IN VOLLEN ZÜGEN GENIEßEN
REISEN MIT DER BAHN . . .
und wohin sie führen können
Die Weltgeschichte ist wie ein Reisebüro:
Es gibt Auskunft über Züge und Anschlüsse;
die Fahrkarte mit dem Ziel lösen die Reisenden.

[Transandenbahn] [Delagoabaaibahn] [Transsib] [Bagdadbahn]
von Antofagasta nach Oruro - - - - von Pretoria zur Delagoabaai - - - - von Moskau nach Port Arthur - - - - von Istanbul nach Bagdad
[Djiboutibahn] [Murmanbahn] [Benguelabahn]
von Djibouti nach Addis Abeba - - von Murmansk nach Leningrad - - - - - - von Lobito nach Kolwezi

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE

Als Dikigoros klein war, las er... nein, natürlich noch nicht "Caesar läßt grüßen" von Joachim Fernau (aus dem das Zitat in den Zeilen 4-6 der Überschrift stammt) - das war noch nicht geschrieben -, sondern eines der vielen damals so beliebten Comic-Strip-Hefte aus Belgien. Einen Dialog daraus hat er nie vergessen. Fragt ein Amateur-Detektiv den anderen, als er das etwas rätselhafte Telegramm eines gesuchten Ganoven an den anderen abgefangen hat: "Treffen 11.59. Warum nicht 12.00 Uhr?" Und er schließt messerscharf: "Dann kommt als Treffpunkt nur der Bahnhof in Frage." - "Ja, aber welcher?" Ein Blick auf den Fahrplan: "Am Ostbahnhof kommt um 11.59 Uhr kein Zug an, wohl aber am Westbahnhof, also muß es dort sein." Und er liegt richtig, wiewohl Dikigoros bezweifelt, daß die Züge in Belgien - oder sonst irgendwo auf der Welt - immer auf die Minute pünktlich ankommen. Aber keine Angst, liebe Leser; Dikigoros wird Euch hier nicht mit seinen gesammelten Erlebnissen verspäteter Bahnfahrten langweilen (das würde den Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Webspaces glatt sprengen :-). Er wird Euch auch nicht mit aufgewärmten Reiseprospekten kommen über die vermeintlich schönsten Bahnstrecken der Welt, obwohl er an anderer Stelle über eine derselben - die Fahrt durch den Kupfer-Kanyon in Mexiko - schreibt und obwohl er da durchaus seine persönlichen Favoriten hat, nämlich die Strecken durch die Halbinsel Malakka, durch La Mancha und durch Goa. (Bezeichnender Weise fehlen sie allesamt in dieser hübschen Aufstellung eines typischen Fernseh-Bahnreise-Freaks.) Aber Dikigoros findet, daß das wichtigste an einer Bahnfahrt nicht die Landschaften sind, die man passiert (und seien sie auch noch so schön anzusehen), als vielmehr die Menschen, mit denen man auf solchen Bahnfahrten zusammen trifft (und das geht halt nicht vom Fernseh-Sessel aus :-); weiter findet er, daß es eine Art bahnspezifischer Reisekultur gibt, die von Land zu Land und von Volk zu Volk unterschiedlich ist - aber über all das hat er in anderen Kapiteln seiner "Reisen durch die Vergangenheit" ausführlich geschrieben.

Nur über das Bahnfahren in Deutschland nicht, dem er deshalb hier einen etwas längeren Exkurs widmen will. (Wer sich dafür nicht interessiert mag die nächsten vier Absätze überspringen; sie tragen nichts zum Fortgang dieser Reise bei, und einige Leser könnten sie womöglich für "Nestbeschmutzung" halten.) Es gibt wahrscheinlich kein Land der Welt, in dem Bahnreisen so unerquicklich sind. Woran mag das liegen? Nirgendwo sonst sind die Bahnhöfe so luxuriös, nirgendwo die Waggons so modern, und zumindest für Vielfahrer mit Bahncard oder Netzkarte ist Reisen mit der Bahn nicht einmal teurer als in anderen Industrie-Ländern, geschweige denn als Reisen mit dem Auto oder mit dem Flugzeug. (Nebenbei ist es noch weniger anstrengend als ersteres und weniger gefährlich als letzteres.) Dennoch beginnt eine Bahnreise in Deutschland meist schon auf dem Bahnsteig mit griesgrämigen, mißmutigen Leuten, die finsteren Blickes vor sich hin starren - nein, nicht mal in Richtung Zug, wo er denn bleibt; diese schlechte Laune hat nichts zu tun mit verspätet oder nicht. Habt Ihr dagegen mal das Volksfest erlebt, daß z.B. an indischen Bahnhöfen herrscht, wenn ein Zug abfährt oder ankommt? Nur böse Zungen würden behaupten, das läge allein daran, daß Bahn fahren dort so gefährlich sei, daß man vor und nach jeder längeren Fahrt Massengebete zu den Göttern veranstalten müsse, damit sie nicht verunfallen. Nein, alle freuen sich, daß die Abfahrenden etwas von der Welt zu sehen bekommen [das Wort "Darshan" - das Dikigoros an indischen Hotel-Rezeptionen stets als "Zweck der Reise" anzugeben pflegt - hat im Hindī geradezu religiöse Bedeutung, es beinhaltet so ziemlich alles vom persönlichen Anschauen eines Gottes bis zum Anschauen eines bis dato unbekannten Landstrichs; vielleicht war es ursprünglich auf Pilgerfahrten zu weit entfernten Heiligtümern gemünzt], und sei es nur von der etwas weiter entfernten indischen Welt, außerhalb ihres Heimatortes; und ebenso freuen sich alle, wenn die Reisenden zurück kommen und ihnen etwas über ihre neuen Anschauungen berichten können, denn nur, wer die Welt angeschaut hat, kann sich eine richtige Weltanschauung bilden - oder wer von Reisenden, die die Welt angeschaut haben, zuverlässige Berichte erhält. [Auch das indische Wort für Bericht, Bhārata, hat etwas Heiliges an sich - Ihr habt sicher alle schon mal vom "Mahābhārata", dem "großen Bericht" gehört, dem National-Epos der Inder, das zugleich ihre heilige Schrift enthält, die Bhagwadgītā. Wenn nicht - darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.] Wann hat Euch zuletzt jemand etwas über seine Bahnfahrten in Deutschland berichtet - womöglich noch etwas Positives?

Beim Einsteigen - neben dem Aussteigen der einzigen Gelegenheit, bei der sich die Fahrgäste näher kommen - kommt es dann oft zu einem [un]ziemlichen Gewühle und Gedrängele, Ellbogen vorweg, denn man könnte ja die besten Plätze verpassen. Die besten Plätze, das sind nicht etwa die, auf denen man sich mit den interessantesten Mitreisenden unterhalten könnte (das sind, liebe rechte Leser, meist Ausländer, auch wenn Euch das nicht paßt), sondern die am Fenster, damit man hinaus blicken kann, ohne zwischen sich und der vorbei huschenden Landschaft die störenden Visagen anderer Menschen zu sehen. Am besten ist es natürlich, ein eigenes, sonst leeres Abteil für sich zu ergattern. Ein ursprünglich leerer Waggon am Ausgangsort füllt sich immer nach dem gleichen Muster: Der erste geht ins erste Abteil, der zweite ins zweite, der dritte ins dritte, usw., bis alle jeweils einen Passagier "Besatzung" haben. Dann kommt der zweite Platz im ersten Abteil dran, der zweite im zweiten, der zweite im dritten, usw. Wenn sich die Abteils einmal bis zur Hälfte gefüllt haben - bis zu diesem Zeitpunkt hat jeder noch einen leeren Sitz als "Schutzzone" zwischen sich und seinen Abteil-Nachbarn -, wird es für die Nachzügler schon unangenehm: Selbst wenn man höflich fragt, bekommt man entweder zu hören: "besetzt", oder aber man wird mit feindseligem Gesicht gemustert und keiner Antwort gewürdigt. Dikigoros hat es in Deutschland aufgegeben, in solchen Fällen zu fragen; er erwidert dann die feindseligen Blicke mit ebensolchen, setzt sich einfach hin, und wenn jemand was sagt, von wegen "besetzt" oder so, fragt er ihn nach seiner Platzkarte für den Nachbarsitz, und wenn er keine hat, fährt er ihm übers Maul - manchmal haben sich daraus schon interessante juristische Diskussionen entwickelt.

Aber selbst wenn nur ein oder zwei Personen im Abteil sitzen, ist es schwierig, zu ihnen Kontakt zu finden - jedenfalls wenn es Deutsche sind (die meisten Ausländer freuen sich, wenn sie jemand anspricht, womöglich noch in ihrer Sprache). Ein typischer Dialog hört sich dann etwa so an: "Guten Morgen!" - "Hmmm..." (Was wagt der Kerl, einen wildfremden Menschen einfach so anzusprechen, und sei es nur mit einem Gruß? Haus- und Straßennachbarn grüßen sich doch in Deutschland für gewöhnlich auch nicht mehr, jedenfalls nicht in der Großstadt. Das fällt einem freilich erst auf, wenn man längere Zeit im Ausland gelebt hat.) "Der Zug war ja heute ausnahmsweise mal pünktlich." Keine Antwort. "Ich fahre nach ... Kennen Sie sich da zufällig ein wenig aus?" Unwirsches Kopfschütteln. Gleiche Frage an den Schaffner, der herein kommt, um die Fahrkarten abzustempeln. "Nee, ich bin nicht von da." Stumm wie die Fische verbringen die meisten Deutschen ihre Bahnfahrten, und dann ist es wirklich verlorene Zeit. Nein, Dikigoros meint durchaus nicht Leute, die unterwegs ein Buch lesen und nicht gestört werden wollen - im Gegenteil, mit denen kommt man noch am ehesten ins Gespräch, jedenfalls wenn man das Buch auch selber gelesen hat, denn dann hat man schon einen Aufhänger. Meist packt Dikigoros selber ein Buch aus, auch wenn er es gar nicht lesen will, in der Hoffnung, daß ihn vielleicht ein Mitreisender darauf anspricht - aber die meisten Leuten trauen sich einfach nicht. Manchmal, in der Nähe von Flughäfen, hat sich bei einigen Bahnfahrern noch ein kleiner Rest von Aufgeschlossenheit und Gesprächigkeit nicht ganz verflüchtigt. Dann kann man sie wenigstens fragen, wo sie her kommen und wie es denn gewesen ist, seit man selber zuletzt dort war. Aber auch das wird immer schwieriger, denn je mehr die Leute in Herden, pardon Horden in rein deutschsprachigen Gebieten und Hotelanlagen urlauben, bleiben sie von möglichen Verhaltensänderungen unberührt. Dikigoros erinnert sich an eine Reise in die Türkei. Seine Frau und er saßen im Flughafenbus (ja ja, seine erste Reise in die Türkei hatte er noch alleine über Land mit der Bahn gemacht - aber Frauen stellen halt andere Ansprüche :-) neben einem Millionär, der gerade aus einem abgelegenen, exklusiven (auf Deutsch: ausgeschlossenen, abgeschottenen) Fünfsterne-Hotel zugestiegen war, zu dem der Bus extra einen Abstecher machte. (Offenbar gab es da keine Exclusiv-Taxis, und wer will schon im Sammel-Dolmuş fahren?) "Wo waren Sie denn überall?" fragten sie den Herrn. "Keine Ahnung," sagte der, "ich bin nur zwei Wochen zum Ausspannen her gekommen. Aber wenn ich das nächste Mal in die Türkei reise, dann will ich mir die Ruinen von Side, Perge und Aspendos ansehen, die sollen ja so interessant sein." Frau Dikigoros wies stumm auf das Ortsschild, an dem sie gerade vorbei fuhren: "Selimiye". Und kurz darauf passierten sie auch Belkis und Aksu. (Für Nicht-Türkei-Kenner... ach was, schaut gefälligst selber in den Atlas!) Aber dem Herrn sagte das nichts, und warum sollte man ihn mit der Nase darauf stoßen, daß er zwei Wochen lang nur drei Kilometer von Side entfernt im Hotel gehockt hatte, ohne je dort gewesen zu sein? In seinem Hotel hatte er offenbar mit niemandem gesprochen, jedenfalls mit niemandem, der es ihm hätte sagen können...

Aber in deutschen Zügen spricht man nicht nur nicht miteinander (schon gar nicht mit Fremden, aber auch nicht mit Bekannten, denn dadurch könnten sich die fremden Mitreisenden ja gestört fühlen), man ißt und trinkt auch nichts, geschweige denn miteinander - außer natürlich in den Speisewagen, jenen Kabuffs, die sich in Mitteleuropa durch enge Tische und Stühle, verqualmte oder zugige Luft, langsamen Service, schlechtes Essen und horrende Preise auszeichnen. Nicht auszudenken, wenn man wie in Indien seinen Proviant auspacken und munter drauf los futtern (wie es bis vor einer Generation noch die Gastarbeiter in den Zügen gen Süden taten) und gar den lieben Mitreisenden etwas anbieten würde. Auch das ist z.B. in Asien und Lateinamerika völlig anders - an jedem Bahnhof werden einem lokale Spezialitäten zum Fenster herein angeboten, man lernt ein Land ganz anders kennen, als wenn es auf der ganzen Fahrt nur den Einheitsfraß von "Mitropa" gibt. Aber im "zivilisierten" Westen wollen wir halt nicht, daß es nach einer Reise auf dem Fußboden des Abteils vor lauter weggeworfenen Abfällen, Resten und Verpackungen aussieht wie auf einem Schlachtfeld; denn Schlachtfelder glauben wir anderswo suchen zu müssen - und damit kommen wir endlich zum Thema. Es handelt nicht von der Geschichte der Eisenbahnen (darüber sind schon genug kluge Bücher geschrieben worden von Leuten, die das viel besser können als Dikigoros) sondern von Eisenbahnen, genauer gesagt von Eisenbahnlinien, die Geschichte gemacht haben, genauer gesagt Kriegsgeschichte, denn die Geschichte des Krieges ist die Geschichte des Reisens schlechthin. Wahrscheinlich habt Ihr als Kinder des 20. Jahrhunderts ganz bestimmte Vorstellungen von den Zielen, derentwegen Kriege geführt wurden und werden, von allerlei Bodenschätzen wie Gold und Silber, Diamanten und Erdöl, bis zu irgendwelchen nebulösen Ideen, Idealen und politischen Ismen wie Freiheit, Gleichheit und Demokratismus. Vergeßt es. Seit Menschengedenken sind Kriege nicht um Geld, Gut und Gedanken, sondern um die Wege geführt worden, auf denen man diese transportieren konnte. Der nächste Weltkrieg wird ein "Cyberkrieg" sein, wie das so [un]schön auf Germenglish genannt wird, d.h. einer im und um das Internet, wo heuer weltweit die meisten Gedanken transportiert werden; aber es ist noch nicht ganz so weit, weshalb wir uns einstweilen mit den Kriegen der Vergangenheit beschäftigen müssen: In der Steinzeit brauchte man Steine, und in der Eisenzeit Eisenerz; aber beides war wertlos, wenn man es nicht dorthin bringen konnte, wo es gebraucht wurde, denn die Menschen lebten nun mal nicht in den Steinbrüchen bzw. in den Fördergruben. Ja, am liebsten hätte man mit letzteren gar nichts zu tun gehabt, die Drecksarbeit sollten gerne andere machen - wenn man nur den Rahm abschöpfen konnte; und das wiederum konnte man nur, wenn man die "idealen" Reisewege beherrschte - das waren die einzigen Ideale, für die es sich zu kämpfen (und notfalls zu sterben) lohnte.

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Im Laufe seiner Geschichte hat der Mensch einiges unternommen, um solche Wege zu gehen und zu umgehen, z.B. indem er Paß-Straßen über Gebirge legte oder gar Landengen durchstach, um Meere durch Kanäle zu verbinden. Aber irgendwann genügte ihm das alles nicht mehr, und er begann, Schienen auf die Erde zu legen, um darauf schneller vorwärts zu kommen. Die Eisenbahnlinien, die Dikigoros Euch hier vorstellen will, haben zu einigen der wichtigsten "Kriegsreisen" der letzten beiden Jahrhunderte geführt, und sie tun es, wie wir am Ende sehen werden, noch immer. Diese Kapitel der Reisegeschichte sind freilich weitgehend unbekannt geblieben, obwohl die Fakten an sich eigentlich immer bekannt waren. Aber unsere Schreibtisch-Historiker (von denen viele noch nie mit der Bahn gereist sind) waren - bisher jedenfalls - zu blind, um die Zusammenhänge zu sehen. Sie sind ja keine Hellseher, obwohl die meisten von ihnen an eine Art "Vorsehung" zu glauben scheinen - jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck, wenn man liest, was sie sich insbesondere über die beiden großen Reisen des 20. Jahrhunderts und ihren Ausgang zusammen geschmiert haben. ['Adler' - der erste Locomotif in Deutschland - verkehrte zwischen Nürnberg und Fürth] Ob manche Völker zum Bahnfahren prädestiniert sind oder eher für die Schlachtfelder, darüber kann man trefflich streiten. Den Deutschen z.B. sagt man letzteres nach - ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahin gestellt. (Obwohl ihre Liebe zu den Walküren natürlich schon dafür spricht :-) Das Bahnfahren haben sie jedenfalls nicht erfunden. Als Ende 1835 zum ersten Mal in Deutschland, pardon in Bayern, pardon in Franken, eine Locomotive (oder, wie man damals noch sagte, ein Locomotif - "Adler" hieß er und war ebenso aus England importiert wie der Locomotif-Führer, der ein um 25% höheres Gehalt bezog als der nicht-importierte Direktor der Eisenbahn-Gesellschaft :-) von Nürnberg nach Fürth schnaufte, da entlockte das den Zuschauern - die weitaus zahlreicher waren als die Mitfahrwilligen - nur ein müdes Lächeln; denn erstens konnte man die gerade mal 20.730 Fuß [ca. 6 km] der "Ludwigsbahn" (benannt nach König Ludwig I von Bayern) auch per pedes zurück legen, und zweitens fuhr jede Pferdekutsche schneller (theoretisch wäre eine Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h möglich gewesen; aber die Obrigkeit hatte sie auf 20 km/h festgesetzt, aus Gründen der Sicherheit :-) und billiger (9 Kreuzer kostete die 2. Klasse - 10 Kreuzer entsprachen etwa 3 preußischen Silbergroschen, ca. 3 Teuro nach heutiger Kaufschwäche, pardon Kaufkraft) als der flügellahme "Adler". [Ja, da waren die Bayern - wie beim Sport - Pioniere in Deutschland; die Sachsen sollten erst zwei und die Preußen sogar erst drei Jahre später nach-ziehen. (Dafür sollten die Sachsen vier Jahre später die erste kontinantal-europäische Locomotive bauen, sie "Saxonia" nennen und damit die Geschlechtsumwandlung der Züge voll-ziehen :-).]

Damals gab es in England schon seit 22 Jahren Eisenbahnen und ein Schienennetz von 450 Meilen (ca. 720 km); seit fünf Jahren verkehrten regelmäßig Züge zwischen den beiden nach London wichtigsten Städten Groß-Britanniens: [Puffing Billy, 1813] Liverpool, dem Hafen an der Mersey, wo die Baumwolle aus Ägypten und Carolina spottbillig importiert wurde, und Manchester, der Hauptstadt Lancashires, wo sie für einen Hungerlohn zu Kleidungsstücken verarbeitet wurde, die, wieder von Liverpool aus, für teures Geld in alle Welt exportiert wurde - so kam man zu "Mehrwert" und Wohlstand. Und bald konnten die Untertanen ihrer Majestät der Königin Victoria - die zwei Jahre später für 64 Jahre den Thron besteigen, aber persönlich zeitlebens die Pferdekutsche vorziehen sollte - fast die ganzen britischen Inseln mit der Bahn bereisen, und morgen die ganze Welt, pardon das ganze Empire (aber das war ja fast das gleiche :-), oder jedenfalls große Teile davon. Aber was hat nun das eine mit dem anderen zu tun? Gewiß, die Urform des Reisens ist der Krieg (oder umgekehrt - darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr), und Eisenbahnen als Transportmittel für Mensch und Material können auch Soldaten, Waffen und Munition befördern; und wenn Ihr in Eure Geschichts- und Märchenbücher schaut, liebe Leser, werdet Ihr dort sicher irgendwelche klugen Ausführungen finden darüber, daß die Eisenbahnen z.B. im amerikanischen Sezessionskrieg 1861-65 eine wichtige Rolle spielten, oder auch im preußisch-, pardon deutsch-französischen Krieg 1870-71. Mag ja sein; aber die Nordstaaten hätten den ersteren und die Preußen den letzteren auch ohne Eisenbahnen gewonnen, und Kriegsursache waren die Eisenbahnen auch nicht. [Man könnte allenfalls fragen, ob der Eisenbahnbau in Nordamerika nicht der eigentliche Grund für die "Indianerkriege" war, und ob da nicht die Herren Dodge und Train - von dessen Name übrigens das englische (und französische :-) Wort für Zug kommt - viel wichtiger waren als etwa die Herren Custer und Cody. Aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle etwas mehr - wirklich nur etwas. Wenn Ihr mehr wissen wollt, schaut ins Lexikon - wenn Ihr denn eines findet, in dem Dodge und Train noch verzeichnet stehen. Wie dem auch sei, heute verkehren die Eisenbahnen in den USA nur noch als nostalgische Touristen-Attraktionen zu Mondpreisen - als Personen-Transportmittel hätten sie keine Chance gegen die Autobahnen und die Luftverkehrswege, nicht einmal nach dem 11. September 2001.] Aber damit genug der Vorrede.

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Als Dikigoros, noch ein junger Student, durch Südamerika reiste, machte er sich keine großen Gedanken, welche Bedeutung die Eisenbahn für dessen Geschichte hatte. Woher auch? In den Geschichtsbüchern stand (und steht) davon praktisch nichts, und erzählen tat es einem auch niemand - auch nicht die Chilenen oder die Bolivianer. Antofagasta hat er als ein ziemlich trauriges Wüstenkaff in Erinnerung, und Arica als einen Grenzort, an dem der Schmuggel blühte - der Peruaner, denn deren linke Militär-Regierung hatte trotz Unsummen ausländischer "Entwicklungshilfe" dermaßen abgewirtschaftet, daß die Bevölkerung praktisch alles aus dem Nachbarland Chile importieren mußte, wo es damals, unter General Pinochet, noch bergauf ging. Bahnlinien? Er hatte noch die Nase voll von den Bahnfahrten von Lima nach Huancayo und von Cuzco nach Machu Picchu, und von den weg gespülten Gleisen zwischen Oruro und Santa Cruz de la Sierra und von dort nach Mato Grosso... Seitdem bevorzugte er in Lateinamerika als Transportmittel den Bus, der ihn auch nach La Paz brachte, der Hauptstadt Boliviens, deren offizieller Name vollständig "La Paz de Ayacucho [Der Friede von A.]" lautet, nach jenem Dreckskaff, pardon nach jenem idyllischen Universitäts-Städtchen in den Anden, wo anno 1824 die Unabhängigkeit Perús vom spanischen Mutterland erkämpft wurde (Bolivien spaltete sich ein Jahr später von Perú ab - warum, hat Dikigoros bis heute nicht begriffen), und wo die Terror-Organisation "Sendero luminoso [Leuchtender Pfad]" - die gerade im Entstehen begriffen war - ihre Hochburg hatte. Was ihm in La Paz allerdings auffiel, war der unglaubliche Haß der Paceños (und der Bolivianer allgemein) auf den Nachbarn Chile. Warum? Da war vor knapp 100 Jahren mal ein Krieg gewesen, und überall hingen Plakate, daß man die damals verlorenen Gebiete unbedingt zurück holen müsse, mit all den schönen Bodenschätzen, Städten und Häfen... Darüber konnte Dikigoros nur schmunzeln: Die Chilenen waren die stärkste Militärmacht auf dem Kontinent, mit einem deutschen Offizierskorps und amerikanischen Waffen (bis auf die Stahlhelme - die waren auch noch deutsch :-); sie hätten die zerlumpten, undisziplinierten Bolivianer (in beiden Ländern war das Militär auf den Straßen stark präsent, man konnte sich also durchaus einen persönlichen Eindruck verschaffen) in null komma nichts platt gemacht. Kein Grund, sich einen Kopf zu machen (zumal es diese Redewendung in Deutschland damals noch gar nicht gab - die sollten erst die Ossis anno 1990 einführen :-).

Wahrscheinlich habt Ihr, liebe Leser, in Euren Geschichts- und Märchenbüchern über Ursachen, Verlauf und Folgen des "Salpeter-Krieges" zwischen Chile, Bolivien und Peru nichts gelesen, und wenn doch, dann nur blühenden Unsinn. Schon der deutsche Name ist falsch (die Lateinamerikaner - die es doch eigentlich wissen müssen - nennen ihn "Pazifik-Krieg"); und wie sagten die alten Römer: "Nomen atque omen" [nicht: "nomen et omen", und schon gar nicht "nomen est omen", wie es ständig falsch zitiert wird]. Die Deutschen - und andere Ausländer - scheinen tatsächlich zu glauben, daß jener Krieg um Vogelscheiße (von den peruanischen Indios "Guano" genannt) und Salpeter geführt wurde. Gewiß, von beidem gab es in der Atacama-Wüste jede Menge, und in Europa hatte man gerade entdeckt, daß man mit dem darin enthaltenen Stickstoff prima die Felder düngen (und so ganz nebenbei auch noch prima Munition herstellen) [Landkarte der Atacama-Wüste in den Grenzen von 1866] konnte - aber in Südamerika war lange Zeit niemand besonders scharf darauf, staatliche Hoheitsrechte über die Atacama auszuüben. Wozu auch? Erst anno 1866, als Spanien ein paar Inselchen vor der Küste besetzt hatte, die besonders reich an Vogelscheiße waren, und Peru, Bolivien und Chile sich gegen das einstige Mutterland verbündeten, einigten sie sich bei der Gelegenheit auch gleich über die Aufteilung der Atacama, wobei Bolivien den Löwenanteil - und vor allem einen breiten Zugang zum Meer - bekam, und Chiles Privatwirtschaft die Ausbeutungsrechte an Guano und Salpeter. Auf letztere war Bolivien gar nicht angewiesen, denn es war reich an ungleich wertvolleren Bodenschätzen, vor allem Zinn, ja es war das an Bodenschätzen reichste Land Südamerikas (und eines der reichsten der Welt). Allerdings war die Bevölkerung zu dumm oder zu faul (oder beides :-), um etwas daraus zu machen. Also überließ man es chilenischen Gesellschaften (an denen auch ein paar Peruaner finanziell beteiligt waren), die Vogelscheiße zusammen zu kratzen, den Salpeter aus den Felsen zu sprengen, das ganze zum Meer zu karren und über den Hafen von Antofagasta nach Europa zu verkloppen. Das war nun freilich ein mühseliges Geschäft, und die geschäftstüchtigen Chilenen kamen bald auf die Idee, eine gerade im fernen Groß-Britannien (zu dem Chile seit seiner "Befreiung" durch den britischen Abenteurer Bernard O'Higgins beste Beziehungen hatte) gemachte Erfindung auszunutzen.

Darf Dikigoros etwas weiter ausholen und noch einmal ein paar Jahrzehnte zurück gehen, gewissermaßen Anlauf nehmen zum ersten großen Sprung vorwärts? Was er Euch oben berichtet hat von den ersten Eisenbahnen in England und Deutschland hatte aus gutem Grund keine größeren Auswirkungen auf den Gang der Geschichte: Was da über das Moorland zwischen Liverpool und Manchester verlief, war eine echte Eisen-Bahnlinie, auf der die Züge mit nur 4 (vier!) km/h Durchschnitts-Geschwindigkeit verkehrten; und was die Deutschen sich da zusammen bauten würde man heute bestenfalls als "Straßenbahnen" bezeichnen. Die geringe Geschwindigkeit hatte einen guten Grund, der nicht nur in den Dampfkesseln begründet lag (die wie gesagt fast das Doppelte hätten leisten können), sondern auch und vor allem - in den Schienen. Aus herkömmlichem Eisen gefertigt, waren sie klimaanfällig, rosteten bald und wurden brüchig; da konnte man nicht mit Volldampf drüber weg brettern. Gewiß, es gab schon eine Art Stahl - er wurde seit Alters her mühsam in Indien gefertigt -; aber der war viel zu kostbar, um ihn einfach durch die Wüste zu legen (er wäre wohl auch bald gestohlen worden), denn die Tonne kostete damals umgerechnet 1,5 Mio Teuro! Auch das "Puddeln", das die Engländer Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt hatten, war noch eine ziemlich mühsame und kostspielige Angelegenheit. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte ein gewisser Bessemer ein besseres Verfahren zur Stahlerzeugung - anno 1860 begann die Massen-Produktion mit seiner "Bessemer-Birne". Na ja, "Massen-Produktion" ist vielleicht etwas übertrieben, denn mit seiner Methode konnte man nur besonders hochwertige, fosfat-arme Eisenerze zu Stahl veredeln, und die gab es außer in England praktisch nirgends in größeren Mengen. (Ein wenig in Spanien, ein wenig in der West-Ukraine - doch das waren nun nicht gerade Industrie-Standorte.) Aber 1878 kamen ein junger Engländer namens Sydney Gilchrist-Thomas (er sollte nur 35 Jahre alt werden) und ein nicht mehr ganz so junger Franzose namens Émile Martin (er sollte über 100 Jahre alt werden), unabhängig voneinander auf die Idee einer verbesserten "Birne". Der letztere baute sie um zu dem, was wir heute "Hochofen" nennen; und mit beiden Methoden (die erstere kennt Ihr, liebe deutsche Leser, vielleicht unter dem Namen "Siemens-Martin") konnte man aus praktisch jedem Eisenerz etwas machen. Die Preise für Stahl purzelten in den Keller, und die Eisenbahnbauer erkannten ihre Chance, auch in Südamerika: Endlich konnte man preiswert Schienen von hoher Lebensdauer herstellen, die auch etwas aushielten! Eine der chilenischen Gesellschaften in der Atacama-Wüste begann - selbstverständlich erst, nachdem sie sich eine ordnungsgemäße Lizenz der bolivianischen Regierung besorgt hatte, damit hier keine Mißverständnisse aufkommen -, eine Bahnlinie zu bauen von Antofagasta ins Landesinnere, die über Oruro bis nach La Paz führen sollte. Damit wäre eine grandiose Transportmöglichkeit auch für all die Bodenschätze im Landesinneren Boliviens geschaffen worden - da würde nicht nur eine Geldquelle zu sprudeln beginnen, sondern gleich mehrere!

Die Bolivianer sahen es mit scheelem Blick: Ähnlich wie heute die arabischen Öl-Scheichs hatten sie zwar überhaupt keine Verwendung für "ihre" Bodenschätze - und erst recht weder die Lust noch die Fähigkeit, sie selber zu fördern -, aber am Gewinn wären sie schon gerne beteiligt worden. Also verfügten sie eine 10%ige "Sonderabgabe" auf alle Güter, die mit dieser Eisenbahn befördert wurden. Das verstieß eindeutig gegen die Abmachungen von 1866 (die erst 1874 erneuert worden waren, mit der ausdrücklichen Verpflichtung, die nächsten 25 Jahre auf die Einführung neuer Steuern zu verzichten), und die chilenischen Gesellschaften - allen voran die "Salitres y Ferrocarril de Antofagasta S.A. [Salpeter und Eisenbahn von Antofagasta A.G.]" - weigerten sich zu zahlen. Daraufhin wurden sie 1879 von bolivianischen Strolchen in Uniform, pardon Soldaten, besetzt und enteignet. Die Chilenen riefen um Hilfe. Wo? In Chile? Das hatte damals ein Heer von 3.000 (dreitausend!) Mann, von denen die meisten im Süden standen, als Besatzungstruppe bei den "Araucanes" (aber das ist eine andere Geschichte). Nun gut, 700 Mann konnte man entbehren. Sie landeten in Antofagasta, warfen die Bolivianer aus der Atacama-Wüste hinaus und... handelten sich prompt eine Kriegserklärung von Perú ein, das auch noch seine Schäfchen ins Trockene bringen wollte. Viereinhalb Jahre später saßen freilich die peruanischen Schäfchen (die man dort Llamas, Alpacas oder Vicuñas nennt, und die eigentlich nicht mit den europäischen Schafen, sondern mit den afrikanischen Kamelen verwandt sind - aber Woll- und Fleisch-Liferanten sind sie auch) nicht nur auf dem Trockenen, sondern die Chilenen hatten ihnen auch noch kräftig das Fell über die Ohren gezogen, waren in Callao gelandet, hatten Lima eingenommen und einen Frieden erzwungen, der ihnen die ganze Atacama einbrachte. (Gekostet hatte er sie 3.000 Tote - das Heer war im Laufe der Jahre mit 22.000 Mann Ersatz aufgefüllt worden - und ein Kriegsschiff, das von den Peruanern in der Seeschlacht von Iquique versenkt worden war, die diesen bisher letzten militärischen Erfolg ihrer Geschichte bis heute jedes Jahr groß feiern.)

Dieser Krieg ist - jedenfalls aus chilenischer Sicht - eine der wenigen echten Heldentaten in der lateinamerikanischen Geschichte, was sich freilich nie bis nach Europa herum gesprochen hat, vor allem nicht die Art und Weise, wie die Chilenen - die auf der ganzen Linie gesiegt hatten und in Ancón und Valparaíso Friedensverträge hätten diktieren können, wie sie die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles und anderen Pariser Vororten diktieren sollten - ihn beendeten: Weit davon entfernt, ihren Gegnern eine "Kriegsschuld" anzuhängen (es war ohnehin jedem - außer den Peruanern und den Bolivianern - klar, wer den Krieg verschuldet hatte) oder Milliarden schwere Reparations-Zahlungen aufzubrummen, verpflichteten sich die Chilenen vielmehr, in der Atacama nach zehn Jahren eigener Verwaltung eine Volksabstimmung durchzuführen über den weiteren Verbleib, und falls diese zu ihren Gunsten ausginge, den Bolivianern zum Ausgleich eine weitere Eisenbahn zu bauen - nämlich von La Paz nach Arica -, auf der sie ihre Waren auf dem kürzesten Weg über den (jetzt zu Chile gehörenden) Pazifik-Hafen ausführen konnten. (Könnt Ihr Euch vorstellen, liebe ältere Leser, daß die Polen den Deutschen 1919 oder 1939 etwas ähnliches in Westpreußen angeboten hätten? Dikigoros auch nicht.) Wie die Volksabstimmung ausging, kann sich jeder, der mal auf einer chilenischen und einer peruanischen Verwaltungsbehörde war, leicht ausrechnen. Dennoch erkannten die wenig vertragstreuen Peruaner den Ausgang erst elf Jahre später an. Die Chilenen dagegen hielten ihr Wort und bauten die Bahnlinie von Arica nach La Paz - aber die Bolivianer sind trotzdem nie auf einen grünen Zweig gekommen, was folglich nicht an den Chilenen im allgemeinen und nicht am Pazifik-Krieg im besonderen gelegen haben kann. Chile aber wurde in den nächsten Jahrzehnten mit der "Trans-Anden-Bahn" nach Antofagasta und dem Export von Guano und Salpeter reich. (Erst 1914 sollten die Deutschen das Haber-Bosch-Verfahren zur Stickstoff-Gewinnung aus Luft entwickeln und Guano und Salpeter damit allmählich vom Weltmarkt verdrängen. Chile kompensierte das durch den Abbau seiner Kupferminen und bewahrte sich einen bescheidenen Wohlstand - Bolivien dagegen verharrte trotz seiner wertvollen Zinnminen in Armut, aber das ist eine andere Geschichte.)

[Trans-Anden-Bahn]

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Als Dikigoros, noch ein junger Student, durch Südafrika reiste, machte er sich keine großen Gedanken, welche Bedeutung die Eisenbahn für dessen Geschichte hatte. Woher auch? In den Geschichtsbüchern stand (und steht) davon praktisch nichts, und erzählen tat es einem auch niemand - weder die Briten noch die "Afrikaaners". (Bitte nennt sie nicht "Boeren" oder "Buren", liebe Leser; das betrachteten nämlich schon die Nicht-Bauern im 19. Jahrhundert als Schimpfwort - sie wollten "Burgers" [Bürger] genannt werden :-) Die schwelgten vielmehr in Erinnerungen an ihren "großen Treck", mit dem die "Voortrekker" während der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts aus ihrer angestammten Heimat, der Kap-Kolonie (die sich die Engländer während der napoleonischen Kriege unter den Nagel gerissen hatten), nach Norden zogen - auf staubigen Pisten, mit Ochsenkarren. Jenseits des Flusses Oranje gründeten sie den Oranje-Freistaat, und noch etwas weiter nördlich, jenseits des Vaal (eines Nebenflusses des Oranje) ein paar Kleckerstaaten, die sich später zur Republik Transvaal zusammen schlossen. Irgendwann wurden bei Kimberly im Oranje-Freistaat Diamanten gefunden, weshalb die Briten es überfielen und ihrer Kolonie Betschuanaland (dem heutigen Botswana) zuschlugen; und irgendwann wurde bei Witwatersrand (zwischen Johannesburg und Pretoria - danach heißen die südafrikanischen Goldmünzen bis heute "Rand", so wie die alten europäischen Silbermünzen nach Joachimsthal, dem Fundort des Metalls, "Thaler" hießen - aber das ist eine andere Geschichte) Gold gefunden, weshalb die Briten auch Transvaal überfielen, erst zurück geschlagen wurden, aber dann den Burenkrieg anfingen, nach dessen Ende anno 1901 sie ganz Südafrika zu ihrer Kolonie machten (für nur 60 Jahre - aber das wußten sie damals natürlich noch nicht). So ungefähr steht es auch in den Geschichtsbüchern, in denen Ihr vielleicht noch den Namen Cecil Rhodes finden werdet, der das auf britischer Seite gedeichselt hatte (nach ihm war übrigens Rhodesien benannt, das heute nach den Ruinen von Zimbabwe heißt); und wenn Ihr gar in einen historischen Atlas schaut, dann findet Ihr dort zwar all die Gebiete und Gebietchen mitsamt ihren Bodenschätzen eingezeichnet - vielleicht sogar die, welche die Afrikaaner und Briten irgendwelchen Negerstämmen abgenommen hatten, die vor oder nach ihnen ins Land gekommen waren. Aber das, worum in damals wirklich ging, werdet Ihr nicht finden - außer Ihr sucht bei Dikigoros:

Wahrscheinlich habt Ihr, lieber Leser, auch falls Ihr Norddeutsche sein solltet, die es eigentlich anginge, in Euren Geschichts- und Märchenbüchern über Ursachen, Inhalt und Folgen des deutsch-englischen Vertrages vom 1. Juli 1890 nichts gelesen, und wenn doch, dann nur blühenden Unsinn. Zum Beispiel, daß es da nur um den Tausch des früher von Dänemark, inzwischen aber von England besetzten Inselchens Helgoland vor der Küste Frieslands gegen die früher von einem muslimischen Sultan besetzte, aber inzwischen vom Deutschen Reich "geschützte" Insel Sansibar vor der Ostküste Tanganjikas gegangen sei. Vielleicht auch noch, daß dieser angeblich so genannte "Helgoland-Sansibar-Vertrag" (wie er wirklich hieß und was drin stand könnt Ihr hier nachlesen) damals nicht besonders populär war; denn Helgoland war nur ein wertloser Felsen, während es auf Sansibar leckere Gewürze gab und Negersklaven zuhauf - nein, pardon, die Sklaverei hatten die Briten ja offiziell abgeschafft. (Dennoch blieb Sansibar der Hauptumschlagplatz der muslimischen Sklavenhändler an der Ostküste Afrikas - und Leute, die mit der Lage dort besser vertraut sind als Dikigoros, behaupten, daß er das heute noch sei.) Aber das glaubt Ihr doch selber nicht, liebe Leser, daß die Briten das strategisch wichtige Helgoland vor der Elbmündung aufgegeben hätten nur für das blöde Sansibar? Nein, heute längst vergessene Afrikareisende wie Carl Peters, Brenner und die Gebrüder Denhardt hatten nicht nur die Gebiete um den Victoria-See, die Bismarck 1884 zum "Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika" erklärte, nämlich das heutige Tanzania, das heutige Ruanda und das heutige Burundi (das ist dort, wo sich seit der glorreichen "Befreiung vom Kolonialjoch", die Hutsi und die Tutsi die Freiheit nehmen, einander kräftig auf die Mutzi zu hauen :-) für das Reich in Beschlag nehmen wollen, sondern auch die Gebiete um den Rudolf-See, d.h. Uganda, außerdem Kawurondo, Ukamba und Wituland (also den Süden des heutigen Kenya); und auf die letzteren verzichtete das Reich nun für das Linsengericht Helgoland. Na und? War das schlimm? Immerhin behielten die Deutschen doch die Serengeti-Steppe mit ihren Löwen, die Wembere-Steppe und last not least die Massai-Steppe am Fuße des Kilimandjaro, wo man Usambara-Veilchen pflücken konnte! Was hatten die Engländer mehr? Nun, sie hatten die Trasse für eine Eisenbahn vom Victoria-See über Nairobi nach Mombasa bekommen - mit deren Bau sie noch im selben Jahr begannen, wie auch mit dem der Bahnlinie von Salisbury, der Hauptstadt Rhodesiens, nach Beira. ("Beira" bedeutet schlicht Rand, Ufer, Küste - die Portugiesen waren bei der Benennung des zweitwichtigsten Hafens ihrer Kolonie Mosambique ebenso einfallslos wie die Franzosen bei der Benennung des wichtigsten Hafens ihrer baskischen Kolonie, den sie "Bordeaux [Wasserrand]" nannten :-) Die erstere verband das Mittelmeer über den Nil (unabhängig vom Suez-Kanal!) mit dem Indischen Ozean; die letztere verband - ja, was verband die eigentlich? Gute Frage, liebe Leser, und die Antwort lautet: noch gar nichts!

Damit das nicht so blieb, bauten die Briten eine Eisenbahnlinie von Kimberley nach Bulawajo, das wiederum mit Salisbury verbunden wurde - und jetzt wißt Ihr auch, daß bei der Annexion des ersteren die Diamanten nur zweitrangig waren. Die reichsten Diamantenminen dort gehörten ohnehin Cecil Rhodes als Privatmann - und dem war es völlig schnuppe, auf wessen Staatsgebiet die lagen, solange er damit zu einem der reichsten Männer der Welt wurde. Nein, es ging darum, die aufmüpfigen Burenstaaten einzukesseln, sie vom Meer abzuschneiden und ihnen die Transportwege zu nehmen. Dies geschah im Westen durch die Annexion Betschuanalandes und den Bau der Kimberley-Bahn, im Osten durch die Annexion aller Negergebiete an der Küste des indischen Ozeans bis zur Grenze der portugiesischen Kolonie Mosambique. Um den Verlauf jener Grenze hatte es Jahrzehnte lang Streit gegeben zwischen Großbritannien und Portugal. Schließlich setzten sich die Portugiesen durch (mit Hilfe des französischen Präsidenten, der einen Schiedsspruch zu ihren Gunsten fällte), und sie bekamen die so genannte Delagoa-Bucht (die im 18. Jahrhundert einmal niederländisch gewesen war) mit Lourenço Marques, dem wichtigsten Hafen zwischen Daressalam und Kapstadt. [Die Torf-, pardon Mohrenköpfe, die das Land heute "regieren", nennen die Stadt "Maputo", wohl in Unkenntnis der Tatsache, daß die Iberer den schräg gegenüber in die Delagoa-Bucht mündenden Fluß nicht einfach so "Ma puta" genannt hatten, sondern daß das auch eine - wenig schmeichelhafte - Bedeutung hatte. (Dieser wird die Stadt allerdings bis heute gerecht, da im prüden Südafrika Hurenhäuser noch immer verboten sind, und die Wochenendausflügler gerne mal über die Grenze fahren :-)] Damit waren der Oranje-Freistaat und Transvaal völlig von den Briten abhängig, die sie deshalb getrost anerkennen konnten. Ja, aber die Goldfunde, der Jameson-Raid und... Halt, liebe Leser, schaut Euch doch einmal die Geschichtszahlen an! (Man hört heutzutage zwar oft, daß die unwichtig seien, aber manchmal hilft ein Blick auf sie doch, Zusammenhänge zu erkennen :-) Anfang 1886 wurde in Witwatersrand Gold gefunden; und "daraufhin" beschlossen die Briten (oder Rhodes, der inzwischen Premierminister der Kapkolonie war, oder wer auch immer - die Theorien reichen vom Kolonialminister Chamberlain über den Unterhaus-Führer Balfour bis zum Regierungschef Salisbury), Transvaal zu annektieren und schickten Mr., pardon Dr. Jameson los (der Colonel in der britischen Armee war - formell beurlaubt, aber nur so, wie etwa die Angehörigen der Legion Condor 40 Jahre später von der Reichswehr). "Daraufhin"? Pardon, liebe Leser, das war im Dezember 1895, fast zehn Jahre nach den sagenhaften Goldfunden! Selbst wenn man in Betracht zieht, daß Jameson bereits im August 1895 beurlaubt wurde, im September 1895 in Südafrika eintraf und im Oktober 1895 mit der Zusammenstellung einer Miliz begann, ist das wohl etwas zu lang, um einen direkten Kausalzusammenhang herzustellen, oder? Also mußte es wohl einen anderen Grund geben - aber welchen?

[Karte der südafrikanischen Bahnlinien. Rechts oben 
Lourenço Marques an der Delagoabai]

Nun, liebe Leser, das war so: Die Engländer hatten wie gesagt alles daran gesetzt, die Buren-Republiken vom Meer abzuschneiden, und das war ihnen weitestgehend gelungen. Sie hatten auch schon mit den Portugiesen einen Vertrag, daß sie die Eisenbahn von Lourenço Marques an der Delagoa-Bucht bis nach Betschuanaland bauen durften. Aber dann wollten diese dickschädeligen Buren nicht mit machen und vergaben den Auftrag für die Bahnlinie bis zur Grenze von Mosambique an die deutsche Konkurrenz! Das war nun wirklich ein Staatsverbrechen aller ersten Ranges! Die Engländer taten, was sie konnten, um den Bau der Linie zu sabotieren; aber es half alles nichts: Im Juli 1895 nahm die "Delagoabaaibahn", wie die Afrikaaner sie nannten, den Verkehr auf. Half da wirklich nichts? Man konnte es ja wenigstens mal versuchen: Die englische Regierung schickte also Colonel Jameson ans Kap; aber dessen Handstreich mißlang. Das war ärgerlich; und zu allem Überfluß schickte der böse Kaiser Wilhelm auch noch ein Glückwunsch-Telegramm an den Präsidenten von Transvaal, Paulus Krüger (den die Afrikaaner nur "Oom" - Opa) nannten, über das sich die Engländer furchtbar aufregten. (Es ist als "Krüger-Depesche" in Eure Geschichts- und Märchenbücher eingegangen.) Dabei wurden die darin mit keinem Wort erwähnt, sondern nur irgendwelche obskure "bewaffnete Scharen von außen", und der Glückwunsch richtete sich auch nicht etwa auf den militärischen Sieg, sondern auf die Wiederherstellung des Friedens - pfui! Tatsächlich waren die Engländer noch über ein ganz anderes Telegramm aus dem selben Jahr sauer. In einem modernen englischen Geschichtsbuch von 1991 steht es kurz und bündig: "Im Juli 1895 wurde die Eisenbahnverbindung zwischen Pretoria und dem Indischen Ozean eröffnet. Wilhelm II telegrafierte seine Glückwünsche, und drei deutsche Kreuzer ankerten in der Delagoa-Bucht. [Pfui!] Sir Edward Malet, der britische Botschafter in Berlin, im Begriff, in den Ruhestand zu treten, nutzte die Gelegenheit seines Abschiedsbesuchs bei Marschall von Bieberstein [dem damaligen Außenminister, Anm. Dikigoros], um vor der Gefahr weiterer Ermutigung burischer Bestrebungen zu warnen." Das ist etwas schwammig formuliert; tatsächlich warnte Malet, daß eine weitere Unterstützung der Buren durch das Reich für Großbritannien ein casus belli sei. Kaiser Wilhelm soll äußerst befremdet gewesen sein, daß die Limeys ausgerechnet ihm, dem Enkel ihrer Königin und ihrem einzigen echten Freund, "wegen ein paar Negern und Palmbäumen" den Krieg erklären wollten.

Wie dem auch sei, die Engländer dementierten offiziell, irgend etwas mit diesem komischen Dr. Jameson zu tun zu haben. Pro forma stellten sie ihn sogar vor Gericht und verurteilten ihn zu einer langjährigen Gefängnisstrafe. (Er wurde freilich noch im selben Jahr von Queen Victoria begnadigt und sollte später Präsident der Kap-Provinz werden.) Sein Gegenspieler, der Burenpräsident Paulus Krüger, war ein alter, dummer Mann von altmodischen Grundsätzen. Er glaubte allen Ernstes, sein kleines Volk, das gerade mal 200.000 Köpfe zählte, könnte sich dauerhaft seine Unabhängigkeit von den mächtigen Briten bewahren. Deshalb setzte er sich zur Wehr, als die Briten 1899 unter Bruch der alten Verträge erneut versuchten, auch Transvaal zu annektieren - diesmal ganz offiziell, ohne Dementi wie noch beim Jameson-Raid. Und Krüger glaubte, daß ihm ausgerechnet die Deutschen zu Hilfe kommen würden. Da kannte er die aber schlecht: Die Deutschen haben immer wieder ein besonderes Geschick an den Tag gelegt, sich die falschen Verbündeten auszusuchen, diejenigen die ihre Hilfe wert gewesen wären, im Stich zu lassen, und sich dann zu wundern, wenn sie ihrerseits von ihren falschen Verbündeten im Stich gelassen wurden. Ein paar Deutsche in den Straßen demonstrierten für die Burenrepublik; ein paar Politiker hielten schöne Reden zum Fenster hinaus; aber die Reichsleitung (so hieß die Regierung damals) rührte keinen Finger. Schließlich hatte man erst im Vorjahr ein Abkommen mit den Engländern über die Aufteilung der portugiesischen Kolonien geschlossen; und dabei war Lourenço Marques mitsamt der Delagoabaaibahn in die britische Interessensfäre gefallen. (Was die doofen deutschen Politiker nicht ahnten war, daß die Engländer fast unmittelbar darauf hinter ihrem Rücken den Portugiesen im Vertrag von Windsor den Bestand ihres Kolonialreichs garantiert hatten; das ganze diente ihnen also nur dazu, die Deutschen und Portugiesen gegeneinander aufzuhetzen und auszuspielen.)

Über den Verlauf des Krieges braucht Dikigoros nicht viel zu schreiben, das könnt Ihr anderswo nachlesen, z.B. hier. Aber natürlich erwarten nun vor allem seine Stammleser, daß er wenigstens ein paar Worte über die britischen Konzentrationslager verliert und womöglich die Frage aufwirft, ob es die ersten waren, ob sie vergleichbar waren, ob... Na, sei's denn - aber Ihr werdet wahrscheinlich enttäuscht sein. Gewisse Deutsche glauben, die Konzentrationslager des Dritten Reiches durch den Hinweis relativieren zu können, daß es so etwas bei anderen Völkern ja auch - und schon viel früher - gegeben habe. (Eine Logik, die Dikigoros nicht so recht nachzuvollziehen vermag - Relativieren ist kein Entschuldigen und kein Rechtfertigen.) Gemeinhin verweisen sie auf die britischen Konzentrationslager im Burenkrieg. Die Briten wiederum verweisen auf die Konzentrationslager, welche die Amerikaner ein Jahr zuvor auf den Filipinen eingerichtet hatten; die Amerikaner wiederum verweisen auf die Konzentrationslager, welche die Spanier kurz davor auf Kuba eingerichtet hatten. Da wird so mancherlei in einen Topf geworfen, was nicht zusammen gehört: Die Lager in Kuba waren Strafanstalten, in denen die Spanier Terroristen einsperrten - so wie die USA es noch ein gutes Jahrhundert später tun sollten (in die selben Lager, in Guantánamo). Die Lager auf den Filipinen waren Kriegsgefangenenlager, in denen die Amerikaner filipinische Widerstandskämpfer einsperrten, die sich gegen die Eroberung zur Wehr setzten - aber das waren immerhin Kombattanten. Die Lager in Südafrika waren Pferche, in denen die Engländer insgesamt 161.000 Nicht-Kombattanten (also praktisch alle burischen Frauen und Kinder und einige "Bastarde") einsperrten. Ihr Tod durch Hunger und Seuchen wurde nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern er war, wie wir aus der Korrespondenz der Verantwortlichen auf britischer Seite wissen, ausdrücklich erwünscht. Dennoch überlebten rund 70% der Insassen (das ist, zumal für die damalige Zeit, eine relativ hohe Quote; die Buren waren zäh). Die Lager im Dritten Reich waren unterschiedlicher Natur: Die echten, ursprünglichen Konzentrationslager auf deutschem Boden waren Schutzhaftanstalten (wobei man "Schutzhaft" ebenso wenig mit "Schutz" assoziieren darf wie heute - "Schutzhaft" bedeutete und bedeutet Einsperren von jemandem, dem [noch] kein Prozeß gemacht worden ist); die Überlebensrate lag dort bei fast 100%. Die Lager im General-Gouvernement Polen waren Vernichtungslager; und Dikigoros will hier keine Diskussion entfachen, wie diese Vernichtung vor sich ging, ob durch Überarbeitung, Krankheit, Vergasen oder sonstwas. Er sieht auch - im Gegensatz zu der jungen Jüdin, die er auf einer seiner Reisen in Südafrika getroffen hat - keine Parallele zum Burenkrieg; denn wenngleich ein paar größenwahnsinnige jüdische Funktionäre dem Reich 1939 demonstrativ den Krieg erklärten (was sie völkerrechtlich gar nicht konnten), herrschte eben kein Kriegszustand zwischen Deutschen und Juden. Nein, das sind zwei Paar Schuh'.

Aber Dikigoros will auf etwas anderes hinaus: Das Einsperren der burischen Frauen und Kinder in Konzentrationslager war Teil der "Verbrannte-Erde"-Politik der Engländer, die den Oranje-Freistaat und Transvaal systematisch zerstörten, um das Burenvolk seiner Existenzgrundlage zu berauben: Alle Farmen und Felder wurden verbrannt, das Vieh erschlagen; sie wüteten wie die Türken im 16. Jahrhundert in Ungarn, wie die Schweden und Franzosen im 17. Jahrhundert in Deutschland, wie die Engländer im 17. und 18. Jahrhundert in Irland und Schottland und... wie die Nordamerikaner im 19. Jahrhundert in den "rebellischen" Südstaaten. Der Unterschied war nur, daß sich die Yankees (ebenso wenig wie die zuvor genannten) nicht auch noch die Mühe machten, Frauen und Kinder ihrer Feinde in Konzentrationslager zu sperren: Sie vernichteten einfach deren Lebensgrundlagen und ließen sie dann verhungern - so lauteten auch die offiziellen Anweisungen der Regierung in Washington an ihre Generäle. Meint Ihr wirklich, daß es da noch darauf ankommt, wer nun die "Konzentrationslager" erfunden hat? Aber wenn es Euch denn gar keine Ruhe läßt: Über die Lager im amerikanischen Sezessionskrieg schreibt Dikigoros hier, über die Lager auf Kuba hier, über die Lager des Dritten Reiches hier, und über die amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Deutschland nach 1945 - in denen mehr Insassen umkamen als in allen zuvor genannten zusammen - hier. (Und wenn er irgendwann mal dazu kommt, seine Aufsätze über Solzhenitsyn und Bao Ruo Wang fertig zu schreiben, werdet Ihr dort auch etwas über die russischen und chinesischen Lager lesen können.)

Wahrscheinlich habt Ihr, liebe Leser aller Altersklassen, in Euren Geschichts- und Märchenbüchern noch nie etwas von Klein-Wolfsburg gelesen, schon gar nicht in seiner portugiesischen Original-Bezeichnung "Lobito". Aber die Geografen und Metereologen unter Euch werden vielleicht schon mal vom Benguela-Strom gehört haben; der verläuft an der Südwestküste Afrikas, und nach ihm ist auch eine alte Hafenstadt benannt, nämlich Benguela. Und Lobito ist, nachdem dieser Hafen mehr oder weniger versandet ist, dessen neue Hafenstadt. Wozu aber hat man dort einen neuen Hafen erbaut, da doch schon der alte Hafen seit dem Ende des Sklavenhandels nicht mehr richtig ausgelastet war (sonst hätte man ihn ja nicht versanden lassen)? Nun, andere Nationen sahen ja auch, wie es einem ergehen konnte, wenn man sich auf englische Häfen und Eisenbahnlinien verließ - und wer wollte schon gerne seine Frauen und Kinder im Konzentrationslager verrecken sehen? Also kamen die bösen, undankbaren Belgier und Portugiesen auf die Idee, die Bodenschätze des Kongo (die hauptsächlich in dessen Süd-Provinz Katanga lagen) statt über British-Rhodesien an die Ostküste über eine eigene, neu zu bauende Eisenbahn an die Westküste Afrikas zu transportieren, von der Minenstadt Kolwezi (deren Namen die meisten von Euch noch nie gehört haben werden; aber jedem französischen und/oder belgischen Fallschirmjäger und/oder Fremdenlegionär, der die Kämpfe in den 60er Jahren überlebt hat, ist er noch heute in guter - oder vielmehr schlechter - Erinnerung) bis nach Benguela - von dort gab es schon eine Verbindung zum Hafen von Lobito. 1903 war die "Benguelabahn" fertig und nahm ihren Betrieb auf, d.h. die wertvollen Rohstoffe rollten an den Engländern vorbei; und selbst der Personenverkehr aus der damals noch "Elizabethville" genannten Provinz-Hauptstadt (bis zu der man die Bahngleise verlängerte) nahm bald diesen Weg. Die Briten sahen es mit scheelem Blick: Wofür hatten sie die Bahnlinie über Salisbury nach Beira gebaut? Etwa, damit die Belgier ihr Zeug jetzt an die Westküste karrten und von dort nach Europa verschifften (was nur halb so weit war wie von Beira aus)? Höchstvorsorglich hatten sich die Engländer ausweislich ihres Teilungsvertrags mit den Deutschen auch Benguela und Lobito vorbehalten - aber natürlich damit sie selber dort eine Bahnlinie bauten, nicht die anderen... Im Sommer 1914 war es fast so weit, daß England den Teilungsplan aus der Tasche gezogen hätte... Aber halt, wir wollen nicht vorgreifen; denn inzwischen waren auch noch andere Eisenbahnlinien gebaut worden, von denen Euch Dikigoros zuerst berichten muß.

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Wahrscheinlich habt Ihr, liebe Leser aller Altersklassen, in Euren Geschichts- und Märchenbüchern über Ursachen, Verlauf und Folgen des russisch-japanischen Krieges von 1904-1905 wenig oder gar nichts gelesen, und wenn doch, dann nur blühenden Unsinn. Um was ging es da doch gleich? Ach so, ja, um ein Holzbergwerk, das die Russen widerrechtlich südlich des Jalu - also innerhalb der japanischen "Einflußsfäre" in Korea - errichtet hatten. Oder vielleicht auch um ganz Korea oder um die Mandschurei, welche die bösen Japaner den armen Chinesen entreißen wollten, was die edlen Russen zu verhindern suchten? Nein, liebe Leser, es ging um viel mehr, nämlich um ganz Sibirien, das zwar formell schon zu Rußland gehörte, aber... Sicher habt Ihr mal irgendwo gelesen, daß Sibirien im 16. und 17. Jahrhundert von der Familie Stroganow (nach deren damaligen Angehörigen das gleichnamige Rinder-Geschnetzelte übrigens nicht benannt ist, ebenso wenig der gleichnamige Salat, den Dikigoros als kaltes Leipziger Allerlei mit Majonnaise bezeichnen würde; das erfand vielmehr erst einer ihrer Nachfahren im 19. Jahrhundert :-) und ihren Kosaken für den Zaren von Rußland "erobert" wurde. Aber das stimmt nicht: Stroganows Kosaken hatten Sibirien eigentlich eher bereist als erobert. Gewiß, sie hatten ein paar hölzerne Palisadenforts als bewaffnete Handelsposten und Verwaltungssitze angelegt (und seitdem erhoben die Russen Anspruch auf seinen Besitz; Papier - auch das von Landkarten - ist geduldig), aber von einer vernünftigen Nutzung seiner ungeheuren Ressourcen konnte - von der Pelztierjagd mal abgesehen - noch lange nicht die Rede sein, dafür fehlte es einfach an Menschen. Wer ging schon freiwillig ins eisige Sibirien, um sich dort den Arsch abzufrieren? Eben, niemand, also deportierte man im Laufe der Jahrhunderte rund 4 Millionen Sträflinge dorthin. Die meisten von ihnen kehrten nie zurück (und das lag nicht etwa daran, daß es ihnen dort so gut gefallen hätte :-) - wie auch? Es gab ja, außer sibirjakischen Wolfshundschlitten und Schusters Rappen, kein Transportmittel!


Erläuterung: "Dalian" ist die Halbinsel, an deren Südspitze einst die russische Festung "Port Arthur" lag. Die Chinesen
(die kein "r" aussprechen können) nennen sie "Ta Li-en", die Japaner (die kein "l" aussprechen können) "Dariën".

Das sollte sich ändern, als der Zar beschloß, eine Eisenbahnlinie von Moskau quer durch Sibirien bis an den Pazifik bauen zu lassen. 1891 begannen die Arbeiten an der "Transsibirischen Eisenbahn" auf der heute so genannten "alten Trasse", d.h. über Tscheljabinsk, Omsk, Nowosibirsk, Irkutsk und Tschita bis nach... ja wohin sollte es von dort denn eigentlich weiter gehen? Jedenfalls zu einem großen Hafen. Doppelt genäht hält besser, dachten die Russen, also beschlossen sie, gleich zwei Trassen zu bauen: Die erste (auf der Karte oben in rot eingezeichnet) führte nordöstlich nach Chabarowsk und von dort scharf südlich nach Wladiwostok - das allerdings am Japanischen Meer lag und deshalb eine Mausefalle war, die die Japaner leicht zuschnappen lassen konnten. (Außerdem war es im Winter nicht eisfrei; in kalten Jahren war der Hafen 3-4 Monate zugefroren!) Die zweite (auf der Karte oben in pink eingezeichnet) führte südöstlich quer durch die Mandschurei (die freilich auch noch keinen großen Wert hatte, bevor die Japaner in den 1930er und 1940er Jahren jede Menge Industrie hinein pumpten) bis nach Charbin, bog dann ebenfalls scharf nach Süden ab und endete in Port Arthur. Das lag zwar fast doppelt so weit weg von Charbin wie Wladiwostok, nämlich an der Südspitze der Halbinsel Dalian alias Dariën, war aber eisfrei und auch sonst prächtig gelegen, zwischen dem Golf von Tschili (heute nach der wichtigsten seiner Buchten ungenau "Bohai-See" genannt) und der Korea-Bai, beherrschte also die Zufahrt nach Tientsin (heute "Tianjin" geschrieben) und folglich den Zugang zu Peking (heute "Beijing" geschrieben - nur zur Orientierung auf der Karte unten).

Das wußten freilich auch die Japaner. Die führten 1895 Krieg gegen die Chinesen und nahmen ihnen Port Arthur weg. Aber die Russen zwangen sie (im Bündnis mit den Franzosen, den Amerikanern und den Deutschen, die sich dabei äußerst schäbig verhielten) es den Chinesen zurück zu geben; anschließend sicherten sie sich selber das Besatzungsrecht. Die Japaner waren (und sind) praktisch veranlagte Menschen: Sie warteten, bis die Russen anno 1904 die südliche Eisenbahntrasse durch die Mandschurei fertig gebaut hatten (dies, und nichts anderes, war der wahre Kriegsgrund!), dann schlugen sie zu. Über den Verlauf und die Folgen jenes Krieges schreibt Dikigoros an anderer Stelle. Halten wir hier nur fest, daß die Russen die nördliche Trasse nach Wladiwostok zuende bauten; sie besteht bis heute, und mutige Reisende können sie - deren Ende lange Zeit militärisches Sperrgebiet war - inzwischen in ganzer Länge befahren.

[Transsibirische Eisenbahn]

Nachtrag. Eigentlich hätte Dikigoros eben statt "nördliche" Trasse "mittlere" Trasse schreiben müssen, denn er meinte ja die, die auf der Karte oben rot eingezeichnet ist; und die nördliche Trasse ist die grüne, die mit dem Schlagwort "BAM" (für "Baikal-Amur-Magistrale") bezeichnet wird. Als Dikigoros diese Seite anno 2000 ins Web setzte, hätte er nicht gedacht, daß die jemals fertig würde; aber inzwischen ist es so weit, also muß er auch darüber kurz ein paar Worte verlieren - leider keine besonders erfreulichen. Im Tsarenreich nie über das Planungs-Stadium hinaus gelangt, wurde 1937 unter Stalin mit großem Brimborium der erste Spatenstich getan; aber als der Zweite Weltkrieg ausbrach, brauchte man sowohl die Insassen der sibirischen Gefangenenlager - die man als Arbeitsklavenkräfte vorgesehen hatte - als auch die Schienen zu anderen Zwecken, und das Projekt wurde wieder eingemottet. 1974 wurde es unter Brezhnjew erneut in Angriff genommen, aus Gründen, die damals vielen einleuchtend schienen: Erstens lag die rote Linie zu nah an der Grenze zu Rotchina, mit dem man sich dauerhaft verkracht hatte, und man fürchtete, daß diese Route im Kriegsfall sehr schnell vom Feind zerstört, erobert oder jedenfalls unterbrochen werden könnte. Und zweitens gab es weiter nördlich ungeheure Mengen an Bodenschätzen (Kohle, Eisen, Kupfer, Gold usw.), die erschlossen - und vor allem abtransportiert - werden sollten. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjet-Union kam das Projekt ins Stocken, erstens aus Geldknappheit (die Kosten waren auf 5 Mio US-$/km gestiegen, und es ging hier um über 4.000 km!) und zweitens, weil einige am militärisch-strategischen Sinn des Ganzen zu zweifeln begannen in einer Zeit, da Truppen schneller und sicherer auf dem Luftweg transportiert werden können als mit der Eisenbahn. Dennoch, eines Tages wurde sie fertig, und die Russen waren stolz auf diese "technische Meisterleistung" - immerhin hatten sie (genauer gesagt 'zigtausende nordkoreanischer Kulis, denn kein Russe wäre bereit gewesen, unter den mörderischen Bedingungen dort freiwillig zu arbeiten, und es gab nicht mehr genug Arbeitssklaven - selbst die Vorarbeiter und Ingenieure mußte man aus der Ukraïne holen :-) die Strecke durch Eis und Schnee, über Berg und Tal (die Tunnel waren ein besonderes Problem) gelegt, und am Rande der Geleise auch ein paar Städte angelegt, in die anfangs wegen der Spitzenlöhne sogar einige Leute freiwillig zogen. Aber schon nach wenigen Jahren stellte sich heraus, daß das ganze eine Investitionsruine war: Kaum ein Passagier wollte ins Niemandsland fahren, wo bislang bloß ein paar Sibirjaken ihre Rentiere geweidet hatten (die sich nun empfindlich gestört fühlten); die Bodenschätze waren aus dem tief gefrorenen Boden nicht zu wirtschaftlich rentablen Bedingungen heraus zu holen (bis auf etwas Kohle, die nach Japan verschachert wurde); allmählich leerten sich die künstlich angelegten Städte, die Menschen wollten lieber heim nach Rußland. Und was die Nähe zu Rotchina anbelangt: die wäre jetzt ein Segen gewesen, denn in Rußland werden ja kaum noch Verbrauchsgüter zu erschwinglichen Preisen hergestellt (die Luxusgüter für die kleine Oberschicht - für die Geld keine Rolle spielt - werden aus dem Westen importiert); dagegen sind die chinesischen Billigprodukte, die wir im Westen als "Schrott" betrachten (aber dennoch ab und zu kaufen, sei es weil wir es nicht merken, sei es aus Geiz :-) für die Russen so begehrenswert, daß manche von ihnen regelmäßig von Moskau (und erst recht aus der noch schlechter versorgten Provinz) die weite Reise mit der "Transsib" auf sich nehmen - und zwar auf der alten, südlichen Trasse, die an der chinesischen Grenze entlang führt! -, um dort billig einzukaufen; und die Reisekosten finanzieren sie durch den Verkauf von überschüssiger Ware auf dem Schwarzmarkt. Volkswirtschaftlich ein Irrsinn; aber immer noch weniger irrsinnig als die Nordtrasse: Um deren Betrieb entgegen jeder Vernunft aufrecht zu erhalben, nimmt man jährlich einen 8-stelligen Verlustbetrag (wohlgemerkt in US-$, nicht in Rubl :-) in Kauf - und es gibt Gerüchte, wonach man die Bahngeleise (die bisher nur einspurig verlaufen) sogar noch erweitern will. Na ja, vielleicht ist das immer noch besser als mehr und mehr Geleise still zu legen, wie das in gewissen Gegenden Mitteleuropas zunehmend geschieht. Nachtrag Ende.


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