzentsprechen auf; "aber trösten Sie sich, unsere Geschichtsbücher lügen auch." - "Sind Sie Ost- oder Westdeutscher?" - "Norddeutscher, aber meine Vorfahren stammen nicht aus dem Baltikum." - "Warum kommen Sie dann her?" - "Aus Neugier." - "Auf was?" - "Auf Leute wie Sie, bevor sie aussterben." - "Wir Russen sterben nicht aus. Die Deutschen sterben aus. Und die Esten." - "Na, wenn das so ist, dann sind die Russen daran sicher nicht ganz unschuldig." - "Ach was, die Esten tragen selber die Hauptschuld. Nach dem Ersten Weltkrieg haben sie die Deutschen hinaus geworfen, und jetzt wollen sie die Russen auch hinaus werfen. Die knappe Million Esten, die dann noch übrig bleibt, wird noch eine Weile von der Substanz zehren..." - "Von welcher Substanz?" - "Von unserer Substanz! Was glauben Sie denn, wer all die Industriebetriebe hier gebaut hat? 1945 gab er hier nur Landwirtschaft. Die hatten sie sich unter den Nagel gerissen, als sie nach dem Ersten Weltkrieg die Deutschen enteignet haben, und jetzt uns; aber wenn das aufgebraucht ist..." - "Dann springen ausländische Investoren ein, soweit ich sehe." - "Das wird sich bald ändern, wenn die ersten Pleite gemacht haben. Schauen Sie sich doch mal diese ungesunde Entwicklung an - die investieren doch nur in unproduktive Dinge wie Tourismus und so. Daran verdienen nur ein paar Neureiche, Schieber, Mafiosi und ihre Nutten. Die einfachen Menschen dagegen... Sie zahlen wahrscheinlich für eine Übernachtung im Hotel so viel wie hier die durchschnittliche Monatsrente beträgt." - "Ich bin etwas außerhalb abgestiegen, da geht es noch. Wie kommen Sie denn über die Runden?" - "Wir übernachten bei Bekannten." - "Nein, das meine ich nicht, sondern bei Ihnen zuhause. Sie sind doch auch Rentnerin. Wo leben Sie denn in Rußland?" - "In Sankt Peterburg." - "Ach, und da gibt es keine Neureichen, Schieber, Mafiosi und Nutten?" - "Doch, sicher. Aber es ist nicht so wie hier, daß die ganze Stadt davon lebt; wir haben mehr Einwohner als ganz Estland." - "Und wie kommen Sie da zurecht? Das ist doch ein verdammt teures Pflaster." - "Von meiner Rente könnte ich da nicht leben; aber Lara gibt Klavierunterricht. Sie ist zwar keine studierte Musikpädagogin, aber um so ein paar höheren Töchtern etwas Klimpern beizubringen reicht es; und der Name meines Mannes hat immer noch einen guten Klang." - "Sie profitieren also indirekt auch von den Neureichen." - "Ja, aber nicht auf unanständige Weise." - "Was hat Ihre Tochter denn eigentlich für eine Ausbildung?" - "Pianistin natürlich; aber mit arbeitslosen Pianistinnen können sie bei uns die Straße pflastern." - "Toll, daß Sie diesen Ausdruck kennen." - "Was ist daran toll? Dafür kann ich mir nichts kaufen." - "Denken Sie nicht so kapitalistisch." - "Ich denke nicht kapitalistisch; ich bin überzeugte Kommunistin." - "Wovon sind Sie denn da überzeugt?" - "Daß es zu Sowjet-Zeiten gerechter zugegangen ist. Es gab zwar weniger Reiche, aber auch weniger Arme; der großen Masse des Volkes geht es heute viel schlechter als früher, sowohl in Rußland als auch in Estland; um das zu sehen, braucht man nicht mal Kommunist zu sein, sondern nur Augen im Kopf zu haben." - "Mir fehlt der Vergleich; ich bin zum ersten Mal in Estland." - "Aber Sie müssen doch auch einmal vom Kommunismus überzeugt gewesen sein..." - "Wieso?" - "Nu, Sie sind offenbar aus Westdeutschland; da hat man doch nur Russisch gelernt, wenn man geglaubt hat..." - "Ich kann Ihnen sagen, woran ich geglaubt habe: daß Rußland einmal vom Kommunismus befreit werden würde und daß ich das noch mit erlebe; ich hatte allerdings nicht geglaubt, daß es so lange dauern würde und daß Ihre und unsere Politiker danach derart versagen würden." Sie schweigt. "Spielen Sie richtig Klavier, oder könen Sie nur Etüden?" fragt Dikigoros Lara auf Russisch." - "Na hören Sie mal..." - "Ich frage ja nur, weil ich weiß, daß bei Ihnen überall Marxismus-Leninismus Hauptfach war. Wenn Sie so gut Klavier spielen wie die meisten Ostdeutschen, die ich kenne, Russisch sprechen..." - "Ich spiele sogar recht gut." - "Dann machen Sie mir doch die Freude; ich habe unten in der Stadt ein Lokal gesehen, wo ein Klavier steht; ich lade Sie ein."
Sie kehren also in das besagte Lokal ein, dessen Namen Dikigoros hier besser nicht nennt, sonst wird es demnächst aus allen Reiseführern gestrichen oder mit dem Hinweis versehen, daß man es als politisch-korrekter deutscher Gutmensch besser nicht besuchen solle. (Für Vorurteilslose: Es liegt in der Nähe des alten Viehmarkts ("Karjavärava") und ist eigentlich nicht zu verfehlen. Nein, es ist nicht das "L'Arancia" - Dikigoros ist doch nicht Krösus!) Nun, es sind eh nur Einheimische da, und was die Klavierlehrerin da auf dem Piano herunter spult, scheint sie nicht sonderlich zu beeindrucken (obwohl sie wirklich nicht schlecht spielt). Dann setzt sich Dikigoros ans Klavier und spielt die Lieder, die er oben zitiert hat, und dazu noch ein paar, die bei seinem ersten Besuch in Finnland vor einem Vierteljahrhundert gut angekommen sind - die Esten müßten doch einen ähnlichen musikalischen Geschmack haben, oder? Den größten Erfolg hat ein Lied, über das er an anderer Stelle ausführlicher schreibt. Der ganze Saal singt mit; er muß es wieder und wieder spielen - ohne zu wissen, ob es auf Estnisch so viele Strofen hat, oder ob das Wiederholugen sind, denn er versteht kein Wort von dem, was die da singen; in seinen Ohren klingt das alles irgendwie gleich. Aber die Russinnen scheinen es zu verstehen - sie sitzen mit versteinerten Gesichtern dabei und schweigen. "Gefällt es Ihnen nicht?" fragt Dikigoros in der Bierpause, "es ist doch ein wunderschönes Lied, altes europäisches Kulturgut, allen Nationen gemeinsam - außer vielleicht der russischen." - "Sie irren, unsere jungen Nazis singen das auch, allerdings mit einem Text, der Ihnen weniger gefallen dürfte." - "Ein Lied kann doch nichts dafür, wer es singt, oder? Kennen Sie den deutschen Text?" - "Es ist ein Nazi-Lied." - "Unsinn, überhaupt nicht, nicht mal in der Form, in der es die SS gesungen hat. Es ist ein altes französisches Jagdlied, aus dem sich u.a. die holländische Nationalhymne entwickelt hat. Und später war es ein deutsches Kirchen- und Studentenlied. Ich habe den Nachdruck eines Liederbüchleins von 1499, als noch niemand von den Nazis geträumt hat, da war es schon drin. Und die einzige Universität in Estland war nun mal eine deutsche; warum sollten die jungen Leute es also nicht kennen?" - "Dieser Text ist bestimmt nicht von 1499," sagt sie, "und mit gemeinsamer Kultur hat das auch nichts zu tun. Das ist Kultur." Sie setzt sich ihrerseits ans Klavier und spielt etwas. "Kennen Sie das?" - "Aber gewiß doch, Madame, ich bin ein großer Fan von Tschajkowskij." - "Dann sind Sie aber der einzige hier im Saal." - "Warum, weil keiner mitgetanzt hat? Es hat halt nicht jeder eine Ballettausbildung." - "Es hat auch niemand geklatscht." - "Das liegt an Ihnen, Madame, lassen Sie mich mal." Dikigoros setzt sich wieder ans Klavier und singt "Wie die wilden Schwäne ziehn" - schon fällt das Publikum wieder ein, ebenso bei "Wenn die Kraniche ziehn"; es gibt offenbar auch dazu estnische Texte. (Er hat versucht, sie im Internet zu finden - ohne Erfolg; wenn sie jemand kennt, wäre er für eine Mail dankbar, möglichst gleich mit Übersetzung.) Dikigoros beschließt den Abend mit "Die Gedanken sind frei" - darüber können auch die Russinnen nicht meckern - denkt er. Aber er irrt. "Die Gedanken sind nicht frei," sagt die ältere Russin nicht ohne Bitterkeit in der Stimme, "weder hier noch anderswo." - "Bei Ihnen in Rußland und bei uns in Deutschland vielleicht nicht; aber hier in Estland offenbar doch - die Menschen scheinen das wenigstens zu glauben." - "Wieso meinen Sie, daß die Gedanken hier frei sind und bei Ihnen in Deutschland nicht? Ich dachte, seit 1945 wären sie wieder frei?" - "Es gibt Leute, die meinen, daß sie erst seit 1945 nicht mehr frei sind." - "Meinen Sie das auch?" - "Da ich nach 1945 geboren bin, kann ich das nicht beurteilen; aber ich kann Ihnen versichern, daß sie heute nicht frei sind. Und damit meine ich nicht nur die Urheberrechts- und Patentgesetze, sondern auch die Telekommunikations-Überwachungsverordnung." - "Die was?" - "Der Beschnüffelungs-Ukas; glauben Sie bloß nicht, daß es so etwas nur bei Ihnen gibt. Anderswo ist es illegal, seine Bürger abzuhören, in Deutschland ist es sogar gesetzlich erlaubt." - "Und wenn es nicht erlaubt wäre?" - "Dann täten die Schnüffler es trotzdem. Ich bin Anwalt; trotzdem oder gerade deshalb wird mein Telefon regelmäßig abgehört." - "Woher wissen Sie das?" - "Ich weiß es eben. Mein Internetzugang wird ebenfalls beschnüffelt; mein Provider ist gesetzlich verpflichtet, meine Verbindungsdaten zu speichern dem Staat zur Verfügung zu stellen, wenn der wissen will, wann ich online war und auf welchen Webseiten ich gesurft habe. Hier in Estland ist es dagegen ein von der Verfassung garantiertes Recht, freien Zugang zum Internet zu haben, und zwar frei in beiderlei Hinsicht: frei von Kosten, und frei von staatlicher Überwachung; deshalb stehen hier überall kostenlose öffentliche Internetzugänge herum." - "Wo?" - "In jedem Rathaus, in jeder Bibliothek, in jeder Schule, können Sie auch als Ausländer benutzen, und niemand fragt Sie nach dem Paß." - "So etwas wäre bei uns unmöglich." - "Eben. Bei uns auch. Und ich halte nun mal die informative Selbstbestimmung für eines der wichtigsten Freiheitsrechte überhaupt."
Am nächsten Tag fährt Dikigoros hinaus - nein, nicht ins Freilichtmuseum "Rocca al Mare" (die Innenstadt von Tallinn ist ihm Museum genug :-) und auch nicht nach Katharinental, sondern nach Sankt Brigitten ("Pirita"), zur Ruine des alten Klosters und zum Waldfriedhof ("Metsakalmistu"), der etwas weiter nördlich in einem Kiefernwäldchen versteckt liegt - kaum ein Reiseführer erwähnt ihn noch. Hier liegt Paul Keres begraben, der beste Schachspieler seiner Zeit, der dennoch nie Weltmeister werden durfte, weil er ein Freund der Deutschen war und damit automatisch als Nazi galt, zumal er damals der einzige nicht-jüdische Schachgroßmeister war (über ihn schreibt Dikigoros
an anderer Stelle
mehr), und Emilie Jansen alias "Lydia Koidula", die "Nachtigall von Emajõgi", die das Lied schrieb, das Dikigoros bis zum Vortag für "die heimliche Nationalhymne" der Esten hielt, weil er das in irgend einem Reiseführer so gelesen hatte: "Mein Vaterland ist meine Liebe..." Ein Lied mit diesem Titel ("Moja strana, moja Bulgaria" - einige Leser erinnern sich vielleicht noch: "Monika", die deutsche Fassung, gesungen von einem gewissen Ulli Martin, war Anfang der 1970er Jahre auch in Trizonesien ein Hit) mag die heimliche Nationalhymne der Bulgaren sein; aber die der Esten ist es nicht [mehr].
(...)
Olympiade und Boykott 1980. Hindukusch.
(...)
"Und das ist alles, was Ihnen zu Tallinn einfällt?" fragt sein Sitznachbar im Bus nach Narwa - Exil-Este aus USA auf "Heimaturlaub" -, dem er von seinen Erlebnissen berichtet. (Ja, liebe Leser, die Ihr ähnlich fragen solltet, alles andere könnt Ihr doch viel besser in irgend einem Reiseführer nachlesen - dies nicht!) "Was wollen Sie sonst hören?" - "Na, haben Sie jemals so eine riesige alte Burgfeste gesehen?" - "Dutzende." - "Wo?" - "Z.B. in Indien." - "Wo da?" - "In Rajasthan, in Uttar Pradesh, in Madhya Pradesh..." - "Zum Beispiel?" - "Gwāliyar." - "Nie gehört." - "Ist fast eine Millionenstadt, sollte man eigentlich kennen, zumal das kein Freilicht-Museum ist; da wohnen noch richtig normale Menschen, nicht bloß Touristen-Nepper." - "Wahrscheinlich kenne ich es deshalb nicht." - "Das ist auch gut so; die brauchen keine Touristen." - "Aber in Europa? Wo gibt es da vergleichbares?" - "In Frankreich. In Carcassonne paßt das zweimal rein." - "Aber bei Ihnen in Deutschland?" - "Rothenburg, Dinkelsbühl, Nördlingen... und Nürnberg, bis Sie es zerstört haben." - "Bis ich es zerstört habe?" - "Sie sind US-Amerikaner, nicht?" - "Ja, aber für wie alt halten Sie mich? Meine Eltern sind 1945 eingewandert, die haben nichts mit dem Bombenkrieg gegen Deutschland zu tun." - "Warum sind Ihre Eltern abgehauen?" - "Na warum wohl? Weil die Sowjets kamen und jeden, der kein Kommunist war..." - "Nicht, weil sie Nazis oder Kollaborateure waren?" - "In Estland gab es keine Nazis." - "Ach so, das hatte ich ganz vergessen. Haben Ihre Eltern Ihnen das erzählt?" - "Darüber haben wir nie gesprochen, aber wenn sie Nazis gewesen wären, wären sie doch nach Südamerika ausgewandert, nicht in die USA. Das weiß doch jeder." - "Na, dann muß es ja stimmen." [Als Dikigoros das später seiner Frau erzählt, meint die nur: "Daran sind Leute wie du schuld, die behaupten, daß das Horst-Wessel-Lied ein kommunistisches Kampflied war, 'Wenn alle untreu werden' ein Kirchenlied und die HJ eine Pfadfindergruppe. Wahrscheinlich haben dem Mann seine Eltern genau das gleiche erzählt." - "Stimmt ja auch." - "Ja, aber du siehst doch, was daraus für Schlüsse gezogen werden. In Estland hat es also nie Nazis gegeben." - "In Deutschland ja auch nicht, da gab es nur innere Widerstandskämpfer. Nazis gab und gibt es nur in Südamerika: Stroessner, Pinochet, Fujimori... und Hitler und Bormann leben ja auch noch immer dort, das wird dir jeder Ami, den du fragst, bestätigen." - "Denen könntest du doch auch erzählen, daß die Marseillaise eine Fischsuppe ist und die Guillotine ein Rasierapparat." - "Nun laß doch den Amis ihren Glauben... Was willste denen denn sonst erzählen? Etwa, daß die Marseillaise blutrünstiger ist alle SS-Lieder zusammen und daß unter der Guillotine wahrscheinlich mehr Menschen gestorben sind als in den national-sozialistischen Gaskammern? Das wäre strafbar! Du weißt doch, daß sich iustitia nicht der verità beugt, sondern der sogenannten libertà, pardon liberty." - "Du meinst, daß sie gebeugt wird." - "Das bleibt sich gleich; es kommt nur auf die Perspektive an."]
Zurück ins Baltikum und zu seinen Perspektiven. Dikigoros macht Station in Rakvere, dem alten Wesenberg, benannt nach der gleichnamigen Ordensburg, vor der alljährlich irgendein Sängerfest statt finden soll - aber dann hätte er jetzt wahrscheinlich keine erschwingliche Unterkunft, denn er hat wie üblich nicht reserviert. Hier beginnt Wierland, die alte Brücke zwischen dem eigentlichen Estland und Ingermanland. Angeblich wird hier auch ein etwas anderer Dialekt gesprochen als im Westen und im Süden; aber für Dikigoros' Ohren ist das alles gleichermaßen unverständlich.
Kunda, Tolsburg, enttäuschend.
Narwa
Elektra oder Arkadien? Russen. Keres. Lenindenkmal. Ordensburg.
Dorpat ("Tartu")
Livland.
Schach.
Walk ("Valga")
Priimetsa, Stalag 351.
Rīga
Wie gehabt: Übernachten etwas außerhalb; zum Essen Borschtsch und Piroggen (von denen die Letten übrigens behaupten, daß die Russen sie ihnen nachgemacht hätten, und nicht umgekehrt), zum Trinken Cidre, der hier nicht aus Äpfeln, sondern aus Birnen hergestellt wird.
(...)
Die Hauptstadt Lettlands ist noch mehr von Touristen überlaufen als Tallinn, wobei die deutschen Touristengruppen besonders auffallen. Wodurch? Durch ihr typisch gutmenschliches Besichtigungs-Programm, das so aussieht: Besuch des "jüdischen Zentrums" in der Schulstraße; Betroffenheitsfahrt zum ca. 20 km außerhalb gelegenen Kurtenhof ("Salaspils"), Mea-culpa-Gebet im "Okkupations-Museum" in der Schützengasse... Obwohl Dikigoros reichlich Zeit für Rīga eingeplant hat, verzichtet er auf die ersten beiden Orte. Der erste spiegelt kein echtes jüdisches Leben wider, sondern ein künstliches, an dem er kein Interesse hat. (Das alte Judenviertel lag südlich des Hauptbahnhofs - was soll da jetzt ein Haus im ehemaligen Theater in der Schulstraße?) Über den zweiten Ort hat er seine eigene Meinung: Der "Kurtenhof" wird zu einem zweiten Auschwitz aufgebauscht, in dem mittlerweile mehr Juden umgekommen sein sollen als seinerzeit im ganzen Baltikum lebten. Aber er hat keine Lust, mit deutschen Touristen über Opferzahlen zu diskutieren, und ebenso wenig über die Täterfrage, und mit den Einheimischen schon gar nicht, die dürften nämlich bei der letzteren ganz besonders schlecht abschneiden, wenn die Wahrheit auf den Tisch käme. Die deutschen Nazis boten ihnen doch allenfalls die Gelegenheit, die sie dann mit großer Begeisterung wahr nahmen (schon kurz nach dem Einrücken der Wehrmacht in Rīga, im Juli 1941 - also ein halbes Jahr vor der "Wannsee-Konferenz", auf der die Deutschen den "Holocaust" beschlossen - nutzten die Letten ihre neu gewonnene Freiheit, indem sie die ersten 150 Juden in ihrer Synagoge einschlossen und dort verbrannten), ebenso wie die Polen, Ukraïner, Weißrussen und Litauer das taten... Was schaut sich Dikigoros statt dessen an? Nun, zum Beispiel das "Okkupations-Museum".
"Freiheitsdenkmal" - früher auf Peter den Großen, heute....
Die russische Vergangenheit wird systematisch ausgelöscht - so systematisch wie die deutsche und die jüdische?
Es scheint so, denn daß und wo genau in Rīga eine Wera Muchina geboren wurde, ist heute ebenso unbekannt wie
die Namen
Werner Bergengruen,
Heinz Erhardt und Wolfgang Lüth (aber die kennt ja auch in Deutschland kaum noch jemand). Den Namen
Richard Wagner
mag man zwar schon mal gehört haben, aber wann und wo er hier wirkte...? (Na ja, in Deutschland wahrscheinlich dto.)
Und wer weiß noch, wie die orthodoxe Kirche auf der Brīvības iela richtig heißt? In alten Reiseführern stand "Aleksandr-Newskij-Kathedrale", in den neueren steht jetzt "Christi-Geburt-Kathedrale"; aber die Esten nennen sie verächtlich "Planetarium", wie die Sowjets, die sie als solches ge- oder mißbraucht hatten - wie man es denn sehen will. Mit dem ehemals deutschen Dom ist das natürlich etwas anderes, denn der zieht Touristen an, die Valuta ins Land bringen, und für atheïstische Touristen hat man gleich ein historisches Stadtmuseum drin untergebracht und davor - oder dahinter - ein Denkmal von Johann Gottfried Herder aufgestellt (einem anderen Denkmal nachempfunden, das irgendwo in der Ex-DDR herum stehen soll), falls den noch jemand kennt. Ihr nicht, liebe Leser? Solltet Ihr aber, auch wenn Ihr
Herzliche Grüße aus Italien
nicht gelesen habt (wo er ja nur eine kleine Nebenrolle spielt). Herder war ein guter deutscher Patriot, wie die meisten Romantiker, von Beruf Theologe, aber von Berufung Historiker, Landeskundler, Sprachforscher und Liedersammler. Er trug zusammen, was er für das kulturelle Erbe seines Volkes - und anderer Völker - hielt, oder auch für unser gemeinsames europäisches (?) Erbe. Und wen immer die Letten, Litauer und Esten heute als Schöpfer, Bewahrer oder Wiederentdecker ihrer Sprachen und Kulturen halten mögen - eine "Koidula", einen Barons oder sonstwen -: Am Anfang war Herder (und danach kam erstmal August v. Kotzebue - aber den kennt ja erst recht niemand mehr - und dann eine ganze Weile gar nichts), auch wenn man das heute vielfach nicht mehr wahr haben will. Er mag vieles falsch gesehen haben - Dikigoros wäre der letzte, der das nicht wüßte -, aber heute, rund zwei Jahrhunderte später, ist es leicht, klüger zu sein als ein Pionier, der mit seiner Forscherarbeit quasi bei null anfangen mußte. Dikigoros will auf etwas anderes hinaus, nämlich die Tatsache (oder, wie die Ossis sagen, das Fakt), daß die deutschen Patrioten (oder nennt sie "Nationalisten" oder sonstwie) in der Regel auch anderen Nationen ihren Patriotismus zugebilligt haben und zubilligen. Wie Dikigoros meint, ist das eine ist mit dem anderen untrennbar verbunden; aber wie die Geschichte lehrt, steht er mit dieser seiner naïven Meinung international gesehen ziemlich allein auf weiter Flur. Diese Bereitschaft, auch die anderen (wörtlich genommen, d.h. die, die anders sind als man selber) als gleichwertig anzuerkennen und ihnen ihren Patriotismus, Nationalismus usw. zuzubilligen, unterscheidet die deutschen Patrioten, Nationalisten usw. von allen anderen auf der Welt, die stets nur sich selber für das auserwählte Volk halten, und in deren Augen der Patriotismus und Nationalismus anderer Völker - besonders des deutschen - ein todeswürdiges Verbrechen ist. Mag sein, daß die Deutschen sich mit dieser ihrer Einstellung - an der die Welt nicht genesen ist - ihr eigenes Grab geschaufelt haben; gleichwohl kann man Herder & Co. nicht die Schuld an der Ausrottung des Deutschtums im Baltikum anhängen, denn er hat sicher auch den anderen Völkern einen toleranten, weltoffenen Patriotismus bringen wollen, nicht die häßliche Fratze des Chauvinismus, den die Französische Revolution von 1789, jenes Menschheitsverbrechen schlechthin, die Mutter aller Übel (mit Ausnahme des Islām :-) ausgebrütet und der sich seither über die ganze Welt verbreitet hat. (Nein, "égalité [Gleichheit]", stand entgegen einem weit verbreiteten Irrtum nicht auf den Fahnen jener Revolution - Frauen, Negersklaven und überhaupt alles, was nicht französisch und männlich war, blieb ausgeschlossen; die Parole lautete vielmehr: "unité [Einheit (im Sinne von Gleich-Schaltung, d.h. Abschaffung aller regionalen "Sonderrechte" auf eigene Sprache und Kultur, z.B. in der Bretagne, im Baskenland, in Flandern, in Elsaß-Lothringen oder im Midi)], liberté [Freiheit (wessen wovon wozu?)], fraternité [Brüderlichkeit (also ohne die Schwestern! :-)] et probité [Anständigkeit - das hat man vorsichtshalber ersatzlos gestrichen, es widersprach in nur allzu peinlicher Offenkundigkeit den Realitäten]"; erst anläßlich der Revolution von 1848 wurde das gewissermaßen rückwirkend in "liberté, égalité et fraternité" umgefälscht - unter Androhung der Todesstrafe für alle, die das etwa anders sehen wollten!
Die französiche Turnerbewegung - ja, die gab es nicht nur in Deutschland unter dem "Turnvater" Jahn! - versuchte dem später erfolglos das Motto "Patrie, Courage, Moralité [Vaterland, Mut, Moral]" entgegen zu setzen, und noch später versuchte es jemand mit "Travail, famille, patrie" - ebenso erfolglos, denn wer will schon noch "Arbeit, Familie und Vaterland" haben? -; aber das ist
eine andere Geschichte.)
Hat Dikigoros da eben "unterscheidet" im Präsens geschrieben? Er korrigiert sich: "unterschied" muß das richtig heißen, denn die heutige Bereitschaft der Deutschen, den Nationalismus der anderen hinzunehmen - übrigens nur den der anderen, nicht auch den eigenen - resultiert nicht aus der Erkenntnis, daß die anderen anders sind und sie gleichwohl in dieser ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren - "separate but equal" hieß das früher, bevor diese Wendung geächtet wurde -, sondern in der Blödheit, alle und alles für gleich zu halten, was gar nicht gleich ist - dann ist es natürlich leicht, es auch für gleichwertig zu halten!
(...)
Historisches Museum
(...)
(Fortsetzungen folgen)
weiter zu Die neuen Inseln der Seligen
zurück zu Sonnenblumen und Schwarzer Ginster
heim zu Reisen durch die Vergangenheit